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5. – Freitag.
Heute habe ich Ferien gemacht, weil ich nicht wohl war, und meine Mutter hat mich mit sich in die Anstalt der mit der englischen Krankheit behafteten Kinder geführt, wohin sie ging, um ein Kindlein unseres Türhüters zu empfehlen; aber sie hat mich nicht in die Schule eintreten lassen … – – – – – – – – – –
– »Hast du nicht erraten, Heinrich, warum ich dich nicht eintreten liess? Um dich nicht vor diese Unglücklichen zu stellen, da mitten in die Schule hinein, gleichsam als ob ich dich, einen gesunden und kräftigen Knaben zeigen wollte; sie haben schon zu viel Gelegenheit, schmerzliche Vergleichungen anzustellen. Wie traurig! Mich kam das Weinen an, als ich dort eintrat. Es waren ungefähr sechzig, Knäblein und Mägdlein … Arme verkrümmte Gliedmassen! Arme Hände, arme zusammengeschrumpfte und verdrehte Füsschen! Arme missgestaltete Körperchen! Aber unter ihnen bemerkte ich viele liebliche Gesichter, Augen voll Intelligenz und Gemüt: da war das Gesichtchen eines Kindleins mit scharfer Nase und spitzem Kinn, das wie eine kleine Alte aussah; aber es hatte ein Lächeln von himmlischer Lieblichkeit. Einige sind von vorn gesehen schön und scheinen ohne Gebrechen; sie wenden sich … und ihr Anblick zerreisst uns das Herz. Der Arzt, der sie untersuchte, war da. Er stellte sie aufrecht auf die Bänke und hob ihnen die Kleidchen in die Höhe, um ihre angeschwollenen Leiber und ihre dicken Gelenke zu betasten; aber sie schämten sich keineswegs, die armen Kreaturen; man sah, dass sie es gewöhnt waren, ausgezogen, untersucht, nach allen Seiten gedreht zu werden. Und man muss bedenken, dass sie jetzt in der bessern Periode ihrer Krankheit sind, dass sie fast nicht mehr leiden. Aber wer kann sagen, was sie bei der ersten Umgestaltung des Körpers litten, als sie mit dem Zunehmen ihrer Unförmlichkeit die Zuneigung rings um sich abnehmen sahen, die armen Kinder! Stunden lang allein im Winkel eines Zimmers oder eines Hofes gelassen, wurden sie in vielen Fällen noch dazu schlecht genährt und zuweilen auch geneckt, und Monate lang durch Verbände und verschiedene unzweckmässige orthopädische Apparate gequält. Jetzt jedoch, infolge der Fürsorge, der bessern Nahrung und des Turnens werden manche besser. Die Lehrerin liess Leibesübungen machen. Es erbarmte einen, sie bei gewissen Befehlen die eingewickelten, zwischen hölzernen Schienen gepressten, knorrigen, unförmlichen Beine unter den Bänken strecken zu sehen; Glieder, die man mit Küssen bedecken sollte! Mehrere konnten sich nicht von der Bank erheben und blieben da, den Kopf auf den Arm gelegt und streichelten die Krücken mit der Hand; andern ging, als sie Armstossen machten, der Atem aus und sie fielen bleich auf die Sitze zurück; aber sie lächelten um die Ermüdung zu verbergen. O! Heinrich, ihr andern, die ihr die Gesundheit nicht schätzet, euch scheint das Gesundsein etwas so Geringfügiges! Ich dachte an die schönen, starken und blühenden Knaben, welche die Mütter wie im Triumph herumtragen, stolz auf deren Schönheit; und ich hätte alle diese armen Köpfchen nehmen, hätte in meinem Schmerz sie ans Herz drücken mögen; hätte, stünde ich allein, gesagt: ich gehe nicht mehr von hier fort, ich will euch das Leben widmen, euch dienen, euch allen eine Mutter sein bis zu meinem letzten Tage … Und unterdessen sangen sie, sangen mit dünnen, süssen, traurigen Stimmchen, die durch's Herz gingen, und als die Lehrerin sie lobte, waren sie sichtlich beglückt; und während sie durch die Bänke ging, küssten sie ihr die Hände und die Arme, denn sie fühlen sehr viel Dankbarkeit für denjenigen, der ihnen Gutes thut und sind sehr anhänglich. Und sie haben auch Talent, diese Engelchen und lernen, sagte mir die Lehrerin. Es ist eine junge und liebenswürdige Lehrerin, die auf ihrem gütigen Gesichte einen gewissen Ausdruck von Schwermut hat; er ist wie ein Widerschein des Unglücks, das sie liebkost und tröstet. Liebes Mädchen! Unter allen menschlichen Geschöpfen, die sich das Brot mit ihrer Arbeit verdienen, gibt es kein einziges, das es heiliger verdiente als du, meine Tochter.
Deine Mutter.
9. – Dienstag.
Meine Mutter ist gut und meine Schwester Silvia ist wie sie, sie hat das gleiche große und gute Herz. Ich kopierte gestern Abend einen Teil der monatlichen Erzählung: Von den Apenninen zu den Anden, welche der Lehrer uns abzuschreiben gegeben hat, jedem ein wenig, so lang ist sie, als Silvia auf den Fußspitzen eintrat und mir in Eile und leise sagte: – Komm mit mir zur Mutter. Ich habe die Eltern diesen Morgen miteinander sprechen hören: dem Vater ist ein Geschäft mißglückt, er war betrübt, die Mutter machte ihm Mut; wir sind in der Not, verstehst du? es ist kein Geld mehr da. Der Papa sagte, man müsse Opfer bringen um sich wieder zu erholen. Nun ist es an uns, auch Opfer zu bringen, nicht wahr? Bist du bereit? Gut, ich spreche mit der Mutter und du sagst ja, und versprichst es ihr auf deine Ehre, daß du alles thust, was ich sagen werde. – Nachdem sie dies gesagt hatte, nahm sie mich bei der Hand und führte mich zu unserer Mutter, welche ganz nachdenkend nähte; ich saß auf einer Seite des Sofas, Silvia setzte sich auf die andere, und plötzlich sagte sie: – Höre Mutter, ich habe mit Dir zu sprechen. Wir beide haben mit Dir zu sprechen. Die Mutter betrachtete uns verwundert. Und Silvia begann: – Der Vater ist ohne Geld, nicht wahr? – Was sagst du? antwortete die Mutter errötend. – Es ist nicht wahr! Was weißt du davon? Wer hat es dir gesagt? – Ich weiß es, sagte Silvia entschlossen. – Nun wohl, höre Mutter; auch wir müssen Opfer bringen. Du hattest mir auf Ende Mai einen Fächer versprochen und Heinrich erwartete eine Farbenschachtel; wir wollen nichts mehr; wir wollen nicht, daß die Soldi unnötig ausgegeben werden; wir sind gleichwohl zufrieden, hast du verstanden? Die Mutter versuchte zu sprechen; aber Silvia sagte: – Nein, es bleibt dabei. Wir haben es so ausgemacht. Und bis der Vater wieder Geld hat, wollen wir keine Früchte noch andere Sachen mehr; die Suppe genügt uns, und am Morgen beim Frühstück essen wir Brot; so wird man für den Tisch weniger ausgeben, wir geben schon zu viel aus, und wir versprechen Dir, daß Du uns dennoch zufrieden sehen wirst. Ist es nicht wahr, Heinrich? – Ich antwortete ja. – Immer zufrieden, wie bisher, wiederholte Silvia, indem sie der Mutter mit einer Hand den Mund schloß; – und wenn andere Opfer zu bringen sind, entweder an Kleidern oder in anderem, wir werden sie gerne bringen, wir könnten auch unsere Geschenke verkaufen; ich gebe alle meine Sachen her, ich diene Dir als Kammerfrau, wir wollen nichts mehr außer dem Hause machen lassen, ich will den ganzen Tag mit Dir arbeiten, ich mache alles was Du willst, ich bin zu allem bereit! Zu allem! rief sie aus, indem sie die Arme um den Hals der Mutter schlang; – damit Väterchen und Mütterchen keine Verlegenheiten mehr haben, damit ich euch beide wieder ruhig, guter Laune wie früher sehe, inmitten eurer Silvia und eures Heinrich, die euch so sehr lieben, die das Leben für euch geben würden! – Ach! nie sah ich meine Mutter so glücklich, als da sie diese Worte hörte; nie küßte sie uns so herzlich auf die Stirne, weinend und lachend, ohne sprechen zu können. Und dann versicherte sie Silvia, daß sie schlecht verstanden habe, daß wir gar nicht in der Not seien, wie sie glaubte, zum Glücke nicht, und hundertmal sagte sie uns Dank und war heiter den ganzen Abend, bis mein Vater heimkam, dem sie alles erzählte. Er öffnete den Mund nicht, mein armer Vater! Aber diesen Morgen als ich mich zu Tische setzte … fand ich, gleichzeitig mit Freude und Traurigkeit, unter dem Tischtuch meine Schachtel und Silvia fand ihren Fächer.
