Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dezember.

Der Händler.

1. – Donnerstag.

Mein Vater will, daß ich an jedem Ferientag einen meiner Kameraden zu uns einlade, oder daß ich einen besuche, damit ich mich nach und nach mit allen etwas befreunde. Am Sonntag werde ich mit Votini, der jederzeit so gut gekleidet ist, der sich immer putzt und der Derossi so beneidet, spazieren gehen. Heute indessen ist Garoffi, der Lange, Magere mit der Habichtsnase und den kleinen, listigen Augen, die alles durchstöbern, zu uns gekommen. Er ist der Sohn eines Spezereihändlers, ein Original. Er zählt immer die Soldi, die er in der Tasche hat, rechnet an den Fingern sehr geschwind, löst jede Multiplikation ohne pythagoräische Tafel. Er rafft alles zusammen und hat schon ein Schulsparkassenbüchlein. Es kann auch nicht anders sein, er giebt nie einen Soldo aus, und wenn ihm ein Pfennig unter die Bank fällt, so kann er eine Woche darnach suchen. Er thut es den Elstern nach, sagt Derossi. Alles was er findet, abgenutzte Federn, gebrauchte Marken, Stecknadeln, Kerzenstümpchen, alles nimmt er mit. Schon seit mehr als zwei Jahren sammelt er Marken, und er hat deren schon Hunderte aus jedem Lande in einem großen Album, welches er dem Buchhändler verkaufen will, wenn es ganz voll sein wird. Indessen giebt ihm der Buchhändler die Hefte gratis, weil er viele Knaben in seinen Laden führt. In der Schule treibt er immer Handel, da giebt's alle Tage Verkäufe, Lotterien, Tauschhandel; nachher bereut er den Tausch und will seine Sache wieder; er kauft für zwei und verkauft für vier, spielt mit Federn und verliert nie; er verkauft den Tabakhändlern alte Zeitungen und hat ein Heftchen, in das er seine Geschäfte notiert, ganz voll von Additionen und Subtraktionen. In der Schule studiert er nichts, als die Arithmetik und wenn er die Medaille wünscht, so ist es nur, um freien Eintritt ins Marionettentheater zu bekommen. Mir gefällt er, mich belustigt er. Wir haben Kaufmann gespielt, mit Gewicht und Wage: er weiß von allem den richtigen Preis, kennt die Gewichte und macht schöne Düten, behende wie die Krämer. Er sagte, daß er sofort nach Beendigung der Schulen einen Handel anfangen werde, einen neuen Handel, den er selbst erfunden hat. Er war sehr froh, als ich ihm ausländische Marken gab, und konnte mir ganz genau sagen, wie teuer jede für die Sammlung verkauft werde. – Mein Vater, der in der Zeitung zu lesen schien, hörte zu und auch ihn belustigte es. Garoffi hat immer die Taschen vollgestopft mit seinen kleinen Handelsartikeln, die er mit einem langen, schwarzen Mantel zudeckt und sieht dabei immer nachdenkend und geschäftig aus wie ein Kaufmann. Aber was ihm am meisten am Herzen liegt, ist seine Markensammlung; das ist sein Schatz, von dem er immer redet, wie wenn er daraus ein Vermögen ziehen könnte. Die Kameraden sagen, er sei ein Geizhals und Wucherer. Ich weiß es nicht. Ich habe ihn gern, durch ihn lerne ich viele Dinge kennen, er kommt mir vor wie ein Mann. Coretti, der Sohn des Holzhändlers sagt, er würde seine Markensammlung nicht hergeben, auch wenn er das Leben seiner Mutter damit retten könnte. Mein Vater glaubt es nicht. – Du mußt noch kein Urteil über ihn fällen, – sagte er zu mir; – er hat einmal diese Leidenschaft, aber er hat ein Herz.

Eitelkeit.

5. – Montag.

Gestern machte ich mit Votini und seinem Vater den Spaziergang durch die Allee Rivoli. Als wir durch die Straße Dora Grossa gingen, sahen wir Stardi, den, der Fußtritte austeilt, wenn er gestört wird, vor dem Ladenfenster eines Buchhändlers wie angewurzelt stehen, die Augen auf eine große Karte geheftet; und wer weiß, wie lange er schon da war, denn er studiert immer, auch auf der Straße; er erwiderte kaum unsern Gruß, der Grobian. Votini war gut gekleidet, nur zu gut: er trug rot gesteppte Stiefel von feinem Leder, ein Kleid mit Stickereien und seidenen Quästchen, einen weißen Kastorhut und eine Uhr. Wie er sich brüstete! Aber diesmal sollte er übel ankommen mit seiner Eitelkeit. Nachdem wir ein gutes Stück der Allee durchschritten und seinen Vater, der nur langsam ging, weit hinter uns gelassen hatten, hielten wir bei einer steinernen Bank an der Seite eines dürftig gekleideten Knaben, der müde und nachdenklich schien und den Kopf senkte. Ein Mann, wahrscheinlich sein Vater, ging unter den Bäumen auf und ab und las die Zeitung. Wir setzten uns. Votini setzte sich zwischen mich und den Knaben. Plötzlich erinnerte er sich, daß er sehr gut gekleidet sei und nun wollte er sich von seinem Nachbar bewundern und beneiden lassen.

Er hob einen Fuß in die Höhe und sagte zu mir: – Hast du meine neuen Offiziersstiefel schon gesehen? – Er sagte es nur um sie jenem andern zu zeigen. Aber der achtete nicht darauf.

Nun senkte er den Fuß und zeigte mir seine seidenen Quasten und sagte zu mir, indem er zu dem Knaben hinüberblinzelte, diese Seidenquasten gefielen ihm nicht, er wolle sie mit silbernen Knöpfen vertauschen. Aber der Knabe sah auch die Quasten nicht an.

Votini drehte nun auf der Spitze des Zeigefingers seinen schönen weißen Hut. Aber der Knabe – es schien als thue er es absichtlich, – würdigte nicht einmal den Hut eines Blickes.

Votini, der anfing sich zu ärgern, zog die Uhr hervor, öffnete sie und ließ mich die Räder sehen. Aber der andere drehte den Kopf nicht darnach. – Ist sie von Silber und vergoldet? – fragte ich ihn. – Nein, – antwortete er, – sie ist von Gold. – Aber sie wird nicht ganz von Gold sein, – sagte ich, es wird auch Silber daran sein. – Bewahre! – erwiderte er; und um den Knaben zu zwingen, hinzusehen, hielt er ihm die Uhr vor das Gesicht und sagte zu ihm: – Sage du, nicht wahr, sie ist ganz von Gold?

