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Letzte Gedanken

I

Das Leben ist ein Vorrecht. Im Schoße der Unermeßlichkeit strebt alles danach. Aber nach dem bekannten Bibelwort sind viele berufen und nur wenige auserwählt. Denn in dem Universum der Auserwählten, auf der weiten Bühne der Welt, ist alles nur Vorrecht, ungleiche Verteilung, anscheinende Ungerechtigkeit, göttliche Gunst oder Ungunst.

Wenn man an das schreckliche Chaos denkt, aus dem unsere Sphäre ihre harmonische Gestalt gewonnen hat, wenn man auf Grund der gemeinsamen Bemühungen von Wissenschaft und Einbildungskraft dahin gelangt, sich die Unmenge der nur angedeuteten, mißgeborenen, von der Oberfläche der Erde verschwundenen Rassen vorzustellen, die offenbar keine andere Aufgabe hatten, als irgendeinen brutalen und krampfhaften Hunger der ungeheuerlichen Natur zu stillen, wenn man ferner sieht, was sich noch unter unseren Augen an Mißgestaltungen und an Frühgeburten vollzieht, all die Nationen, Familien, die enterbten und hingeopferten Menschen, die ohne Schönheit, Tugend noch Verständnis für Kultur und Fortschritt zur Welt gekommen sind, dann verwirrt sich der Geist und verzichtet darauf, die ganze Weite des Vorrechtes zu ermessen, daß man als Mensch von edler Rasse und reinem Blut genießt, wenn man in einer großen Epoche, in dem Lande und unter den Gesetzen eines großen, zivilisierten und hochkultivierten Volkes geboren wurde.

Dieses Vorrecht ward mir freigebig gespendet. Mein Leben war das glänzende Geschenk einer großherzigen Macht, und wenn ich dafür Dank sagen sollte, würde ich sicherlich viel dem unbekannten Gotte schulden, der das All und die Zeit regiert, und der alle Dinge in der ewigen Metamorphose des unendlichen Seins vereinigt und bestimmt. Was habe ich aus diesem Teilchen des Unendlichen, das mir beschieden war, gemacht? Welche Rechenschaft muß ich mir und der menschlichen Familie geben, in deren Schoß ich geboren und deren würdiges oder unwürdiges Glied ich gewesen bin? Was würde ich dem unbekannten Gotte, der meine schlummernde Seele nach sorgfältiger Auswahl aus der Finsternis emporgehoben und in die höchsten Regionen des Lebens zur vollen Klarheit des Himmels hat aufsteigen lassen, antworten, wenn er diese Frage an mich richtete?

Diese Frage muß übrigens jeder vernunftbegabte Mensch sich selber stellen, wenn er gegen Ende seines Lebens seine Stunden schneller und schneller verströmen sieht, weil sie weniger ausgefüllt sind. Sie stürzen einem verhängnisvollen Ende zu und tauchen ihn wieder in die Finsternis, aus der er kaum hervorgetreten ist.

Genügt nicht eine solche Frage an sich selbst, m Ermangelung jeden anderen Zeugnisses, um das Vorhandensein des menschlichen Gewissens zu beglaubigen und auf dem Grunde dieses Gewissens ein Ideal der Gerechtigkeit und der Freiheit, das ihm, da es auf Erden niemals Genüge findet, ein höheres Leben zu versprechen scheint?

Ich will damit nicht sagen, das sei ein Beweis, aber läßt es nicht doch sehr stark vermuten, daß wir unsterblich sind?

Wie dem auch sei, die Fähigkeit, das allen Menschen gemeinsame Bedürfnis, sich zu befragen, sich zu erforschen, sich selber nach den unparteiischen Begriffen von Gut und Böse zu richten, ist bei mir mehr als bei vielen anderen beständig und groß gewesen. Ich bin von Geburt gewissenhaft und gottesfürchtig veranlagt. Meine innere Richterstimme ist so strenge gegen sich selbst, daß ich niemals in meinem tiefsten Innern, weder in der heftigsten Leidenschaft noch unter dem Druck der grausamsten Ungerechtigkeiten, das Sittengesetz mißachtet habe.

Ich hatte immer den Hang, mehr bei mir, als außerhalb meiner selbst die Ursache meiner Leiden zu suchen. Und obwohl mein Glaube an die göttliche Gerechtigkeit durch die Vorgänge in der Natur und das Studium der Geschichte unaufhörlich erschüttert worden ist, hat er doch in meiner Seele den Sieg über den Zweifel und die Verzweiflung davongetragen

Aber wie wird diese Gerechtigkeit geübt, und auf welches Gesetz begründet sie sich, um daraus die Pflicht des Menschen herzuleiten, an ihm seinen Wert oder Unwert abzumessen und sein Denken oder seinen Lohn nach ihr zu richten?