11. – Donnerstag.
Diesen Morgen hatte ich meinen Teil der Erzählung »von den Apenninen zu den Anden« abgeschrieben und suchte eben ein Thema für den freien Aufsatz, den uns der Lehrer gab, als ich auf den Treppen ein ungewöhnliches Stimmengewirr hörte, und kurz nachher traten zwei Feuerwehrmänner ins Haus, welche meinen Vater um die Erlaubnis baten, die Öfen und Kamine untersuchen zu dürfen, denn es brannte ein Schornstein auf den Dächern und man wußte nicht, woher es kam. Mein Vater sagte: – Thun Sie es nur, – und obgleich wir nirgends Feuer angezündet hatten, begannen sie die Runde durch die Zimmer und legten die Ohren an die Wände, um zu horchen, ob das Feuer in den Rauchfängen, welche in die anderen Stockwerke des Hauses gehen, ein Geräusch mache.
Mein Vater sagte zu mir, während sie durch die Zimmer gingen: – Heinrich, da ist ein Thema für deinen Aufsatz: Die Feuerwehrmänner. Versuche ein wenig zu schreiben, was ich dir erzähle. Ich sah sie vor zwei Jahren an der Arbeit, als ich in schon vorgerückter Nacht aus dem Balbo-Theater kam. Beim Eingang der Straße Roma sah ich eine ungewöhnliche Helle und ein Menschengewoge, das sich herbeiwälzte; ein Haus stand in Flammen, Feuerzungen und Rauchwolken brachen durch die Fenster und durch das Dach; Männer und Frauen erschienen an den Fenstern und verschwanden, indem sie ein verzweifeltes Geschrei ausstießen; vor dem Thore war ein großer Tumult; die Menge schrie: – Sie verbrennen lebendig! Hilfe! die Feuerwehr! In diesem Augenblicke langte eine Kutsche an, vier Feuerwehrmänner sprangen heraus, es waren die ersten die sich im Gemeindehause gefunden hatten, und sie stürzten sich in das Haus. Kaum waren sie eingetreten, als man eine schreckliche Scene sah: eine Frau zeigte sich heulend an einem Fenster des dritten Stockwerkes, klammerte sich an das Geländer, hob ein Bein nach dem andern hinüber und blieb so angeklammert, fast aufgehängt in freier Luft, mit dem Rücken nach außen, gekrümmt unter dem Rauch und den Flammen, die, aus dem Zimmer herausbrechend, ihr fast das Haupt ergriffen. Die Menge stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Die Feuerwehrmänner, irrtümlicher Weise von den erschreckten Hausbewohnern im zweiten Stockwerk zurückgehalten, hatten schon eine Mauer eingeschlagen und sich in eine Kammer gestürzt; hundert Stimmen benachrichtigten sie: – Im dritten Stock! Im dritten Stock! – Sie flogen in das dritte Stockwerk hinauf. Hier war ein Höllenlärm: schwankende Dachbalken, Korridore voll Flammen, ein erstickender Rauch. Um in die Zimmer zu gelangen, wo die Hausbewohner eingeschlossen waren, blieb kein anderer Weg, als über das Dach. Sie eilten sofort hinauf und eine Minute nachher sah man ein gespenstartiges Wesen durch den Rauch auf die Ziegel springen. Es war der Korporal, der zuerst angekommen war. Aber um nach der Seite des Daches, die mit den vom Feuer umringten Wohnungen in Verbindung stand, zu gelangen, mußte ein sehr enger Raum zwischen einem Dachfenster und der Traufe passiert werden; alles andere stand in hellen Flammen und dieser schmale Durchgang war mit Schnee und Eis bedeckt und nirgends ein Anhalt geboten. – Es ist unmöglich, dort durchzukommen, – schrie die Menge von unten. Der Korporal ging auf dem Rand des Daches vorwärts: alle schauderten und sahen mit zurückgehaltenem Atem hinauf: – er ging hinüber: – ein ungeheurer Beifallsturm stieg zum Himmel empor. Der Korporal setzte seinen Gang fort, und an dem bedrohten Punkte angekommen, begann er wie rasend mit der Axt Ziegel, Balken, Dachlatten zu zertrümmern, um ein Loch zu machen, durch das er hineinsteigen könne. Unterdessen hing die Frau noch immer außer dem Fenster, das Feuer wütete ob ihrem Haupte, eine Minute noch, und sie wäre auf die Straße gestürzt. Das Loch war offen: man sah, wie der Korporal das Rettungsseil löste und hinunterglitt; die andern Feuerwehrmänner waren unterdessen auch nachgekommen und folgten ihm. Im gleichen Augenblick legte sich eine sehr hohe Leiter, soeben angelangt, an das Hauptgesims des Hauses, vor den Fenstern, wo aus den Flammen verzweifelte Rufe drangen. Aber es schien schon zu spät. – Niemand kann sich mehr retten, riefen sie. – Die Feuerwehrmänner brennen. – Es ist zu Ende. – Sie sind tot. – Plötzlich sah man am Fenster mit dem Geländer die schwarze Gestalt des Korporals, von oben bis unten von den Flammen beleuchtet, erscheinen; – die Frau umschlang seinen Hals; – er faßte sie mit beiden Armen um den Leib, zog sie herauf und stellte sie ins Zimmer nieder. Die Menge stieß einen tausendfachen Ruf aus, der den Lärm der Feuersbrunst übertönte. Aber die andern? und wie heruntersteigen? Die Leiter, vor einem andern Fenster ans Dach gelehnt, stand vom Fenstervorsprung ein gutes Stück ab. Wie hätten sie die Leiter erreichen sollen? Während man sich dies fragte, kam einer der Feuerwehrmänner durch das Fenster heraus, setzte den rechten Fuß auf den Fenstervorsprung und den linken auf die Leiter, und so, aufrecht in der Luft, erfaßte er einen nach dem andern von den Hausbewohnern, welche ihm von innen gereicht wurden und reichte sie wieder einem Gefährten, der von unten auf die Leiter gestiegen war und der sie von Sprosse zu Sprosse hinunterklettern ließ, wobei sie von andern Feuerwehrmännern von unten unterstützt wurden. Zuerst kam die Frau vom Geländer, dann ein Kind, eine andere Frau, ein Greis. Alle waren gerettet. Nach dem Greise stiegen die drinnen gebliebenen Feuerwehrmänner herunter; der letzte war der Korporal, der beim Herbeieilen der erste gewesen war. Die Menge empfing alle mit einem Beifallsturm; als aber der letzte erschien, der Vormann der Retter, der vor allen andern dem Abgrund getrotzt hatte, derjenige welcher, wenn einer das Leben hätte lassen müssen, gestorben wäre, begrüßte ihn die Menge wie einen Triumphator, Alles schrie und streckte ihm die Arme entgegen, außer sich vor Bewunderung und Dankbarkeit und in wenigen Augenblicken tönte sein unbekannter Name, – Giuseppe Robbino – von tausend Zungen … Hast du verstanden? Das ist Mut, der Mut des Herzens, der nicht bedenkt, der nicht wankt, der gerade, blind, blitzschnell geht, wo er den Ruf eines Sterbenden hört. Ich werde dich eines Tages zu den Übungen der Feuerwehr führen und werde dir den Korporal Robbino zeigen; du würdest dich sehr freuen, ihn zu kennen, nicht wahr? Ich antwortete ja. – Da ist er, – sagte mein Vater.
Ich drehte mich schnell um. Die zwei Feuerwehrmänner, welche ihre Untersuchung beendigt hatten, durchschritten das Zimmer um hinauszugehen.
Mein Vater bezeichnete mir den kleinern, der die Borten hatte und sagte zu mir; drücke dem Korporal Robbino die Hand.
Der Korporal stand still und reichte mir lächelnd die Hand: ich drückte sie ihm; er grüßte und ging hinaus.
– Und erinnere dich wohl, – sagte mein Vater, – denn von den tausenden von Händen, die du in deinem Leben drücken wirst, sind vielleicht nicht zehn, die die seinige wert sind.
(Monatliche Erzählung.)
Vor vielen Jahren ging ein kleiner Genuese von dreizehn Jahren, der Sohn eines Arbeiters, allein von Genua nach Amerika, um seine Mutter zu suchen. Seine Mutter war zwei Jahre vorher nach Buenos Aires, der Hauptstadt der Republik Argentinien, gegangen, um in irgend einem reichen Hause einen Dienst zu übernehmen und so in kurzer Zeit genug zu erwerben, um der Familie, welche infolge verschiedener Unglücksfälle in Armut und Schulden geraten war, wieder aufzuhelfen.