Der Knabe erwiderte trocken: – Ich weiß es nicht.

– O! O! – rief Votini ganz wütend aus, – welcher Stolz!

Während er dies sagte, kam sein Vater, welcher diese Worte gehört hatte; er sah den Knaben starr an, dann sagte er barsch zum Sohne: – Schweig! – und, indem er sich zu seinem Ohr neigte, flüsterte er: – Er ist blind!

Votini sprang auf; er schauderte und schaute dem Knaben ins Gesicht. Er hatte glasartige Pupillen ohne Ausdruck, ohne Blick.

Votini war bestürzt; ohne ein Wort zu sprechen, senkte er die Augen zu Boden. Dann stammelte er: – Es thut mir leid … ich wußte es nicht.

Aber der Blinde, der alles verstanden hatte, sagte mit einem guten und melancholischen Lächeln: O! es macht nichts!

– Nun, Votini ist zwar eitel; aber er hat kein schlechtes Herz. Während des ganzen Spazierganges lachte er nicht mehr.

Der erste Schnee.

10. – Samstag.

Lebet wohl, Spaziergänge auf dem Rivoli. Der gute Freund der Knaben, der erste Schnee ist da! Seit gestern Abend kommt er herunter in dichten, breiten Flocken, wie Jasminblüten. Es war diesen Morgen in der Schule eine Lust, ihn gegen die Scheiben kommen und sich auf allen Vorsprüngen anhäufen zu sehen; auch der Lehrer sah hinaus und rieb sich die Hände, und alle waren im Glück, als sie an die Schneeballen dachten und an das Eis, das später kommen wird, und an das trauliche Kaminfeuer. Stardi allein achtete nicht darauf. Er war ganz in seine Lektion vertieft. Und welchen Jubel gab es beim Herauskommen! Alle rannten in der Straße herum, schreiend und die Arme in die Luft werfend; sie nahmen Hände voll Schnee und wateten darin herum wie junge Hunde im Wasser. Die Eltern, welche draußen warteten, hatten weiße Regenschirme, die Schutzmänner hatten weiße Helme, alle unsere Schulsäcke waren in einigen Augenblicken ganz weiß. Alle schienen außer sich vor Freude, nur Precossi nicht, der Sohn des Schmieds, jener Bleiche, der nie lacht, und Robetti, der ein Kind vor dem Omnibus rettete und nun an Krücken geht. Der Kalabrese, der nie Schnee berührt hatte, machte sich einen Ball und begann ihn wie einen Pfirsich zu essen. Crossi, der Sohn der Gemüsefrau, füllte sich den Schulsack damit, und das Maurermeisterlein machte uns fast platzen vor Lachen, denn als mein Vater ihn einlud, morgen zu uns zu kommen, hatte er den Mund voll Schnee, und da er weder wagte, ihn auszuspucken, noch ihn hinunterzuschlucken, stand er sprachlos da und betrachtete uns, ohne zu antworten. Auch die Lehrerinnen kamen lachend und schnellen Laufes aus der Schule; meine Lehrerin der ersten Klasse, die arme, lief durch das Schneegestöber, indem sie sich das Gesicht mit ihrem grünen Schleier schützte und hustete. Und unterdessen kamen Hunderte von Mädchen aus der benachbarten Abteilung und kreischten und hüpften auf dem weißen Teppich herum, und Lehrer, Pedelle und Schutzmänner riefen: – Nach Hause! Nach Hause! – wobei sie Schneeflocken schluckten und den Schnee von Bart und Schnurrbart schüttelten. Aber auch sie lachten über das freudige Treiben der Schüler, welche jubelnd den Winter begrüßten. – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ihr feiert fröhlich den Einzug des Winters … Aber es gibt Kinder, welche weder Kleider, noch Schuhe, noch Feuer haben. Es gibt Tausende, welche auf weiten, langen Wegen in die Dörfer herabsteigen, in den vor Kälte blutenden Händen tragen sie ein Stück Holz, um die Schule zu heizen. Es giebt Hunderte von Schulen, fast im Schnee vergraben, kahl und düster wie Höhlen, wo die Knaben im Rauch fast ersticken und vor Kälte mit den Zähnen klappern; voll Angst sehen sie den weissen Flocken zu, welche ohne Aufhören niederfallen und sich auf ihre fernen, von Lawinen bedrohten Strohhütten legen. Ihr feiert den Winter, Knaben. Denket an die Tausende von Geschöpfen, denen der Winter Elend und Tod bringt.

Dein Vater.

Das Maurermeisterlein.

11. – Sonntag.

Das »Maurermeisterlein« ist heute gekommen, in einer Jägerjoppe, lauter Kleidungsstücke am Leibe, die sein Vater abgelegt, und welche noch weiß sind von Kalk und Gips. Mein Vater wünschte noch mehr als ich, daß er käme. Wie viel Vergnügen hat er uns gemacht! Kaum eingetreten, zog er seinen weichen Filzhut, der vom Schnee ganz durchnäßt war, ab und steckte ihn in seine Tasche; dann kam er näher, mit dem nachlässigen Gang eines müden Handwerkers, sein rundes Apfelgesicht mit der Stumpfnase da und dort hin wendend! Als er im Eßzimmer war und die Möbel ringsum gemustert hatte, und sein Auge auf ein Bild fiel, das den Rigoletto, einen drolligen Buckligen darstellt, machte er »das Hasenmäulchen«. Es ist unmöglich sich des Lachens zu enthalten, wenn man ihn das Hasenmäulchen machen sieht. Wir spielten mit dem Baukasten; er hat eine außerordentliche Geschicklichkeit Türme und Brücken zu bauen, die sich wie ein Wunder in die Höhe zu heben scheinen, und er arbeitet ganz ernsthaft daran, mit der Geduld eines Mannes. Während er Türme baute, erzählte er mir von seiner Familie: sie wohnen in einer Dachstube, sein Vater geht in die Abendschule, um lesen zu lernen, seine Mutter ist aus Biella gebürtig. Und sie haben ihn gewiß gern, man sieht es, da er zwar als armer Knabe gekleidet, aber gut gegen die Kälte geschützt ist, mit gut geflickten Kleidern, die Halsbinde von der Mutter Hand sorgsam geknüpft. Sein Vater, sagte er mir, ist ein großer Mann, ein Riese, der kaum aufrecht zur Türe hereinkommt; aber er ist gut und nennt den Sohn immer »Hasenmäulchen«; der Sohn hingegen ist klein. – Um vier Uhr aßen wir auf dem Sofa zu Vesper, Brot und Weinbeeren. Als wir uns erhoben, duldete mein Vater nicht, ich weiß nicht warum, daß ich das Lehnpolster reinige, welches das Maurermeisterlein mit seiner Jacke weiß gemacht hatte: er hielt mir die Hand zurück und reinigte es dann heimlich. Als wir spielten, verlor das Maurermeisterlein einen Knopf von seiner Joppe und meine Mutter nähte ihm denselben an; er wurde rot und sah ihr ganz verwundert und verlegen zu, indem er den Atem zurückhielt. Dann zeigte ich ihm einige Bilderbücher mit Karrikaturen und unwillkürlich ahmte er die Grimassen aller dieser Gesichter nach, so gut, daß auch mein Vater lachte. Er war so vergnügt als er wegging, daß er vergaß, seinen Filzhut aufzusetzen und auf der Treppe angekommen, machte er, um mir seine Dankbarkeit zu bezeugen, noch einmal das Hasenmäulchen. Er heißt Antonio Rabucco und ist acht Jahre und acht Monate alt. – – – – – – – – – – –