Ein solches Gesetz ist notwendigerweise vorhanden, denn sonst würden wir die Ordnung und die Dauer alles Menschlichen nicht begreifen können. Aber so sehr sich seine Notwendigkeit auch unserem Verständnis aufzwingt, wenn wir das Absolute betrachten, ebenso entzieht es sich, wenn wir es im Bereich des Zufälligen und des Relativen suchen, unserem Griff. Obwohl der Mensch seit Jahrmillionen auf der Erde weilt und sich zu ihrem König ausruft, hat er nur eine schwache Kenntnis von seiner eigenen Natur und seinem Schicksal. Er weiß nicht, wer er ist, noch von wannen er kommt und wohin er geht. Er ist darauf angewiesen, sich von unklareren Trieben als denen der Tiere und von zufälligen Vermutungen seines Geistes zu der zweifelhaften Klarheit seiner Vernunft leiten zu lassen.

Heute streitet er mehr als je über alle die bedeutenden Dinge, die seinen Geist beschäftigen und über den Geist selber. Ist er Geist oder Stoff, Ursache oder Wirkung, Schöpfung oder Geschöpf? Vergebens hat er bis jetzt die Götter angefleht, die Natur befragt und alle Falten seines Gewissens untersucht: das Geheimnis ist überall, in ihm und um ihn. Man möchte sagen, je mehr und je kühner er mit immer größerer Wißbegier darin eindringen will, um so tiefer wird von Menschenalter zu Menschenalter der unendliche Abgrund und um so dunkler die Wahrheit.

II

Jeder Mensch bringt bei seiner Geburt, auf Grund eines undurchdringlichen Geheimnisses der Erblichkeit, ursprüngliche Neigungen mit, die durch die Umstände begünstigt oder durchkreuzt, durch die Erziehung gefördert oder gefälscht, von seinem Willen geleitet oder verlassen werden und bewußt oder unbewußt seinen Charakter bestimmen und sein Schicksal ausmachen.

Wenn das Schicksal eines Menschen, unserer Ansicht nach, seinem Charakter entspricht, finden wir es natürlich und in Übereinstimmung mit unserer vermeintlichen Kenntnis des göttlichen Gesetzes. Aber meistens offenbart sich genau das Gegenteil, und alsdann kommt das Leiden, das tiefe Leiden, das unerklärlich und unheilbar ist und das nicht von Gott zu kommen scheint.

Das war mein Leiden. Ohne Zweifel waren mir zwei leidenschaftliche Neigungen aus der Erbschaft meines germanischen Blutes angeboren: mein Geist verlangte danach, alles kennenzulernen, und mein Herz hatte den gebieterischen Wunsch, zu lieben und geliebt zu werden. Diese beiden angeborenen Leidenschaften, denen ungewöhnliche Fähigkeiten und Gaben eine vollkommene Befriedigung zu verheißen schienen, und die in einem freien Fluge meine Seele zu den heitersten Höhen des Lebens getragen haben würden, sind in einer falschen Umgebung, im Kampfe mit feindlichen Umständen, zu einer störenden Kraft geworden. Sie trübten mich und meine Umgebung. Sie haben mich außerhalb des Gesetzes gestellt und zur Auflehnung gegen die öffentliche Meinung, gegen alles getrieben, was meine Zeitgenossen und Landsleute für gewiß, notwendig und heilig erachteten. Nichts entsprach meiner Natur weniger. Sie war weich, pietätvoll, ehrfurchtsvoll und demütig. Ich kannte weder Stolz noch Starrsinn, noch Zorn oder Verwegenheit. Ich hatte den lebhaften Wunsch nach Übereinstimmung, nicht nach Konflikten mit der überkommenen Meinung. Und ich litt, was gar nicht so selten ist, wie man gemeinhin annimmt, bei aller Kühnheit, aller Beschwingtheit des Geistes und der Einbildungskraft, unter einer sehr großen Scheu. Es ist überaus schwer, sich heute vorzustellen, was die Ansichten und was die Macht der aristokratischen Gesellschaft, in der ich aufgewachsen war, bedeuteten. Sie war stolz auf ihr Alter, exklusiv und verachtete alles andere. Der alte Adel des Hofes, der aus der Emigration mit seinen Fürsten zurückgekehrt war, hatte in jedem Lande nur seinesgleichen gesehen. In der Revolution erblickte er lediglich einen Angriff auf seine unverjährbaren Rechte. Den verlorenen Vorrechten setzte er doppelte Verachtung für neue Ideen, Sitten und Personen entgegen. Er wollte sie nicht sehen. Außerhalb seiner Traditionen, seiner Gebräuche, seines katholischen und monarchischen Aberglaubens, gab es in seinen Augen nur Unwürdigkeit, Sitten- und Gottlosigkeit. Und da sich dieser Hochmut des Urteils sogar nach langjährigem Ungemach noch auf einer wirklichen Überlegenheit an Reichtum, Ansehen und Ehren stützte, da er sich mit dem ganzen Zauber vornehmer Manieren und großer Schönheit umkleidete und eine ritterliche Sprache führte, da er sich schließlich über sich selber einer vollkommenen Täuschung hingab, setzte er sich selbstherrlich durch und regierte unumschränkt.