Die Zahl der mutigen Frauen ist nicht klein, die mit diesem Ziele im Auge eine so lange Reise machen und welche, Dank der großen Löhne die dort den Dienstboten bezahlt werden, nach Verlauf von wenigen Jahren mit einigen tausend Liren in die Heimat zurückkehren. Die arme Mutter hatte blutige Thränen geweint, als sie sich von ihren Söhnen, von denen der eine achtzehn und der andere elf Jahre zählte, trennen mußte; aber sie war mutig und voll Hoffnung abgereist. Die Reise ging glücklich von statten: kaum in Buenos Aires angekommen, hatte sie sofort durch Vermittlung eines genuesischen Krämers, eines Vetters ihres Mannes, der seit vielen Jahren dort wohnte, eine gute argentinische Familie gefunden, die sie reichlich bezahlte und gut behandelte. Eine Zeitlang hatte sie mit den Ihrigen eine regelmäßige Korrespondenz unterhalten. Wie sie miteinander verabredet hatten, richtete der Mann die Briefe an den Vetter, welcher sie der Frau aushändigte, und diese übergab ihm die Antworten, die er nach Genua spedierte, indem er auch einige Zeilen beifügte. Da sie jeden Monat achtzig Liren verdiente und für sich nichts ausgab, so schickte sie alle drei Monate eine schöne Summe nach Hause, womit der Mann, ein ehrenhafter Charakter, die dringendsten Schulden nach und nach abzahlte und sich so seinen guten Ruf wieder erwarb. Und unterdessen arbeitete er und war mit seinen Erfolgen zufrieden in der Hoffnung, seine Frau werde in nicht ferner Zeit zurückkehren, denn das Haus schien leer ohne sie und hauptsächlich der jüngere Sohn, der seine Mutter sehr liebte, wurde immer trauriger und konnte sich nicht in ihre Abwesenheit schicken.
Aber ein Jahr nach der Abreise, nach einem kurzen Briefe, in welchem sie sagte, sie befinde sich nicht sehr wohl, blieben die Nachrichten aus. Sie schrieben zweimal an den Vetter; der Vetter antwortete nicht. Sie schrieben an die argentinische Familie, wo die Frau diente; aber sie erhielten keine Antwort; vielleicht war der Brief nicht angekommen, weil der Name auf der Adresse verstümmelt war. Da sie ein Unglück befürchteten, schrieben sie an den italienischen Konsul in Buenos Aires, damit er Nachsuchungen anstelle, und nach drei Monaten bekamen sie die Antwort vom Konsul, daß, ungeachtet des Aufrufes in den Zeitungen, sich niemand gemeldet habe, nicht einmal um Nachricht zu geben. Es war dies nicht anders zu erklären, als daß die gute Frau aus Furcht durch ihre Dienste als Magd auf den guten Namen der Ihrigen einen Makel zu bringen oder aus andern Gründen der argentinischen Familie nicht den wahren Namen angegeben hatte. Wieder verstrichen Monate ohne Antwort. Vater und Söhne waren in Sorge, der kleinste war von einer Traurigkeit niedergedrückt, die er nicht länger besiegen konnte. Was thun? An wen sich wenden? Des Vaters erster Gedanke war zu verreisen, nach Amerika zu gehen, um seine Frau zu suchen. Aber die Arbeit? wer würde die Söhne erhalten? Und auch der größere Sohn hätte nicht abreisen können, denn er begann gerade jetzt etwas zu verdienen und war der Familie nötig. Und in dieser Angst lebten sie, alle Tage wiederholten sich die gleichen, traurigen Reden und der eine blickte den andern stillschweigend an. Eines Abends sagte Marco, der kleinere, entschlossen: – Nun gehe ich selbst nach Amerika, meine Mutter zu suchen. – Der Vater schüttelte das Haupt mit Traurigkeit und antwortete nicht. Es war ein liebevoller Gedanke, aber eine unmögliche Sache. Mit dreizehn Jahren allein eine Reise nach Amerika zu machen, zu der es einen ganzen Monat braucht! Aber der Knabe bestand mit Beharrlichkeit darauf. Er bat heute, morgen, alle Tage mit großer Gelassenheit und setzte seine Gründe mit dem klaren Verstande eines Mannes auseinander. – Andere sind auch dorthin gegangen, – sagte er, – und kleinere als ich. Einmal auf dem Dampfschiff, werde ich dort ankommen so gut wie ein anderer. Bin ich aber dort, so habe ich nur den Laden des Vetters zu suchen. Dort sind so viele Italiener, irgend jemand wird mir die Straße bezeichnen. Wenn ich den Vetter gefunden habe, ist auch die Mutter gefunden, und wenn ich ihn nicht finde, so gehe ich zum Konsul und werde die argentinische Familie suchen. Geschehe was da wolle, so giebt es dort unten für alle Arbeit; auch ich werde sie finden, wenigstens um so viel zu verdienen, daß ich wieder nach Hause zurückkehren kann. – Und so, nach und nach, gelang es ihm fast seinen Vater zu überzeugen. Sein Vater hielt etwas auf ihn, er wußte, daß Marco Verstand und Mut besaß, daß er an Entbehrungen und Opfer gewöhnt war und daß alle diese guten Eigenschaften in seinem Herzen doppelte Kraft gewonnen hatten, für den heiligen Zweck, seine Mutter zu finden, die er anbetete. Es traf sich noch, daß der Kapitän eines Dampfers, der Freund eines seiner Bekannten, der von der Sache gehört hatte, sich anerbot, ihm ein Freibillet dritter Klasse nach Argentinien zu verschaffen. Und nun, nach einigem weitern Zögern willigte der Vater ein, die Reise wurde beschlossen. Sie füllten ihm einen Sack mit Kleidern, gaben ihm einiges Geld in die Tasche und die Adresse des Vetters, und an einem schönen Abend des Monats April schifften sie ihn ein. – Auf der Treppe des Dampfschiffes, das im Begriffe stand in See zu stechen, sagte der Vater, indem er seinem Sohn mit Thränen in den Augen den letzten Kuß gab: – fasse Mut Marco, du reisest für eine heilige Sache und Gott wird dir helfen!
Armer Marco! Er hatte ein starkes und auch für die härtesten Proben dieser Reise vorbereitetes Herz; aber als er am Horizonte sein schönes Genua verschwinden sah und sich auf dem hohen Meere befand, auf diesem großen, von auswandernden Landsleuten angefüllten Schiffe, allein, von keinem Menschen gekannt, mit dem kleinen Sacke, der sein ganzes Vermögen einschloß, so ergriff ihn eine plötzliche Entmutigung. Zwei Tage lang legte er sich hin, wie ein Hund, auf das Vorderteil des Schiffes, fast ohne etwas zu essen und gedrückt von einem großen Bedürfnis zu weinen. Alle Arten trauriger Gedanken gingen ihm durch den Kopf, und der traurigste, der schrecklichste kehrte stets am hartnäckigsten zurück: der Gedanke, seine Mutter sei tot. In seinem unruhigen und oft unterbrochenen Schlafe sah er immer das Gesicht eines Unbekannten, der ihn mit dem Ausdruck des Mitleids ansah und ihm dann ins Ohr flüsterte: – Deine Mutter ist tot. – Und alsdann erwachte er, indem er einen erstickten Schrei ausstieß. Nichtsdestoweniger faßte er wieder ein wenig Mut und Hoffnung beim ersten Anblick des atlantischen Oceans, nachdem sie die Meerenge von Gibraltar passiert hatten. Aber es war eine kurze Erleichterung. Dieses ungeheure, immer gleiche Meer, die wachsende Hitze, die Traurigkeit all der armen Leute, die ihn umgaben, das Gefühl der eigenen Einsamkeit kehrte so stark wieder, daß es ihn niederzuwerfen drohte. Die Tage, die sich leer und gleichförmig folgten, verwirrten sich in seinem Geiste, wie es bei Kranken vorkommt. Es schien ihm, als sei er seit einem Jahre auf dem Meere. Und jeden Morgen, wenn er erwachte, fühlte er einen neuen Schreck, allein in dieser ungeheuern Wasserwüste zu sein, auf der Reise nach Amerika. Und die fliegenden Fische, welche so oft auf das Verdeck fielen, jene wunderbaren Sonnenuntergänge der Tropen, mit den ungeheuren Wolken von Feuer und Blut, jene nächtlichen Phosphorescenzen, von denen der ganze Ocean wie ein brennendes Meer von Lava erscheint, kamen ihm nicht wie wirkliche Dinge, sondern wie im Traume gesehene Sachen vor. Es gab Tage, an denen das Wetter schlecht war, während welcher er in der Kajüte eingeschlossen blieb, wo alles rüttelte und tanzte, inmitten eines erschreckenden Chores von Wehklagen und Verwünschungen; er glaubte seine letzte Stunde sei gekommen. Am andern Tage war das Meer ruhig und gelb, aber es herrschte eine unerträgliche Hitze und gräßliche Langeweile; unendliche und trübe Stunden, während welcher die schwitzenden Reisenden, unbeweglich auf den Tischen liegend, alle wie Tote erschienen. Die Reise nahm kein Ende, Wasser und Himmel, Himmel und Wasser, heute wie gestern, morgen wie heute, – jetzt, – immer, – ewiglich. Und er lehnte Stunden lang an der Brustwehr und betrachtete dieses unendliche Meer, bekümmert, unruhig, an seine Mutter denkend, bis ihm die Augen zufielen und der Kopf ihm vor Schlaf auf die Schulter sank; und dann sah er wieder das unbekannte Gesicht, das ihn teilnehmend ansah und ihm ins Ohr wiederholte: – Deine Mutter ist tot! – und bei dieser Stimme fuhr er plötzlich auf und erwachte, um mit offenen Augen weiter zu träumen und den unveränderten Horizont zu betrachten.