Weisst du, mein Sohn, warum ich nicht wollte, dass du das Sopha abwischtest? Wenn du es vor den Augen deines Kameraden gereinigt hättest, wäre es für ihn wie ein Vorwurf gewesen, dass er es beschmutzt habe. Und dies wäre nicht schicklich gewesen, erstens, weil er es nicht absichtlich, und dann, weil er es mit den Kleidern seines Vaters gethan, welcher sie bei der Arbeit weiss gemacht hatte; die Arbeit beschmutzt nicht; Staub, Kalk, Firniss, alles was du willst, hängt sich an die Kleider, aber kein Schmutz. Die Arbeit beschmutzt nie. Sage nie von einem Arbeiter, der von der Arbeit kommt: – Er ist schmutzig. – Du sollst sagen: – Seine Kleider tragen die Zeichen, die Spuren seiner Arbeit. Vergiss das nie. Und habe das Maurermeisterlein lieb, erstens, weil er dein Kamerad, und dann, weil er der Sohn eines Handwerkers ist.

Dein Vater.

Ein Schneeball.

16. – Freitag.

Und immer noch schneit und schneit es! Heute ereignete sich nach Schluß der Schule ein häßlicher Vorfall mit dem Schnee. Eine Schar Knaben, kaum auf dem Corso angekommen, fing an Schneeballen zu werfen, die aus nassem Schnee gemacht und fest und schwer wurden wie Steine. Ein Herr rief: – Hört auf ihr Jungen! – und in demselben Augenblick hörte man einen lauten Schrei von der andern Seite der Straße und ein Greis, welcher den Hut verloren hatte, taumelte und bedeckte sich das Gesicht mit beiden Händen. In seiner Nähe rief ein Knabe: – Zu Hilfe! Zu Hilfe! – Sofort eilten von allen Seiten Leute herbei. Ein Schneeball hatte ihn ins Auge getroffen. Die Knaben stoben pfeilgeschwind nach allen Seiten auseinander. Ich stand vor dem Laden des Buchhändlers, wo mein Vater eingetreten war, und sah mehrere meiner Kameraden eiligen Laufes herankommen, welche sich in meiner Nähe unter die andern mischten, als ob sie die Schaufenster betrachten wollten. Da war Garrone mit seinem gewohnten Stück Brot in der Tasche, Coretti, das Maurermeisterlein und Garoffi, der Markensammler. Indessen hatte sich eine Menge Volkes um den Greis geschart und eine Wache und andere Leute liefen da- und dorthin, drohend und rufend: – Wer ist's? Wer ist's gewesen? Bist du es? Sagt, wer es gewesen ist! – und sie besahen den Knaben die Hände, ob sie von Schnee naß seien. Garoffi stand neben mir: ich bemerkte, daß er am ganzen Leibe zitterte und totenblaß war. – Wer ist's? Wer ist es gewesen? – riefen die Leute noch immer. Nun hörte ich, wie Garrone leise zu Garoffi sagte: Auf, geh und stelle dich; es wäre eine Feigheit, einen andern ergreifen zu lassen. – Aber ich habe es nicht absichtlich gethan, – antwortete Garoffi, zitternd wie Espenlaub. – Ist gleichgiltig, thu' deine Pflicht, – antwortete Garrone. – Aber ich habe den Mut nicht! – Fasse Mut, komm, ich begleite dich. – Alles schrie immerfort laut: – Wer ist's? Wer ist es gewesen? Sie haben ihm ein Brillenglas in's Auge geschlagen! Sie haben ihn geblendet! Die Schurken! – Ich glaubte, Garoffi wolle in die Erde versinken. – Komm, – sagte Garrone entschlossen zu ihm, – ich verteidige dich, – ergriff ihn beim Arm, zog ihn vorwärts, während er ihn zugleich wie einen Kranken unterstützte. Die Leute sahen und verstanden sofort, was das bedeute, und mehrere eilten mit erhobenen Fäusten herbei. Aber Garrone stellte sich dazwischen und rief: – Was? Zehn Männer gegen einen Knaben? – Nun ließen jene ab und ein Schutzmann nahm Garoffi bei der Hand und führte ihn, sich eine Gasse durch die Menge bahnend, in den Laden eines Teigwarenhändlers, wohin sie den Verwundeten gebracht hatten. Als ich ihn sah, erkannte ich gleich den alten Beamten, der mit seinem Neffen im vierten Stock unseres Hauses wohnt. Er saß auf einem Sessel und hatte ein Taschentuch über den Augen. – Ich habe es nicht absichtlich gethan! – sagte Garoffi schluchzend, halbtot vor Angst, – ich habe es nicht absichtlich gethan! – Zwei oder drei Personen stießen ihn heftig in den Laden hinein und riefen: – Knie nieder! Bitte um Verzeihung! – und warfen ihn zu Boden. Aber plötzlich hoben ihn zwei kräftige Arme auf die Füße, und eine entschlossene Stimme sagte: – »Nein, meine Herren!« – Es war unser Direktor, der alles gesehen hatte. – »Da er den Mut gehabt hat, sich zu stellen, hat niemand das Recht ihn zu erniedrigen.« – Alles schwieg still. – Bitte um Verzeihung, – sagte der Direktor zu Garoffi. Garoffi, in heftiges Weinen ausbrechend, umarmte die Kniee des Greises und dieser suchte mit seiner Hand das Haupt des Knaben und streichelte seine Haare. Dann sagten alle: – Geh, Knabe, gehe nach Hause. – Und mein Vater zog mich aus der Menge und sagte auf dem Wege zu mir: – Heinrich, hättest du in einem ähnlichen Falle den Mut, deine Pflicht zu thun, und deine Schuld zu bekennen? – Ich antwortete: Ja! Und er: Gieb mir dein Wort als Knabe von Herz und Ehre, daß du es thun würdest. – Ich gebe dir mein Wort darauf, Vater!