Was vermochten die unbestimmten Triebe, die wirren Ahnungen, die Schwäche und die Unwissenheit eines jungen Mädchens gegen solche Beherrschung der öffentlichen Meinung? Ach, wenn wir unterscheiden lernen, ist es fast immer zu spät. Zu was kann uns dann noch die Erkenntnis unserer Selbst, die uns zur richtigen Zeit gerettet hätte, dienen? Um den Abstand zu messen zwischen dem, was aus uns geworden ist und dem was wir hätten sein können.

Ist nicht die unfruchtbare Tugend der besten unter uns, wenn das harte Gesetz des Lebens sich endlich unserer späten und unnützen Erfahrung zeigt: büßen, ohne sich dagegen aufzulehnen, mutig, wenn auch vergeblich, bestrebt zu sein, Nicht-Wiedergutzumachendes wiedergutzumachen?


Das sittliche Gefühl der germanischen Völker hat sich immer gegen eine so verabscheuungswürdige Entartung des Heiratsgedankens aufgelehnt. Aber bei uns fangen die Bedenken erst an zu keimen, und die Gewohnheit ist so stark, daß man Gefahr läuft, für romantisch zu gelten, wenn man eine Verbindung schlösse, die den Eheleuten besser als den Eltern gefiele.

Damit will ich nicht gesagt haben, daß man mich oder andere junge Mädchen gegen unseren Willen gezwungen hätte, verhaßte Ketten zu tragen. Die väterliche Gewalt schritt nach der Revolution nicht mehr zu solchem Frevel. Man legte Ehegelübde ebenso frei ab wie Klostergelübde. So schien es wenigstens.

Aber diese Freiheit war trügerisch, und alles verschwor sich, sie unwirksam zu machen. In der häuslichen Erziehung herrschte absolutes, systematisches Schweigen über alles was sich auf die Vereinigung der Geschlechter bezog. In der Lehre der Kirche wurde die Anziehungskraft, die Mann und Weib zueinander führt, und das Recht zu lieben, als Schwäche des Fleisches verworfen, als eine Sünde, die uns unsere Väter vererbt haben. Das Schönheitsgefühl ward als eine gefährliche Erbschaft des Heidentums verdächtigt. Die christliche Tugend begründete sich auf der Verachtung der Sinne. Sie verwechselte Sinnenfreude mit Unreinheit, setzte die Natur zu Gott in Widerspruch und verfluchte die Quellen des Lebens. In den Abhandlungen weltlicher Weisheit wurde die Liebe als vorübergehender jugendlicher Wahn hingestellt, als ein Hirngespinst der romantischen Einbildungskraft, die, kaum wahrgenommen, entflieht und nichts als eine schreckliche Leere hinterläßt.

Soviel war gar nicht nötig, um bei einem kaum zum Leben erwachten Wesen die undeutlichen Stimmen der Natur zu ersticken. Standes-Ehen wurden bei uns ohne Schwierigkeit geschlossen. Durch die Vorurteile einer sehr oberflächlichen Erziehung überreizt, kam die Eitelkeit der Frauen darin auf ihre Rechnung. Die äußerste Sittenfreiheit der großen Welt boten ihnen übrigens tausend Mittel, der Langweile des Ehelebens zu entgehen. Sie spürten kaum die Schwere des Ehejoches, und sie trugen es mit Anmut. Auch hörte man in dieser glänzenden und verfeinerten Gesellschaft nur sehr selten eine Klage. Die Gewohnheit verbesserte eben das Gesetz. In schweigender Übereinkunft ging man sich aus dem Wege. Die Galanterie trat an die Stelle der Liebe, die Vergnügungen nahmen die Stelle der Leidenschaften ein, und niemand merkte, daß das Glück fehlte.