Siebenundzwanzig Tage dauerte die Reise! Aber die letzten Tage waren die besten. Das Wetter war schön und die Luft frisch. Er hatte die Bekanntschaft eines gutmütigen alten Lombarden gemacht, der nach Amerika ging um seinen Sohn zu suchen, welcher in der Nähe der Stadt Rosario Bauer war; er hatte ihm alles von seiner Familie erzählt und der Alte wiederholte ihm oft, indem er ihm mit der Hand auf den Nacken klopfte: – Mut, Büblein, du wirst deine Mutter gesund und wohlbehalten finden. – Diese Gesellschaft stärkte ihn und seine Vorgefühle waren aus traurigen ruhige geworden. Auf dem Vorderteil des Schiffes, in der Nähe des alten Bauern sitzend, der seine Pfeife rauchte, unter dem schön gestirnten Himmel, inmitten der Gruppen von Landsleuten, welche sangen, malte er sich hundertmal in Gedanken seine Ankunft in Buenos Aires aus, sah sich in der gewissen Straße, fand den Laden, stürzte sich dem Vetter entgegen: – Wie geht es meiner Mutter? Wo ist sie? Kommt! Laßt mich gleich zu ihr gehen! – sie liefen miteinander, eilten eine Treppe hinauf, es öffnete sich eine Türe … Und hier hörte sein stummes Selbstgespräch auf, seine Einbildung verlor sich in ein Gefühl unsäglicher Zärtlichkeit, in welchem er heimlich eine kleine Medaille, die er am Halse trug, hervorzog, sie küßte und seine Gebete murmelte.
Am siebenundzwanzigsten Tage nach dem der Abreise kamen sie an. Es war ein schönes, helles Maimorgenrot, als der Dampfer in dem ungeheuern Rio de la Plata Anker warf, an dessen Ufer sich die große Stadt Buenos Aires, die Hauptstadt der Republik Argentinien, ausbreitet. Dieses prachtvolle Wetter schien ihm ein gutes Vorzeichen zu sein. Er war außer sich vor Freude und Ungeduld. Seine Mutter war in einer Entfernung von wenigen Meilen von ihm! In wenigen Stunden sollte er sie sehen! Und er befand sich in Amerika, in der neuen Welt und hatte die Kühnheit gehabt, allein hieher zu kommen! Die ganze, lange Reise löste sich für ihn in ein Nichts auf. Es schien ihm als ob er im Traum geflogen und in diesem Augenblicke erwacht sei. Und er war so glücklich, daß er sich fast nicht verwunderte und nicht betrübt war, als er die Taschen durchstöberte und nur noch eines der beiden Röllchen vorfand, in welche er seinen kleinen Schatz geteilt hatte, um sicher zu sein, nicht alles auf einmal zu verlieren. Sie hatten es ihm gestohlen; es blieben ihm nur noch wenige Lire; aber was kümmerte ihn das, jetzt, da er in der Nähe seiner Mutter war? Mit seinem Sacke in der Hand stieg er mit vielen andern Italienern in ein kleines Dampfschiff, das sie in die Nähe des Ufers brachte, stieg vom Dampfschiff in eine Barke, die den Namen Andrea Doria trug, wurde am Hafendamme ausgeschifft, grüßte seinen alten, lombardischen Freund, und schlug mit großen Schritten den Weg nach der Stadt ein.
Bei der ersten Straße angekommen, hielt er einen vorübergehenden Mann an und bat ihn, ihm zu sagen, welchen Weg er nehmen müsse, um in die Straße »de los Artes« zu gelangen. Er hatte zufällig einen italienischen Arbeiter angesprochen. Dieser betrachtete ihn neugierig und fragte ihn, ob er lesen könne. Der Knabe nickte ja. – Nun gut, – sagte ihm der Arbeiter, auf die Straße zeigend, aus der er gekommen war; – gehe immer gerade hinauf, indem du an allen Ecken die Namen der Straßen liesest; du wirst auch die deinige finden. – Der Knabe dankte ihm und betrat die Straße, die sich vor ihm öffnete.
Es war eine gerade, endlose, aber enge Straße; zu beiden Seiten standen niedrige weiße Häuser, die wie kleine Villen aussahen; sie war voll von Leuten, Kutschen, großen Wagen, die einen betäubenden Lärm machten; hier und dort schwebten sehr große Fahnen von verschiedenen Farben in der Luft und darauf war mit großen Buchstaben die Abreise der Dampfer nach unbekannten Städten angekündigt. So oft er ein kurzes Stück Weges gegangen war, sah er rechts und links zwei andere Straßen, die geradeausliefen, so weit das Auge reichte, auch mit niedrigen, weißen Häusern zu beiden Seiten und voll von Leuten und Wagen, und an ihrem Ende durchschnitten von der geraden Linie der unendlichen amerikanischen Ebene, ähnlich dem Horizonte des Meeres. Die Stadt schien ihm ohne Grenzen. Er glaubte Tage und Wochen lang herumwandern zu können und immer andere Straßen sehen zu müssen, als ob ganz Amerika davon bedeckt sei. Er betrachtete aufmerksam die Namen der Straßen: fremde Namen, die zu lesen er Mühe hatte. Bei jeder neuen Straße fühlte er das Herz klopfen, da er dachte, es sei die seine. Er betrachtete alle Frauen mit dem Gedanken seine Mutter anzutreffen. Er sah eine vor sich, die ihm das Herz klopfen machte: er erreichte sie, betrachtete sie: es war eine Negerin. Er kam an einem Kreuzweg an, las, und blieb wie angewurzelt auf dem Trottoir. Es war die »Straße der Künste«. Er bog in dieselbe ein, sah die Nummer 117; der Laden seines Vetters war in Nummer 175. Er beschleunigte den Schritt noch, sprang mehr als er lief; bei Nummer 171 mußte er anhalten, um Atem zu schöpfen. Und er sagte zu sich: – O Mutter! Mutter! Ist es wirklich wahr, daß ich dich in einigen Augenblicken sehen werde! – Er lief vorwärts und kam an einen kleinen Krämerladen. Da war es. Er trat ein. Er sah eine Frau mit grauen Haaren und einer Brille.
– Was willst du, Knabe? – fragte ihn diese auf spanisch.
– Ist dies nicht, – sagte der Knabe mit Mühe ein Wort hervorbringend, – der Laden von Francesco Merelli?
– Francesco Merelli ist tot, – antwortete die Frau auf italienisch.
Dem Knaben war es, als ob er einen Stoß in die Brust erhielte.
– Wann ist er gestorben?
– Eh, seit geraumer Zeit, – antwortete die Frau; – seit Monaten. Er machte schlechte Geschäfte und suchte das Weite. Man sagte, er sei nach Bahia Blanca gegangen, weit fort von hier. Und kaum dort angekommen, starb er. Der Laden gehört mir.
Der Knabe erbleichte.
Dann sagte er sehr schnell: – Merelli kannte meine Mutter; meine Mutter diente bei Herrn Mequinez. Er allein hätte mir sagen können, wo ich sie finden würde. Ich bin nach Amerika gekommen, um meine Mutter zu suchen. Merelli schickte ihr unsere Briefe. Ich muß meine Mutter finden.
– Armer Junge, – antwortete die Frau, – da ist guter Rat teuer. Ich will den Lehrbuben fragen. Er kannte den Jungen, der für Merelli die Kommissionen besorgte. Es kann sein, daß er etwas zu sagen weiß.
Sie ging in den hintern Teil des Ladens und rief den Knaben, der sofort kam. – Sag einmal, fragte ihn die Krämerin, – erinnerst du dich, daß der Bursche Merellis hie und da Briefe an eine Frau brachte, die im Hause eines »Sohnes des Landes« im Dienste stand.
– Zu Herrn Mequinez, – antwortete der Knabe, – ja Madame, einige Male. Am Ende der Straße der Künste.
– Ah! liebe Frau, Dank! – rief Marco. – Nennen Sie mir die Nummer … Sie wissen sie nicht? Geben Sie mir eine Begleitung, – begleite du mich selber, Knabe, ich habe noch Soldi.