Die Lehrerinnen.

17. – Samstag.

Garoffi fürchtete sich sehr, denn er erwartete einen tüchtigen Verweis vom Lehrer; aber der Lehrer kam nicht und da auch der Hilfslehrer fehlte, hielt Frau Cromi, die älteste Lehrerin, welche zwei erwachsene Söhne hat, Schule. Mehrere Damen, welche jetzt ihre Kinder in die Abteilung Baretti begleiten, haben einst bei ihr Lesen und Schreiben gelernt. Sie war heute traurig, weil einer ihrer Söhne krank ist. Kaum sahen wir sie, als der Lärm begann. Aber mit langsamer und ruhiger Stimme sagte sie: – Achtet meine weißen Haare: ich bin nicht nur eine Lehrerin, ich bin eine Mutter; – und nun wagte keiner mehr zu schwatzen, nicht einmal der Franti mit seinem Spitzbubengesicht, der sich damit begnügte seine Possen im Verborgenen zu machen. In die Klasse der Cromi wurde die Delcati, die Lehrerin meines Bruders geschickt, und an den Platz der Delcati kam eine, die sie das »Nönnchen« nennen, weil sie immer dunkel gekleidet ist. Sie trägt eine schwarze Schürze, hat ein kleines, weißes Gesicht, immer glatte Haare, helle Augen und ein leises Stimmchen, so daß es scheint, als ob sie immer Gebete murmle. Und es ist nicht zu glauben, sagt meine Mutter: so mild und schüchtern sie ist, mit diesem immer gleichen Stimmchen, das man kaum hört, und obgleich sie nie schreit, nie zornig wird, so halten sich ihre Schüler doch so ruhig, daß man kaum etwas von ihnen hört. Auch die schlimmsten Straßenjungen beugen den Kopf, wenn sie nur mit dem Finger droht; ihre Schule scheint eine Kirche, und auch deshalb heißt sie das »Nönnchen«. Aber da ist eine andere, die mir auch gefällt: die Lehrerin der ersten Klasse, untere Abteilung Numero 3, die junge mit dem rosigen Gesicht; sie hat zwei schöne Grübchen in den Wangen, trägt eine große, rote Feder auf dem Hütchen und ein Kreuz aus gelbem Glas am Halse. Sie ist immer fröhlich und hält die Klasse in heiterer Stimmung. Läßt sie ihre silberhelle Stimme ertönen, so ist es, als ob sie singe; sie klopft mit dem Stöckchen auf den Tisch oder schlägt in die Hände, um die Ruhe herzustellen; dann, wenn sie hinausgehen, läuft sie wie ein Kind dem einen und andern nach, um sie in Ordnung zu bringen; diesem zieht sie den Mantelkragen herauf, jenem knöpft sie den Überrock zu, daß der Kleine sich nicht erkälte, folgt ihnen bis auf die Straße, damit sie sich nicht raufen, bittet die Eltern, sie zu Hause nicht zu bestrafen, bringt denen, die den Husten haben, Zeltchen, leiht andern, die frieren, den Muff. Darum wird sie fortwährend bedrängt von den Kleinsten, die sie liebkosen und von ihr geküßt sein wollen, indem sie die Lehrerin beim Schleier und am Mantel ziehen; aber sie läßt sie machen und küßt sie alle lachend und jeden Tag kehrt sie mit zerzausten Haaren und ohne Stimme, schwer atmend und ganz zufrieden nach Hause zurück mit ihren hübschen Grübchen und ihrer roten Feder. Sie ist auch Zeichenlehrerin bei den Mädchen und erhält mit ihrer Arbeit ihre Mutter und einen Bruder.

Im Hause des Verwundeten.

18. – Sonntag.

Der Neffe des alten Beamten, der von dem Schneeball Garoffis ins Auge getroffen wurde, geht bei der Lehrerin mit der roten Feder in die Schule; wir haben ihn heute im Hause seines Onkels, der ihn wie einen Sohn hält, gesehen. Ich hatte die monatliche Erzählung für die nächste Woche: »Der kleine florentinische Schreiber«, die mir der Lehrer zu kopieren gab, fertig abgeschrieben, als mein Vater zu mir sagte: – Wir wollen ins vierte Stockwerk hinaufgehen, um zu sehen, wie es um das Auge des alten Herrn steht. – Wir traten in eine fast dunkle Kammer ein, wo der Greis im Bette saß, mit vielen Kissen hinter dem Rücken; am Kopfende des Bettes saß seine Frau und in einer Ecke befand sich sein Neffe und spielte. Der Greis hatte das Auge verbunden. Er war sehr erfreut meinen Vater zu sehen, lud uns zum Sitzen ein und sagte, daß er sich besser befinde, daß das Auge nicht verloren sei, ja daß er im Verlauf weniger Tage geheilt sein werde. – Es war ein unglücklicher Zufall, – sagte er, – ich bedaure, daß jener Knabe eine solche Angst ausstehen mußte. – Dann sprach er uns vom Arzte, der ihn um diese Stunde besuchen sollte. Wirklich läutete in diesem Augenblicke die Glocke: – Es ist der Arzt, – sagte die Frau. Die Türe geht auf … Und wen sehe ich? Garoffi in seinem langen Mantel, gesenkten Hauptes auf der Schwelle stehend; er hatte nicht den Mut einzutreten. – Wer ist's? – fragte der Kranke. – Es ist der Knabe, welcher den Schneeball warf, – sagte mein Vater. Und der Greis sagte alsdann: – Du armer Junge! tritt näher; du bist gekommen um dich nach dem Verwundeten zu erkundigen, nicht wahr? Aber es geht besser, sei ruhig, es geht besser, ich bin fast geheilt. Komm hieher. – Garoffi, so verwirrt, daß er uns nicht sah, näherte sich dem Bette, indem er sich Gewalt anthat, nicht in Thränen auszubrechen, und der Alte liebkoste ihn, aber der Knabe konnte nicht sprechen. – »Ich danke dir,« sagte der Greis, »gehe nun und sage deinem Vater und deiner Mutter, daß alles gut gehe, daß sie sich keine Sorge mehr machen müssen.« – Aber Garoffi rührte sich nicht, es schien als ob er noch etwas zu sagen hätte, es aber nicht wagte. – »Was hast du mir noch zu sagen? Was willst du?« – »Ich … nichts.« – »Nun denn, leb wohl, auf Wiedersehen, lieber Knabe; gehe nur mit ruhigem Herzen.« – Garoffi ging bis zur Türe, aber dort stand er still und kehrte sich zum Neffen, der ihm folgte und ihn neugierig betrachtete. Plötzlich zog er einen Gegenstand unter dem Mantel hervor, legte ihn dem Knaben in die Hände und sagte in Eile: »Es ist für dich,« – und weg war er wie ein Blitz. Der Knabe brachte das Geschenk seinem Onkel; es war darauf geschrieben: »Ich schenke dir dieses;« wir schauten hinein und thaten einen Ausruf der Verwunderung. Es war sein berühmtes Album mit der Markensammlung, welches der arme Garoffi gebracht hatte, die Sammlung, von der er immer sprach, auf welche er so viele Hoffnungen gegründet und die ihn so viele Mühe gekostet hatte; sie war sein Schatz, – armer Knabe! es war die Hälfte seines Herzblutes das er schenkte, um Verzeihung zu erlangen.