III

Es wird zweifellos die größte moralische Schwierigkeit der neuen Gesellschaft sein, sich allmählich von den Ansichten und Gefühlen der alten loszusagen und das Ehegesetz nach dem Willen einer besser erkannten Natur und nach dem besser erleuchteten menschlichem Gewissen zu reformieren.

Ganz gewiß wird immer und zu allen Zeiten der Charakter der Ehe das bleiben, was die christliche Kirche und das heilige Sakrament daraus gemacht haben: die ausschließliche, unlösbare, womöglich einzige Vereinigung eines einzigen Mannes mit einer einzigen Frau. Es ist das höchste Ideal, das dem Wunsche der Weisen entspricht und das die vollkommenste Sittenreinheit herstellen würde. Es ist das eingeborene Bedürfnis des Menschen, die glückliche, ihm auferlegte Notwendigkeit und seine Pflicht, sich unablässig der absoluten Vollkommenheit zu nähern. Sie jemals zu erreichen, ist ein frommer Wahn. Der Gesetzgeber müßte also, wenn er das, wie wir glauben, von göttlicher Hand für die engste Auslese menschlicher Art gezeichnete Ideal annimmt, in der Einrichtung der Ehe gleichzeitig nach jener relativen Vortrefflichkeit trachten, der die geringsten Tugenden der meisten Menschen genügen. Diese sind aber nicht der Heiligkeit, sondern nur der Vernunft zugänglich, und sie stimmen ihr Glück nicht nach der Tonart heldischer Seelen, sondern regeln es nach dem Gesetze wohlanständiger Menschen.

Es würde im gegenwärtigen Augenblick vermessen sein, genau angeben zu wollen, was man möglicherweise in dieser Hinsicht tun kann, was die Sitten und die öffentliche Meinung einer von allem Aberglauben befreiten Gesellschaft auferlegen werden, einer Gesellschaft, die nicht mehr gewillt ist, außerhalb ihrer selbst und über der Menschheit, also im Mysterium, im Übernatürlichen und im Hinblick auf ein zukünftiges Leben, die Richtschnur ihres Handelns zu suchen. Man kann aber wohl ohne weiteres versichern, daß der Mensch, wenn man dem Gange seines Geistes in der Vergangenheit folgt, in der Eheeinrichtung, wie in allem anderen mehr und mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe und ein besseres Gleichgewicht zwischen seinem Recht, glücklich zu sein und der Pflicht zu leiden, fordern wird.

Wenn es heilsame Leiden gibt, welche die Tugenden in uns mehren, so gibt es andere, und unglücklicherweise sind sie in der Mehrzahl, bei denen, ohne irgend welchen Nutzen für jemanden, unsere besten körperlichen und sittlichen Kräfte abgenützt und vernichtet werden. So zum Beispiel, wenn die unauflösliche Ehe zwei unvereinbare Menschen eint, deren Sinne, Herz und Geist sich völlig fremd sind, sich beleidigen und um so mehr abstoßen, je enger sie zusammen leben müssen. Diese mit Ergebenheit oder mit Empörung getragenen Leiden sind so furchtbar, daß niemand und nicht einmal wer sie am lebhaftesten verspürt hat, die unheilvollen Wirkungen begreifen könnte.

Bei der Frau besonders, bei welcher die Vereinigung der Geschlechter auf das seelische und körperliche Befinden einen noch zu wenig erforschten Einfluß ausübt, und der sichtlich viel wichtiger bei ihr ist, als beim Manne, werden die enttäuschten Wünsche der Seele und des Körpers, der Widerwille des Fleisches und des Geistes gegen eheliche Umarmungen, die der Abneigung und der Gleichgültigkeit abgezwungene Fruchtbarkeit, tief einschneidende Erregungen verursachen.

Die Mutterschaft selber wird darunter leiden, sicher auch die Rasse, ihre Schönheit und ihr Geist. Ethiker und Physiologen werden das eines Tages anerkennen. Der Strahl der Liebe ist ebenso notwendig zur vollständigen Entfaltung des menschlichen Geistes wie Licht und Wärme für den vegetalen Keim.

siehe Bildunterschrift

Marie d’Agoult, nach einer Photographie von Adam-Salomon, 1861.
Bildquelle: de.wikipedia.org

 


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