Und er sprach dies mit solcher Wärme, daß der Knabe, ohne den Auftrag der Frau abzuwarten, sagte: – Gehen wir; – und er ging schnellen Schrittes zuerst hinaus.
Eiligen Laufes, ohne ein Wort zu sagen, gingen sie bis zum Ende der sehr langen Straße, traten in den Thorweg eines kleinen weißen Hauses und hielten vor einem schönen eisernen Gitter, von welchem aus man einen Hof voll von Blumentöpfen sah. Marco zog die Glocke.
Ein Fräulein erschien.
– Hier wohnt die Familie Mequinez, nicht wahr? – fragte ängstlich der Knabe.
– Wohnte hier, – antwortete das Fräulein, das Italienische nach spanischer Art betonend. Jetzt wohnen wir hier, Zeballos.
Und wohin sind die Mequinez gegangen, – fragte Marco mit Herzklopfen.
– Sie sind nach Cordova gegangen.
– Cordova! – rief Marco aus. Wo ist Cordova? Und die Person, die bei ihnen im Dienst stand? die Frau, meine Mutter? Die Dienerin war meine Mutter! Haben sie meine Mutter auch mitgenommen?
Das Fräulein betrachtete ihn und sagte: – Ich weiß nicht. Mein Vater weiß es vielleicht, er hat sie gekannt, bevor sie abreisten. Wartet einen Augenblick.
Sie eilte fort und kehrte bald darauf mit ihrem Vater zurück, einem großen Herrn mit grauem Bart. Dieser betrachtete einen Augenblick die einnehmende Figur des genuesischen Schiffers mit blonden Haaren und Adlernase und fragte ihn in schlechtem Italienisch: – Deine Mutter ist Genueserin?
Marco antwortete: – ja.
– Nun die genuesische Dienstfrau ist mit ihnen fortgezogen, ich weiß es genau.
– Und wohin sind sie gegangen?
– Nach Cordova, einer Stadt.
Der Knabe seufzte; alsdann sagte er mit Ergebung: – Nun … dann werde ich nach Cordova gehen.
– Ah pobre niño! rief der Herr aus, indem er ihn mitleidig betrachtete.
– Armer Knabe! Cordova ist Hunderte von Meilen von hier.
Marco wurde bleich wie ein Toter und stützte sich mit einer Hand am Gitter.
Laßt uns sehen – laßt uns sehen! – sagte nun der Herr mitleidig, und öffnete die Türe, – komm einen Augenblick herein; sehen wir, ob sich etwas thun läßt. – Er hieß ihn sich setzen, hieß ihn seine Geschichte erzählen, hörte ihm sehr aufmerksam zu, dachte eine Zeitlang nach, dann fragte er ihn kurz: – Du hast kein Geld, nicht wahr?
– Ich habe noch … ein wenig, – antwortete Marco. Der Herr dachte wieder fünf Minuten nach, dann setzte er sich an sein Pult, schrieb einen Brief, verschloß ihn und indem er ihn dem Knaben reichte, sagte er: – Höre, mein kleiner Italiener. Gehe mit diesem Briefe nach Boca. Es ist eine kleine, halb genuesische Stadt, zwei Wegstunden von hier. Jedermann kann dir den Weg zeigen. Gehe dorthin und suche den Herrn, an den dieser Brief gerichtet ist und den jedermann kennt. Bringe ihm diesen Brief. Er wird dafür sorgen, daß du morgen nach der Stadt Rosario verreisen kannst, und er wird dich an jemand dort oben empfehlen, der es dir möglich macht die Reise bis nach Cordova fortzusetzen, wo du die Familie Mequinez und deine Mutter finden wirst. Indessen nimm das. – Und er drückte ihm einige Lire in die Hand. – Gehe, fasse Mut; du findest da überall Landsleute, du wirst nicht verlassen sein. Adiós.
Der Knabe sagte zu ihm: – Dank, – ohne andere Worte zu finden, ging mit seinem Sacke hinaus und nachdem er sich von seinem kleinen Führer verabschiedet hatte, trat er langsam den Weg nach Boca an, voll Traurigkeit und zugleich auch voll Staunen über die große geräuschvolle Stadt, deren Straßen er durchschritt.
Was ihm von diesem Augenblick an bis zum Abend des nächsten Tages begegnete, haftete in seinem Gedächtnis undeutlich und halb verwischt wie die Phantasien eines Fieberkranken, so sehr war er ermüdet, beängstigt, aufgeregt und mutlos. Während der Nacht hatte er in einem schlechten Zimmer eines Hauses in Boca, neben einem Hafenlastträger geschlafen und dann fast den ganzen Tag auf einem Haufen Balken gesessen, wie im Traume, angesichts der Tausende von großen Schiffen, Barken und kleinen Dampfern. Nun befand er sich am folgenden Tage in der Dämmerung auf dem Hinterteil einer großen mit Früchten beladenen Segelbarke, die nach der Stadt Rosario ging und von drei kräftigen, von der Sonne gebräunten Genuesern geführt war; die Stimme dieser Landsleute und der geliebte Dialekt, den sie sprachen, gab ihm ein wenig Trost ins Herz.
Sie reisten ab, und die Reise dauerte drei Tage und vier Nächte und setzte den kleinen Reisenden in fortwährendes Erstaunen. Drei Tage und vier Nächte auf diesem wunderbaren Strome Parana, im Vergleich mit welchem unser großer Po nur ein Bächlein ist; würde doch die Länge seines Laufes mehrfach die Länge Italiens ausmachen. Die Barke ging langsam diese ungeheure Wasserstraße hinauf. Man fuhr an langgestreckten Inseln vorüber, die ehemals Nester von Schlangen und Tigern gewesen, und nun, von Orangenbäumen und Weiden ganz überwachsen, im Wasser schwimmenden Wäldern gleichsahen. Bald durchfuhr man enge Kanäle, aus denen man nicht mehr herauszukommen glaubte; bald lief man in große Wasserflächen hinaus, dem Anscheine nach große, ruhige Seen; dann wieder zwischen den Inseln, durch vielfach verschlungene Kanäle, mitten durch ungeheure Dickichte von Pflanzen. Es herrschte eine tiefe Stille. Je mehr sie vorrückten, desto mutloser machte den Knaben dieser ungeheure Strom. Er bildete sich ein, seine Mutter befinde sich an den Quellen und die Fahrt müsse Jahre lang dauern. Zweimal des Tages aß er mit den Schiffern ein wenig Brot und gesalzenes Fleisch. Die Schiffer, welche ihn so traurig sahen, redeten ihn nie an. Während der Nacht schlief er auf Decken und erwachte oft plötzlich, erschreckt von dem hellen Lichte des Mondes, das die unermeßlichen Wasser und die fernen Ufer beleuchtete, und dann schnürte sich sein Herz zusammen. – Cordova! – Er wiederholte diesen Namen: Cordova! wie den Namen einer der wunderbaren Städte, von denen er in den Märchen hatte erzählen hören. Aber dann dachte er: – Meine Mutter ist da vorbeigekommen, sie hat diese Inseln, diese Ufer gesehen, – und alsdann erschienen ihm diese Orte, auf denen der Blick seiner Mutter geruht hatte, nicht mehr so fremd und einsam … In der Nacht sang einer der Schiffer. Diese Stimme erinnerte ihn an die Lieder, mit welchen die Mutter ihn als Kind einschläferte. Die letzte Nacht schluchzte er, als er diese Töne hörte. Der Schiffer unterbrach seinen Gesang. Dann rief er: – Mut, Mut, Knabe! Zum Teufel! Ein Genuese, der weint, weil er weit von Hause ist! Die Genuesen durchziehen die Welt glorreich und triumphierend! – Bei diesen Worten ermannte er sich, fühlte das genuesische Blut in seinen Adern rollen und erhob stolz die Stirne, indem er mit der Faust auf das Ruder schlug. – Nun wohl, ja, – sagte er zu sich selbst, sollte ich auch die ganze Welt durchwandern, noch Jahre und Jahre reisen und Hunderte von Meilen zu Kuß machen müssen, ich gehe vorwärts, bis ich meine Mutter finde. Sollte ich auch sterbend ankommen und tot zu ihren Füßen hinsinken! Wenn ich sie nur ein Mal wieder sehe! Mut! – Und so, gehobenen Sinnes, kam er bei Anbruch eines rosigen Morgens beruhigter in der am hohen Ufer des Parana gelegenen Stadt Rosario an, wo sich in den Wassern die beflaggten Maste von hundert Schiffen aller Länder spiegelten.