Der kleine florentinische Schreiber.

(Monatliche Erzählung.)

Er ging in die vierte Klasse der Gemeindeschule. Ein liebenswürdiger, kleiner Florentiner von zwölf Jahren, mit schwarzen Haaren und weißem Gesicht, der älteste Sohn eines Eisenbahnangestellten, der mit einer großen Familie und kleinem Gehalt in Dürftigkeit lebte. Der Vater liebte ihn und war sehr gut und nachsichtig mit ihm: nachsichtig in allem, außer in dem, was die Schule betraf; darin verlangte er viel und zeigte sich streng, denn der Sohn sollte bald im Stande sein, ein Amt zu verwalten, um der Familie zu helfen, und um es dazu zu bringen, sollte er in kurzer Zeit vieles bewältigen. So fleißig daher der Sohn auch war, mahnte ihn der Vater doch immer zu lernen, zu studieren. Der Vater war schon ziemlich bei Jahren und zudem durch strenge Arbeit vor der Zeit alt geworden. Nichtsdestoweniger übernahm er, um die Familie durchzubringen, außer den Arbeiten seines Amtes von da und dort noch andere und brachte einen schönen Teil der Nacht am Schreibtische zu. Kürzlich hatte er von einer Verlagshandlung, welche wöchentlich Bücher und Zeitungen versandte, den Auftrag übernommen, auf die Umschläge die Namen und Adressen der Abonnenten zu schreiben, und verdiente an je 500 Stück dieser in großen und regelmäßigen Buchstaben geschriebenen Adressen drei Franken. Aber diese Arbeit ermüdete ihn und er beklagte sich oft bei Tische darüber. – Meine Augen werden schwach, – sagte er, – diese Nachtarbeit reibt mich auf. – Eines Tages sagte der Sohn: – Vater, laß mich für dich arbeiten; du weißt, daß ich genau so schreibe wie du. Aber der Vater antwortete: – Nein, mein Sohn, du mußt lernen; deine Schule ist viel wichtiger als meine Adressen; ich würde mir Gewissensbisse machen, dir nur eine Stunde zu entziehen; ich danke dir, aber ich will nicht, sprich nicht mehr davon.

Der Sohn wußte, daß es unnütz sei dieser Sache wegen länger in seinen Vater zu dringen und er sprach nicht mehr davon. Aber was that er? Er wußte, daß sein Vater punkt Mitternacht zu schreiben aufhörte und sein Arbeitszimmer verließ, um in's Schlafzimmer zu gehen. Er hatte es einige Male gehört: Hatte die Wanduhr die zwölfte Stunde geschlagen, so wurde der Stuhl gerückt und es ließ sich der langsame Schritt des Vaters vernehmen. Eines Nachts wartete er, bis derselbe zu Bette war, kleidete sich ganz leise an, ging behutsam in das Zimmer, zündete die Petroleumlampe wieder an, setzte sich an den Schreibtisch, auf dem ein Haufen weißer Streifen und das Verzeichniß der Adressen war und begann zu schreiben, indem er die Schrift seines Vaters genau nachahmte. Und er schrieb mit Eifer, wenn auch ein wenig furchtsam, und die Streifen häuften sich an, und hie und da legte er die Feder weg, um sich die Hände zu reiben, und dann begann er mit neuer Lebhaftigkeit, indem er von Zeit zu Zeit lauschte und lächelte. Einhundert und sechzig schrieb er: eine Lira! Dann hörte er auf, legte die Feder hin, wo er sie genommen hatte, löschte das Licht und kehrte auf den Fußspitzen in's Bett zurück.

Am folgenden Mittag saß der Vater wohlgelaunt bei Tische. Er hatte nichts bemerkt. Er machte diese Arbeit maschinenmäßig, sie nach Stunden bemessend und dabei an anderes denkend; die geschriebenen Adressen zählte er erst am folgenden Morgen. Als er so guter Laune am Tische saß, klopfte er dem Sohne auf die Schulter und sagte: – Eh, Giulio, – dein Vater ist noch gut zum Arbeiten, glaube es nur! In zwei Stunden habe ich gestern Abend einen schönen Drittteil der Arbeit mehr gemacht, als gewöhnlich. Die Hand ist noch flink und die Augen thun ihren Dienst. – Und Giulio dachte still vergnügt: – »Der gute Vater! außer dem Verdienste verschaffe ich ihm noch die Genugthuung, sich verjüngt zu glauben. Nun wohl, nur Mut!«

Von dem guten Erfolg ermutigt, machte sich der Knabe, als es in der nächsten Nacht kaum zwölf geschlagen, wieder auf und ging an die Arbeit. Und so trieb er es mehrere Nächte. Sein Vater bemerkte nichts. Nur ein einziges Mal, beim Abendessen, rief er: – Es ist seltsam, wie viel Petroleum seit einiger Zeit in unserm Hause verbraucht wird! – Giulio fuhr zusammen. Aber der Vater sagte nichts weiter. Und die nächtliche Arbeit nahm ihren Fortgang.

Indessen, da er sich so jede Nacht den Schlaf abbrach, hatte Giulio nicht genug Ruhe; des Morgens erhob er sich müde und am Abend, wenn er die Schularbeiten machte, hatte er Mühe, die Augen offen zu halten. Eines Abends, – das erste Mal in seinem Leben, – schlief er über der Arbeit ein. – Mut! Mut! – rief ihm sein Vater zu, indem er in die Hände klatschte. – Zur Arbeit! – Er fuhr auf und setzte die Arbeit fort. Aber den folgenden Abend und die nächsten Tage ereignete sich dasselbe, und noch schlimmeres: er schlummerte über seinen Büchern ein, stand später auf als gewöhnlich, studierte die Lektion mit Mühe, wie wenn er einen Widerwillen gegen das Lernen hätte. Sein Vater begann ihn zu beobachten, dann wurde er nachdenklich und machte dem Sohne Vorwürfe. Nie hatte er ihm solche machen müssen! – Giulio, – sagte er eines Morgens, – du thust deine Pflicht nicht mehr, du bist nicht mehr derselbe wie früher. Das gefällt mir nicht. Gieb acht, alle Hoffnungen der Familie ruhen auf dir! Ich bin nicht mit dir zufrieden, verstehst du? – Bei diesem Vorwurf, dem ersten wirklich ernsten, den er erhielt, wurde der Knabe ängstlich. »Ja, – sagte er zu sich, – es ist wahr, so kann es nicht fortgehen, die Täuschung muß aufhören.« Aber am Abend desselben Tages sagte sein Vater beim Essen mit Fröhlichkeit: – Denkt einmal, ich habe in diesem Monat mit Adressenschreiben zweiunddreißig Lire mehr verdient, als im vergangenen! – und dabei zog er eine Düte mit Süßigkeiten hervor, welche er gekauft hatte, um mit seinen Kindern diesen außerordentlichen Verdienst zu feiern, und alle klatschten in die Hände. Und nun faßte Giulio Mut und sagte in seinem Herzen: »Nein, armer Vater, ich werde nicht aufhören, dich zu täuschen; ich werde mich mehr anstrengen, um während des Tages zu lernen; aber ich will fortfahren, nachts für dich und alle andern zu arbeiten.« Und der Vater wiederholte: Zweiunddreißig Lire mehr! Ich bin zufrieden … Nur der da, – und er zeigte auf Giulio, – macht mir Verdruß. – Giulio nahm den Vorwurf stillschweigend hin und unterdrückte die Thränen, welche hervorbrechen wollten; aber er fühlte zugleich im Herzen eine selige Freude.

Er that sich Gewalt an und fuhr fort zu arbeiten. Aber es ward ihm immer schwerer, der fortgesetzten Ermüdung Meister zu werden. So ging es zwei Monate lang. Der Vater fuhr fort, den Sohn zu schelten und sah ihn mit immer unwilligern Augen an. Eines Tages ging er sogar zum Lehrer, um Erkundigungen einzuziehen, und der Lehrer sagte: Nun, es geht, es geht so, so, weil er intelligent ist. Aber er hat nicht mehr den guten Willen, wie früher. Er ist schläfrig, gähnt und ist zerstreut. Seine Aufsätze sind kurz, in Eile hingeworfen und schlecht geschrieben. O! Er könnte seine Sache weit besser machen! – An jenem Abend nahm der Vater den Knaben beiseite und sagte ihm so ernste Worte, wie dieser sie noch nie gehört hatte. – Giulio, du siehst, daß ich arbeite, daß ich mir für die Familie das Leben verkürze. Du hilfst mir nicht. Du hast kein Herz, weder für mich, noch für deine Brüder, noch für deine Mutter. – Ach nein, nein, sage das nicht, Vater! – schrie der Sohn, in Thränen ausbrechend, und öffnete den Mund, um alles zu gestehen. Aber der Vater unterbrach ihn, indem er sagte: – Du kennst unsere Lage, du weißt, daß der gute Wille und die Aufopferung Aller nötig sind. Sieh, ich selbst muß meine Arbeit verdoppeln. Ich rechnete diesen Monat auf eine Gratifikation von hundert Lire an der Eisenbahn, und diesen Morgen habe ich erfahren, daß ich nichts erhalten werde! Bei dieser Nachricht unterdrückte Giulio das Bekenntnis, das ihm beinahe über die Lippen gekommen und sagte entschlossen zu sich selbst: – Nein, Vater, ich sage dir nichts; ich bewahre das Geheimnis, um für dich arbeiten zu können; den Schmerz, den ich dir verursache, entgelte ich dir auf andere Weise; in der Schule werde ich immer noch genug lernen, um promoviert zu werden; am nötigsten ist es jetzt, dir zu helfen das Brot zu verdienen und dir die Mühe, welche dich aufreibt, zu erleichtern. – Und er arbeitete weiter, und zwei weitere Monate der nächtlichen Arbeit und der Abspannung am Tage, verzweifelter Anstrengung des Sohnes und bitterer Vorwürfe des Vaters gingen vorüber. Aber das Schlimmste war, daß dieser sich gegen den Knaben immer kälter zeigte, mit ihm nur noch selten sprach, wie wenn er ein ungeratenes Kind wäre, von dem nichts mehr zu hoffen sei; er mied beinahe seinen Anblick. Und Giulio bemerkte es und litt sehr darunter und wenn ihm sein Vater den Rücken kehrte, schickte er ihm verstohlen einen Kuß, mit einem Ausdruck kindlicher und trauriger Zärtlichkeit. – Bei seinem Schmerz und seiner Arbeit magerte er ab und verlor alle Farbe und er mußte seine Studien immer mehr vernachlässigen. Er sah wohl ein, daß alles eines Tages aufhören müsse und jeden Abend sagte er sich: – Diese Nacht werde ich nicht mehr aufstehen; – aber beim Schlage zwölf, in dem Augenblick, da er bei seinem Vorsatz hätte kräftig verharren sollen, empfand er Gewissensbisse; es schien ihm, daß er eine Pflicht vernachlässige, wenn er im Bette bleibe, seinem Vater und seiner Familie eine Lira stehle. Und er erhob sich, und dachte, daß sein Vater eines Nachts erwachen und ihn überraschen könnte, oder auch, daß er die Täuschung gewahr werde, indem er die Adressen zweimal zähle; und dann würde natürlich alles zu Ende sein, ohne ein Eingreifen seinerseits, wozu er jetzt nicht den Mut hatte. Und so fuhr er fort.