Kurz nach der Ausschiffung stieg er mit seinem Sacke in der Hand nach der Stadt hinauf, um den argentinischen Herrn zu suchen, an welchen ihm sein Beschützer von Boca eine Visitenkarte mit einigen empfehlenden Worten übergeben hatte. Als er in Rosario eintrat, glaubte er in eine schon bekannte Stadt zu kommen. Es waren die gleichen endlosen, geraden Straßen, mit niedrigen, weißen Häusern zu beiden Seiten, über die Dächer liefen in allen Richtungen Telegraphen- und Telephondrähte, die wie ungeheure Spinnengewebe aussahen; es war ein großer Lärm von Leuten, Pferden, Wagen. Sein Sinn verwirrte sich und er glaubte fast, wieder in Buenos Aires zu sein und nochmals den Vetter suchen zu müssen. Er ging fast eine Stunde lang herum, wandte sich dahin und dorthin, und glaubte immer, in die gleiche Straße zurückzukehren; durch vieles Fragen fand er endlich das Haus seines neuen Beschützers. Er zog die Glocke. An der Türe zeigte sich ein großer, blonder, mürrischer Mann, der das Aussehen eines Verwalters hatte, und fragte ihn unhöflich, mit fremder Betonung: – Zu wem willst du?
Der Knabe nannte den Namen des Herrn.
– Der Herr, – antwortete der Verwalter, – ist gestern abend mit der ganzen Familie nach Buenos Aires abgereist.
Dann stammelte er: – Aber ich … ich habe niemand hier! Ich bin allein! – Und er überreichte die Karte.
Der Verwalter nahm sie, las und sagte mürrisch: – Ich kann nicht helfen. Ich werde sie ihm in einem Monat übergeben, wenn er zurück sein wird.
– Aber ich, ich bin allein! ich bin bedürftig! – rief der Knabe mit bittender Stimme.
Das geht mich nichts an, – sagte der andere; – ist noch nicht genug Gesindel aus deinem Lande in Rosario! Mach daß du fortkommst und bettle in Italien. – Und er schloß ihm das Gitter vor der Nase zu. Der Knabe blieb wie versteinert stehen.
Dann nahm er langsam seinen Sack und entfernte sich mit gepreßtem Herzen, und in seiner Aufregung von tausend ängstlichen Gedanken geplagt. Was thun? wohin gehen? Von Rosario nach Cordova war es eine Tagereise mit der Eisenbahn. Er hatte nur noch einige Lire. Nach Abzug dessen, was er diesen Tag brauchte, blieb ihm fast nichts mehr. Wo das Geld finden, um die Reise zu bezahlen? Er konnte arbeiten! Aber wie, wen um Arbeit bitten? Betteln? Ach nein! fortgewiesen, beschimpft, gedemütigt werden wie vorhin, nein, nie, nie mehr, lieber sterben! – Und bei diesem Gedanken und beim Wiederanblick der langen Straße, die sich in der grenzenlosen Ebene verlor, fühlte er, wie ihn der Mut neuerdings verließ; er warf den Sack aufs Trottoir, setzte sich darauf, mit dem Rücken an der Mauer, und verbarg das Gesicht in den Händen ohne zu weinen, in stummer Verzweiflung.
Die vorübergehenden Leute stießen ihn mit den Füßen; der Lärm der Wagen erfüllte die Straßen; einige Knaben standen still, um ihn zu betrachten. So blieb er eine Zeitlang sitzen.
Plötzlich wurde er durch eine Stimme aufgeschreckt, durch eine Stimme, die ihn auf italienisch und lombardisch fragte: – Was hast du, Büblein?
Bei diesen Worten hob er das Gesicht und sofort sprang er auf die Füße, indem er einen Ruf der Verwunderung ausstieß: – Ihr hier?
Es war der alte lombardische Bauer, mit dem er auf der Reise Freundschaft geschlossen hatte.
Die Verwunderung des Bauern war nicht kleiner als die seine. Aber der Knabe ließ ihm keine Zeit ihn zu befragen und erzählte ihm mit großer Schnelligkeit seine Erlebnisse. – Nun bin ich ohne Geld; ich muß arbeiten; sucht mir Arbeit, damit ich einige Lire zusammenbringen kann; ich kann alles thun; Sachen tragen, die Straßen kehren, Aufträge besorgen, auch auf dem Felde arbeiten; ich bin zufrieden, wenn ich nur Schwarzbrot bekomme; wenn ich nur bald abreisen kann, wenn ich nur einmal meine Mutter finden kann; erweist mir die Gefälligkeit; Arbeit, sucht mir Arbeit; um Gotteswillen, sonst bin ich verloren!
– Zum Kuckuck, ja! – sagte der Bauer, umherschauend und sich am Kinn kratzend. – Was für Geschichten sind das! … Arbeiten … ist bald gesagt. Laß sehen! Ob's nicht möglich wäre, unter so vielen Landsleuten dreißig Lire zu finden?
Der Knabe betrachtete ihn, gestärkt von einem Hoffnungsstrahl.
– Komm mit, – sagte ihm der Bauer.
– Wohin? fragte der Knabe, indem er seinen Sack ergriff.
– Komm mit.
Der Bauer ging, Marco folgte ihm, sie durchschritten mit einander ein langes Stück Weges, ohne zu sprechen. Der Bauer hielt an der Türe einer Schenke, welche als Schild einen Stern hatte, um den geschrieben stand: – La estrella de Italia; – er streckte den Kopf hinein und sich gegen den Knaben kehrend, sagte er heiter: – Wir kommen im rechten Augenblicke. – Sie traten in ein großes Zimmer, wo mehrere Tische waren, um die viele Männer saßen, welche tranken und laut sprachen. Der alte Lombarde näherte sich dem ersten Tische und aus der Weise, wie er die sechs Gäste, welche rings herum saßen, grüßte, sah man, daß er bis kurz vorher in ihrer Gesellschaft gewesen war. Sie waren rot im Gesichte und ließen die Gläser klingen, indem sie laut sprachen und lachten.
– Kameraden, – sagte ohne weiteres der Lombarde, indem er Marco vorstellte, – hier ist ein armer Knabe, unser Landsmann, der allein von Genua nach Buenos Aires gekommen ist, um seine Mutter zu suchen. In Buenos Aires sagten sie zu ihm: – Sie ist nicht hier, sie ist in Cordova. – Er kommt in einer Barke nach Rosario, drei Tage und vier Nächte, mit zwei Zeilen Empfehlung; er übergiebt die Karte: man schneidet ihm eine Grimasse. Er besitzt nicht einen armen Centesimo. Er ist hier allein wie ein Verzweifelter. Und ein Knabe von Herz! Laßt einmal sehen! sollten wir nicht soviel zusammenbringen, um das Billet nach Cordova zu bezahlen, damit er seine Mutter aufsuchen kann.? Sollen wir ihn wie einen Hund hier lassen?
– Nie und nimmer, bei Gott nein! – Niemand wird so etwas sagen wollen! – schrien alle mit einander, indem sie mit den Fäusten auf den Tisch schlugen. – Unser Landsmann! – Komm hieher, Kleiner! – Wir sind's, die Auswanderer! – Sieh welch schöner Junge! Heraus mit den Centesimi, Kameraden! – Bravo! Allein gekommen! Du hast Herz! – Trink einen Schluck, Landsmann! – Wir werden dich deiner Mutter schicken, glaub's nur. – Und der eine kniff ihm in die Wange, ein anderer legte ihm die Hand auf die Schulter, ein dritter nahm ihm den Sack ab; andere Auswanderer erhoben sich von den benachbarten Tischen und näherten sich; die Geschichte des Knaben machte die Runde in der ganzen Schenke; aus dem anstoßenden Zimmer kamen zwei argentinische Gäste herbei; in weniger als zehn Minuten hatte der lombardische Bauer, der den Hut hinhielt, zweiundvierzig Lire darin. – Hast du gesehen, sagte er hierauf, indem er sich zu dem Knaben wandte, – wie schnell es geht in Amerika? – Trink! – rief ihm ein anderer zu, indem er ihm ein Glas Wein reichte: – Auf die Gesundheit deiner Mutter! – Alle erhoben die Gläser. – Und Marco wiederholte: Auf die Gesundheit meiner … – Aber ein Freudenschluchzen schloß ihm die Kehle und er stellte das Glas wieder auf den Tisch und warf sich an den Hals seines Alten.