Aber eines Abends, beim Essen, sprach der Vater ein Wort aus, das entscheidend für ihn wurde. Seine Mutter betrachtete ihn und als sie sah, daß er leidender und elender aussah als gewöhnlich, sagte sie zu ihm: – Giulio, du bist krank. Und dann wandte sie sich an den Vater: – Giulio ist krank. Sieh, wie bleich er ist! Mein Giulio, was fehlt dir? – Der Vater sah ihn von der Seite an und sagte: – Es ist das böse Gewissen, das ihn krank macht. Er war nicht so, als er noch ein lernbegieriger Schüler und ein Sohn von Herz war. – Aber er ist sehr krank! – rief die Mutter aus. – Es ist mir jetzt gleichgültig, – antwortete der Vater.

Dieses Wort war ein Messerstich ins Herz des armen Knaben. Ach! er war ihm jetzt gleichgültig! Sein Vater, der vor Zeiten gezittert hatte, wenn er ihn nur husten hörte! Er liebte ihn also nicht mehr, jetzt war kein Zweifel mehr, er war im Herzen seines Vaters tot … Ach! nein, mein Vater, sagte er zu sich, mit vor Angst zusammengeschnürtem Herzen, – jetzt muß es zu Ende gehen, ohne deine Liebe kann ich nicht leben, ich will sie wieder ganz besitzen, ich werde dir alles sagen, ich will dich nicht mehr täuschen, ich werde lernen wie früher. Komme was da wolle, wenn du mich nur wieder liebst, mein armer Vater! O dieses Mal bin ich meines Entschlusses sicher!

Nichtsdestoweniger erhob er sich in dieser Nacht auch wieder, mehr durch die Macht der Gewohnheit als durch etwas anderes getrieben; und als er aufgestanden war, wollte er hingehen um in der Stille der Nacht das Zimmer zum letzten Mal zu sehen, wo er heimlich so viel gearbeitet hatte, das Herz voll von Genugthuung und Zartgefühl. Und als er sich beim Schreibtisch befand, das Licht angezündet hatte und die weißen Streifen sah, auf die er nun niemals mehr die Namen von Städten und Personen schreiben sollte, welche er längst auswendig wußte, wurde er von großer Trauer erfaßt und mit einer ungestümen Bewegung ergriff er die Feder um die gewohnte Arbeit zu beginnen. Aber als er die Hand ausstreckte, stieß er an ein Buch und das Buch fiel. Das Blut wollte ihm stocken. Wenn sein Vater erwachte! Allerdings würde er ihn ja nicht bei einer schlechten Handlung überrascht haben, er hatte sich ja auch fest vorgenommen, ihm alles zu sagen; doch … der Gedanke, seinen Schritt in der Dunkelheit herankommen zu hören, – zu dieser Stunde in dieser Stille überrascht zu werden; – seine Mutter würde aufwachen und erschrecken, – und der Gedanke, er kam ihm zum ersten Male, daß sein Vater, wenn er alles entdeckte, ihm gegenüber eine Demütigung erfahren könnte, alles dies jagte ihm fast Schrecken ein. Er lauschte und hielt den Atem an … Man hörte kein Geräusch. Er horchte am Türschloß: alles still! Das ganze Haus schlief. Sein Vater hatte nichts gehört. Er beruhigte sich und begann zu schreiben. Und Adressen häuften sich auf Adressen. Er hörte den abgemessenen Schritt der Wache drunten in der verlassenen Straße, dann ein Geräusch von Kutschen, das auf einmal aufhörte; dann, eine Weile später, das Rollen einer Reihe von Wagen, die langsam vorüberfuhren. Dann trat tiefes Schweigen ein, von Zeit zu Zeit unterbrochen vom entfernten Gebell eines Hundes. Und er schrieb, und schrieb. Und unterdessen stand sein Vater hinter ihm: er war aufgestanden, als er das Buch hatte fallen hören, er hatte den günstigen Augenblick abgewartet, der Lärm der Karren hatte das Geräusch seiner Schritte und das leise Knarren der Türe übertönt, und er stand da, mit seinem weißen Haupte über dem schwarzen Köpfchen Giulios, – und er hatte die Feder über das Papier fliegen sehen, und in einem Augenblick hatte er alles verstanden und eine übermäßige Reue, eine ungeheure Zärtlichkeit hatte sich seiner Seele bemächtigt und er stand wie angewurzelt, atemlos hinter seinem Kinde. Plötzlich stieß Giulio einen lauten Schrei aus: zwei krampfhaft zitternde Arme hatten sein Haupt ergriffen. – Der Vater bedeckte ihm schluchzend die Stirne mit Küssen: – Jetzt weiß ich alles, verzeihe mir, mein bester Sohn. Komm, komm mit mir! – Und er zog ihn, oder vielmehr er trug ihn zum Bette seiner Mutter, die erwacht war und legte ihn in ihre Arme und sagte zu ihr: – Küsse diesen Engel von Sohn, der seit drei Monaten nicht schläft und für mich arbeitet und dem ich das Herz betrübe, ihm, der uns das Brot verdient! – Die Mutter drückte ihn und hielt ihn an der Brust, ohne Worte zu finden; dann sagte sie: – Gehe schlafen, mein Kind, gehe schlafen, geh', ruhe aus! Trage ihn zu Bette! – Der Vater nahm ihn auf die Arme, trug ihn in seine Kammer und brachte ihn zu Bette; tiefatmend und ihn immer liebkosend legte er ihm die Kissen und die Decken zurecht. – Dank, – sprach der Sohn fortwährend, – Dank; aber gehe jetzt zu Bette, ich bin so glücklich; gehe zu Bette, Vater. – Aber sein Vater wollte ihn schlafen sehen, setzte sich neben das Bett, ergriff seine Hand und sagte zu ihm: Schlafe, schlafe mein Sohn! – Und Giulio, entkräftet wie er war, schlief endlich ein und schlief viele Stunden, sich nach mehreren Monaten zum ersten Mal eines ruhigen Schlafes erfreuend, erheitert von lachenden Träumen, und als er die Augen öffnete, da die Sonne schon hoch am Himmel stand, fühlte er zuerst und dann sah er, an seine Brust angelehnt, gestützt auf den Rand des kleinen Bettes, das weiße Haupt seines Vaters, der die Nacht so zugebracht hatte und noch schlief, mit der Stirne an seinem Herzen.

Der Wille.

28. – Mittwoch.

Stardi in meiner Klasse hätte die Kraft, das zu thun, was der kleine Florentiner that. Diesen Morgen gab es zwei Ereignisse in der Schule: Garoffi war ganz närrisch vor Freude, weil sie ihm sein Album mit zwei Marken der Republik Guatemala, welche er seit drei Monaten suchte, zurückgegeben haben; und Stardi bekam die zweite Medaille. Stardi, der erste der Klasse nach Derossi! Alle waren darüber erstaunt. Wer hätte das im Oktober gedacht, als sein Vater ihn in die Schule führte, eingepackt in den großen, grünen Überrock, und zum Lehrer in Gegenwart aller sagte: – Haben Sie Geduld mit ihm, denn er hat nicht viel Grütze! – Alle hielten ihn im Anfang für einen Strohkopf. Aber er sagte: – Entweder gehe ich zu Grunde, oder es muß mir gelingen, – und fing an aus allen Kräften zu studieren, den ganzen Tag, des Nachts, zu Hause, in der Schule, auf dem Spaziergang, mit zusammengebissenen Zähnen und geschlossenen Fäusten, geduldig wie ein Lamm, hartnäckig wie ein Maulesel, und so durch häufiges Wiederholen, indem er der Spöttereien nicht achtete und den Störefrieden Fußtritte gab, hat er alle andern überflügelt, dieser Dickkopf. Er verstand keine Spur von Arithmetik, machte Aufsätze voller Schnitzer, konnte keinen Satz im Gedächtnis behalten und jetzt löst er alle Aufgaben, schreibt korrekt und sagt die Lektion her wie ein Lied. Man begreift seinen eisernen Willen, wenn man den Knaben nur ansieht, so kurz und dick, mit vierschrötigem Kopfe und ohne Hals, mit kurzen, dicken Händen und derber Stimme. Er studiert selbst abgerissene Fetzen von Zeitungen, die Theaterzettel, und jedesmal, wenn er zehn Soldi hat, kauft er sich ein Buch: er hat schon eine kleine Bibliothek angelegt, und in einem Augenblick guter Laune gab er mir seine Absicht zu verstehen, daß er mich einmal nach Hause führen werde, um sie mir zu zeigen. Er spricht mit niemandem, spielt mit niemandem, ist immer da in der Bank, unbeweglich wie ein Fels und horcht auf den Lehrer. Wie viel mußt du gearbeitet haben, armer Stardi! Der Lehrer, obgleich er ungeduldig und schlechter Laune war, sagte diesen Morgen zu ihm, als er ihm die Medaille gab: – »Brav, Stardi; wer ausharrt wird gekrönt.« – Aber er bildet sich nichts darauf ein, lächelt nicht, und kaum war er mit seiner Medaille in die Bank zurückgekehrt, so pflanzte er sich, die Fäuste an den Schläfen, hin, und blieb unbeweglicher und aufmerksamer als zuvor. Aber das schönste kam beim Hinausgehen, als ihn sein Vater, ein Bader, kurz und dick wie er, mit einem großen Gesicht und einer derben Stimme wie er, erwartete. Er hatte nicht auf diese Medaille gehofft und wollte es uns nicht glauben, der Lehrer mußte es ihm versichern und nun fing er an hellauf zu lachen, gab dem Sohne einen Schlag auf den Nacken und sagte laut: »Ei, das ist brav, das ist schön, mein lieber Rundkopf,« und schaute ihn erstaunt und lächelnd an. Und alle Knaben ringsum lächelten, ausgenommen Stardi: die Lektion für den nächsten Morgen ging ihm schon im Kopf herum.

Dankbarkeit.

31. – Samstag.

Dein Gefährte Stardi beklagt sich nie über seinen Lehrer, dessen bin ich sicher. – Der Lehrer war schlechter Laune, war ungeduldig; du sagst es in einem Ton des Unwillens. Denke ein wenig nach, wie manchmal du ungeduldig bist, und mit wem? mit deinem Vater und mit deiner Mutter, das ist ein Verbrechen! Dein Lehrer hat gewiss Grund, hie und da ungeduldig zu sein! Denke, seit wie vielen Jahren er sich für euch Knaben abmüht, und wenn es unter denselben viele artige und liebenswürdige gab, fand er auch sehr viele undankbare, die seine Güte missbrauchten und seine Mühe verkannten; und was noch mehr ist: ihr alle verursacht ihm mehr Bitterkeit als Genugthuung. Denke, dass der beste aller Menschen auf Erden, an seiner Stelle sich hie und da vom Zorne übermannen liesse. Und dann, wenn du wüsstest, wie oft der Lehrer in die Schule geht, nur weil er nicht krank genug ist, sich vom Schulhalten dispensieren zu lassen! Er ist ungeduldig, weil er leidend ist, und es schmerzt ihn noch mehr, wenn er sehen muss, dass ihr andern nicht darauf achtet, oder gar Missbrauch treibt! Achte, liebe deinen Lehrer, mein Sohn. Liebe ihn, weil dein Vater ihn liebt und achtet; weil er sein Leben der Wohlfahrt so vieler Knaben weiht, welche ihn vergessen; liebe ihn, weil er dir den Geist öffnet und erleuchtet und dir die Seele erzieht; weil eines Tages, wenn du ein Mann sein wirst, wenn weder ich noch er mehr auf dieser Welt sein werden, sich sein Bild in der Nähe des meinigen deinem Geiste aufdrängen wird. Dann, siehe, wirst du dich gewisser Züge des Schmerzes und der Ermüdung in seinem guten Gesichte erinnern, an Züge, welche du jetzt nicht beachtest, und sie werden dir noch nach dreissig Jahren auf die Seele fallen und du wirst dich schämen, du wirst es bereuen, ihn nicht geliebt, dich ihm gegenüber schlecht betragen zu haben. Liebe deinen Lehrer, denn er gehört dieser grossen Familie der fünfzigtausend in Italien zerstreuten Elementarlehrer an, welche so zu sagen die geistigen Väter von Millionen von Kindern sind, die mit dir aufwachsen; die nicht genug geschätzten und schlecht bezahlten Arbeiter, welche unserem Lande ein besseres Volk als das gegenwärtige erziehen. Ich bin nicht zufrieden mit der Zuneigung, die du für mich hast, wenn du sie nicht auch zu allen denen hast, die dir Gutes thun, und unter diesen ist dein Lehrer der Erste nach deinen Eltern. Liebe ihn wie du einen meiner Brüder lieben würdest; liebe ihn, wenn er dich liebkost und wenn er dich tadelt, wenn er gerecht ist, und wenn es dir scheint, er sei ungerecht; liebe ihn, wenn er heiter und gesprächig ist, und liebe ihn noch mehr, wenn du ihn traurig siehst. Liebe ihn immer. Und sprich immer mit Ehrerbietung den Namen »Lehrer« aus, welcher nach dem Namen »Vater« der edelste und süsseste ist, den ein Mensch dem andern geben kann.

Dein Vater.


 << zurück weiter >>