Am folgenden Morgen bei Tagesanbruch war er schon nach Cordova abgereist, kühn und lachend, voll von glücklichen Vorahnungen. Aber es giebt keine Heiterkeit, die bei einem widrigen Aussehen der Natur anzuhalten vermag. Das Wetter war dumpf und grau; der Zug, fast leer, flog durch eine ungeheure Ebene, die gänzlich unbewohnt war. Marco befand sich allein in einem großen, sehr langen Wagen, der mit denjenigen für die Verwundeten Ähnlichkeit hatte. Er blickte nach rechts, er blickte nach links und sah nichts als eine Einöde ohne Grenzen, auf welcher kleine, unförmliche Bäume mit verkrüppelten Stämmen und Zweigen vereinzelt standen, in Stellungen, wie er sie nie gesehen hatte, fast wie zornig und ängstlich; eine dunkle, spärliche und traurige Vegetation, welche der Ebene das Aussehen eines endlosen Kirchhofes gab. Er schlummerte eine halbe Stunde und sah wieder hin: es war immer das gleiche Schauspiel. Die Stationen der Eisenbahn waren öde wie Einsiedlerhütten; und wenn der Zug anhielt, hörte man keinen Laut; er kam sich allein vor in dem Eisenbahnzuge, verloren und verlassen inmitten einer Wüste. Er glaubte bei jeder Station, es sei die letzte und nach dieser komme das geheimnisvolle, fürchterliche Land der Wilden. Eine eisigkalte Luft blies ihm in das Gesicht. Als er sich in Genua Ende April einschiffte, dachten die Seinigen nicht, daß er in Amerika den Winter finden könnte und hatten ihn sommerlich gekleidet. Nach einigen Stunden begann er unter der Kälte zu leiden und mit der Kälte die Müdigkeit der vergangenen Tage mit ihren heftigen Aufregungen, und der schlaflosen und aufreibenden Nächte zu spüren. Er schlief ein, schlief lange Zeit, erwachte, von der Kälte starr und steif geworden; er fühlte sich unwohl. Und dann ergriff ihn eine unbestimmte Angst krank zu werden und während der Reise zu sterben, und mitten in diese öde, trostlose Ebene geworfen zu werden, wo sein Leichnam von Hunden und Raubvögeln zerfleischt würde, wie die Körper von Pferden und Kühen, die er hie und da in der Nähe der Bahn sah, und von welchen er den Blick mit Schaudern abwandte. Das Unwohlsein vermehrte seine Unruhe und durch die düstere Stille der Natur regte sich seine Einbildung auf und verlor sich ins Unendliche. War er gewiß, in Cordova seine Mutter zu finden? Und wenn sie nicht dort wäre? Wenn sich jener Herr in der »Straße der Künste« geirrt hätte? Und wenn sie tot wäre? Mit diesen Gedanken schlief er wieder ein, träumte er sei in Cordova und man rufe ihm aus allen Türen, aus allen Fenstern zu: – Sie ist nicht da! Sie ist nicht da! Sie ist nicht da! – er erwachte erschreckt und sprang bestürzt in die Höhe, und sah hinten im Wagen drei bärtige Männer, in buntfarbige Shawls eingewickelt, welche ihn betrachteten und unter einander mit leiser Stimme sprachen; es blitzte in ihm der Verdacht auf, es seien Mörder, die ihn töten wollten, um ihm den Sack zu stehlen. Zu der Kälte, zum Unwohlsein gesellte sich noch die Furcht; die schon erregte Phantasie überschritt die Grenzen; – die drei Männer betrachteten ihn immer, – einer von ihnen ging auf ihn zu; – fast verlor er die Besinnung, und, ihm mit erhobenen Armen entgegenlaufend, schrie er: – Ich habe nichts. Ich bin ein armer Knabe. Ich komme aus Italien und gehe, um meine Mutter zu suchen, ich bin allein; thut mir nichts zu leide! – Jene verstanden ihn sofort und hatten Mitleid mit ihm, liebkosten und beruhigten ihn, indem sie viele Worte zu ihm sagten, die er nicht verstand; da sie sahen, daß er vor Kälte mit den Zähnen klapperte, legten sie ihm einen ihrer Shawls um und hießen ihn wieder sitzen, damit er schliefe. Er schlief wieder ein, als es dunkelte. Als sie ihn wieder weckten, war er in Cordova.
Ah! wie er aufatmete und mit welchem Ungestüm er aus dem Wagen sprang! Er fragte einen Angestellten des Bahnhofs wo der Ingenieur Mequinez wohne: dieser nannte ihm den Namen einer Kirche: – das Haus war in der Nähe der Kirche; – der Knabe machte sich fort. Es war Nacht. Er gelangte in die Stadt und glaubte ein zweites Mal in Rosario einzutreten, als er diese geraden Straßen sah, zu deren beiden Seiten kleine, weiße Häuser standen und die von andern geraden, sehr langen Straßen durchschnitten waren. Aber es waren wenig Leute in den Straßen, und bei dem Schein der wenigen Laternen traf er auf fremde Gesichter von einer unbekannten Farbe zwischen schwarz und grün, und wenn er das Gesicht hie und da erhob, sah er Kirchen von bizarrer Bauart, die sich ungeheuer groß und schwarz vom Firmament abhoben. Die Stadt war düster und still; aber nachdem er diese ungeheure Wüste passiert, erschien sie ihm freundlich. Er befragte einen Priester, fand bald die Kirche und das Haus, zog mit zitternder Hand am Glockenzug und drückte die andere auf den Busen, um sein klopfendes Herz, das ihm zu zerspringen drohte, zu beschwichtigen.
Eine Alte, mit einem Licht in der Hand, kam um zu öffnen.
Der Knabe konnte nicht sofort sprechen.
– Wen suchst du? – fragte jene auf spanisch.
– Den Ingenieur Mequinez, – sagte Marco.
Die Alte kreuzte die Arme auf die Brust und antwortete, indem sie den Kopf schüttelte: – Auch du also willst zu dem Ingenieur Mequinez! Es scheint mir, es wäre bald Zeit, daß dieß aufhörte. Nun sind es drei Monate, daß sie uns hier belästigen. Es genügt nicht, daß es in den Zeitungen stand. Man wird es auf die Straßenecken drucken müssen, daß der Herr Mequinez in Tucuman wohnt!
Der Knabe machte eine Bewegung der Verzweiflung. Dann brach er in einen zornigen Ausruf aus. – Es ist wie ein Fluch! Ich muß noch auf der Straße sterben, ohne meine Mutter zu finden! Ich werde verrückt, tötet mich lieber. Mein Gott! Wie heißt jene Stadt? Wo ist sie? Wie weit ist's?
– Nun, armer Junge, – antwortete die Alte mitleidig, so arg weit nicht! Es werden etwa vier oder fünfhundert Meilen sein, um wenig zu sagen.
Der Knabe bedeckte sich das Gesicht mit beiden Händen; dann sagte er schluchzend: – Und jetzt … was soll ich thun?
– Was soll ich dir sagen, armer Kleiner, – antwortete die Frau. – Ich weiß es nicht.
Aber plötzlich fuhr ihr ein Gedanke durch den Kopf und sie sagte eilig: – Höre, es kommt mir etwas in den Sinn. Ich weiß etwas. Geh dort hinüber, rechts von der Straße; an der dritten Türe wirst du einen Hof finden; dort ist ein »Capataz«, ein Kaufmann, der morgen mit seinen Wagen und seinen Ochsen nach Tucuman abreist; gehe und sieh, ob er dich nimmt, wenn du ihm deine Dienste anbietest; er giebt dir vielleicht einen Platz auf einem Wagen; gehe schnell.
Der Knabe ergriff den Sack, dankte im Forteilen und nach zwei Minuten befand er sich in einem großen, von Laternen erleuchteten Hofe, wo mehrere Männer beschäftigt waren, Fruchtsäcke auf enorme Wagen zu laden, die mit ihrem runden Dache und ihren sehr hohen Rädern den fahrenden Häusern der Seiltänzer ähnlich waren. Ein großer schnurrbärtiger Mann, in eine Art weiß und schwarz gewürfelten Mantel und große Stiefeln gekleidet, leitete die Arbeit. Der Knabe näherte sich diesem und brachte furchtsam seine Frage vor, indem er sagte, er komme aus Italien und suche seine Mutter.
Der Capataz, was heißen will Meister (der Hauptanführer der Karawane), betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen und antwortete trocken: – Ich habe keinen Platz.
– Ich habe fünfzehn Lire, – antwortete der Knabe mit bittender Stimme; – ich gebe Ihnen meine fünfzehn Lire. Während der Reise werde ich arbeiten. Ich werde Wasser schöpfen und das Vieh füttern, ich will alle Dienste verrichten. Ein wenig Brot genügt mir. Bitte, geben Sie mir doch einen Platz, mein Herr!
Der Capataz betrachtete ihn wieder und antwortete mit größerer Freundlichkeit: – Es ist kein Platz … und dann … wir gehen nicht nach Tucuman, wir gehen in eine andere Stadt, nach Santiago dell' Estero. Irgendwo unterwegs müßten wir dich allein lassen, und du hättest noch ein großes Stück zu Fuß zu machen.
– Ach! ich würde das Doppelte machen! – rief Marco; ich werde gehen, denken Sie nicht an das; ich werde auf jede Weise ankommen; geben Sie mir ein Plätzchen, Herr, um Gotteswillen; um Gotteswillen, lassen Sie mich nicht allein hier!
– Bedenke, es ist eine Reise von zwanzig Tagen!
– Es thut nichts.
– Es ist eine harte Reise!
– Ich werde alles ertragen.
– Du wirst allein reisen müssen!
– Ich fürchte mich vor nichts, wenn ich nur meine Mutter finde. Haben Sie Mitleid.
Der Capataz hielt ihm eine Laterne vors Gesicht und betrachtete ihn. Dann sagte er: – Nun wohl.
Der Knabe küßte ihm die Hand.
– Diese Nacht wirst du in einem Wagen schlafen, – sagte der Capataz, indem er ihn verließ, – morgen früh um vier Uhr werde ich dich wecken. Buenas noches.
Morgens vier Uhr, beim Sternenlicht, setzte sich die lange Reihe der Wagen mit großem Lärm in Bewegung: jeder Wagen war von sechs Ochsen gezogen, dem Zuge folgte eine große Zahl von Tieren zum Wechseln. Der Knabe, in einem der Wagen halb erwacht, schlief auf den Säcken sofort wieder tief ein. Als er neuerdings erwachte, hielt der Zug an einem einsamen Orte, und alle die Männer – i peones – saßen im Kreise um das Viertel eines Kalbes, das in freier Luft an einem langen, in die Erde gepflanzten Spieße stak, bei einem großen Feuer, das vom Winde bewegt wurde. Sie aßen mit einander, schliefen und reisten dann weiter, und so wurde die Reise fortgesetzt, regelmäßig, wie ein militärischer Marsch. Jeden Morgen setzten sie sich um fünf Uhr in Bewegung, um neun Uhr wurde Halt gemacht, um fünf Uhr abends weitergereist und um zehn Uhr wieder Halt gemacht. Die Peones waren zu Pferde und trieben die Ochsen mit langen Stacheln. Der Knabe zündete das Feuer für den Braten an, gab dem Vieh zu fressen, reinigte die Laternen, trug das Trinkwasser herbei. Die Gegend zog an ihm vorüber, wie eine undeutliche Vision: weite Wälder mit kleinen braunen Bäumen; Dörfer mit wenigen zerstreuten Häusern, deren rote Vorderseiten mit Zinnen versehen waren; so weit das Auge reichte große Flächen, weiß wie von Salz, vielleicht alte Becken von großen Salzseen, und auf allen Seiten unaufhörlich Ebene, Einöde, Stille. Sehr selten trafen sie zwei oder drei Reisende zu Pferde an, welchen eine Herde lediger Pferde folgte, die wie ein Wirbelwind im Galopp vorübersausten. Die Tage waren sich ganz gleich wie auf dem Meere, unausstehlich und unendlich. Aber das Wetter war schön. Hingegen wurden die Peones, als ob der Knabe ihr verpflichteter Diener gewesen wäre, von Tag zu Tag anspruchsvoller: einige behandelten ihn brutal, mit Drohungen; alle ließen sich von ihm ohne Nachsicht bedienen; er mußte sehr schwere Lasten von Futter tragen; sie schickten ihn in große Entfernungen, um Wasser zu holen, und ganz übermüdet, wie er war, konnte er nicht einmal des Nachts schlafen und wurde fortwährend gestört von dem heftigen Rütteln des Wagens und von dem betäubenden Knarren der Räder und der hölzernen Achsen. Zum Überfluß erhob sich ein Wind; ein feiner, rötlicher Staub, der alle einhüllte, drang in den Wagen, kam ihm unter die Kleider, füllte ihm Augen und Mund, erschwerte ihm das Sehen und Atmen und wurde auf die Dauer unerträglich lästig. Von den Mühen und der Schlaflosigkeit überwältigt, zerrissen und schmutzig, ausgescholten und schlecht behandelt vom Morgen bis zum Abend kam der arme Knabe jeden Tag mehr herunter und er würde den Mut vollständig verloren haben, wenn nicht der Capataz ihm von Zeit zu Zeit einige gute Worte gegeben hätte. Oft weinte er ungesehen in einem Winkel des Wagens, das Gesicht begraben in seinem Sacke, der nur noch Lumpen enthielt. Jeden Morgen erhob er sich schwächer und mutloser, und indem er die Gegend betrachtete und immer diese unendliche und unerbittliche Ebene, wie einen Ocean aus Erde, sah, sagte er zu sich: – diesen Abend erlebe ich nicht! diesen Abend erlebe ich nicht! Heute sterbe ich auf dem Wege. Und die Mühen wuchsen, die schlechte Behandlung verdoppelte sich. Eines Morgens, da er sich beim Wassertragen verspätet hatte, schlug ihn einer der Männer in Gegenwart des Capataz. Und nun begannen sie ihn zum Spielzeug zu machen, und, wenn sie ihm einen Befehl erteilten, ihm auch eine Ohrfeige zu geben, mit den Worten: – Sack das ein, Vagabund! – Bring das deiner Mutter! – Das Herz brach ihm! er wurde krank; – er lag drei Tage im Wagen unter einer Decke, vom Fieber geschüttelt, und sah niemand außer dem Capataz, der kam, um ihm einen Trank zu reichen und ihm den Puls zu fühlen. Und nun glaubte er sich verloren und rief verzweifelt nach seiner Mutter, sie hundertmal beim Namen nennend: – O Mutter! Mutter! Hilf mir! Komm mir entgegen, denn ich sterbe! O meine arme Mutter, ich werde dich nie mehr sehen! Meine arme Mutter, du wirst mich tot auf der Straße finden! – Und er faltete die Hände auf der Brust und betete. Dann wurde es besser mit ihm, Dank der Sorge des Capataz, und er wurde gesund; aber mit der Genesung näherte sich auch der schrecklichste Tag seiner Reise, der Tag an dem er allein bleiben sollte. Seit mehr als zwei Wochen befanden sie sich unterwegs. Als sie auf dem Punkt waren, wo sich die Straße von Tucuman von derjenigen trennt, die nach Santiago dell' Estero geht, kündigte ihm der Capataz an, daß sie sich trennen müßten. Er gab ihm einige Aufklärungen über den Weg, band ihm den Sack so auf die Schultern, daß ihn derselbe im Gehen nicht hinderte, und mit kurzen Worten, als ob er fürchte gerührt zu werden, verabschiedete er sich. Der Knabe hatte kaum Zeit, ihm den Arm zu küssen. Auch die andern Männer, die ihn so grausam behandelt hatten, schienen ein wenig Mitleid zu empfinden, als sie ihn so allein weiterziehen sahen und winkten ihm ein Lebewohl zu, indem sie sich entfernten. Und er erwiderte den Gruß mit der Hand, und sah dem Zuge nach, bis er sich im roten Staube der Ebene verlor und dann setzte er traurig seinen Weg fort.
Eins jedoch tröstete ihn schon von Anfang an. Nach so vielen Tagen der Reise mitten durch die endlose und eintönige Ebene sah er nun eine mächtige, hohe, blaue Kette von Bergen mit weißen Gipfeln vor sich, die ihn an die Alpen erinnerte und das gab ihm fast das Gefühl, als ob er sich wieder der Heimat nähere. Es waren die Anden, der Rückgrat des amerikanischen Kontinentes, die ungeheure Kette, die sich vom Feuerland bis zum Eismeer des arktischen Poles durch einhundertundzehn Breitengrade hinstreckt. Und auch das tröstete ihn, daß die Luft immer wärmer wurde; dies rührte davon her, daß er, immer mehr gegen Norden wandernd, sich der tropischen Zone näherte. In großen Entfernungen stieß er auf kleine Häusergruppen mit einem schmutzigen Laden, wo er etwas zu essen kaufte. Er traf Männer zu Pferde an, sah sehr oft Frauen und Kinder unbeweglich und ernst, mit ganz fremden Gesichtern, erdfarbig, mit schiefen Augen und vorstehenden Backenknochen, auf der Erde sitzend; sie betrachteten ihn steif und verfolgten ihn mit dem Blicke, indem sie den Kopf langsam drehten wie Automaten. Es waren Indianer. Den ersten Tag ging er, bis ihn die Kräfte verließen; dann schlief er unter einem Baume. Den zweiten Tag reiste er viel weniger weit und mit geringerem Mute. Die Schuhe waren zerrissen, die Füße wund, der Magen von der schlechten Nahrung entkräftet. Gegen Abend bemächtigte sich seiner die Furcht. Er hatte in Italien sagen hören, in diesem Lande gebe es Schlangen: er glaubte sie schleichen zu hören, stand still, setzte den Marsch fort, kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Hie und da ergriff ihn ein großes Mitleid mit sich selbst, und er weinte still, indem er sich fortschleppte. Dann dachte er wieder: – O wie würde meine Mutter leiden, wenn sie wüßte, wie sehr ich mich fürchte! – und dieser Gedanke gab ihm wieder Mut. Dann, um die Furcht zu verscheuchen, dachte er an sie, erinnerte sich an ihre Worte, als sie von Genua abreiste, und an die gewohnte Bewegung, mit der sie ihm die Decken unter dem Kinn zurecht legte, wenn er im Bette lag, und wie sie ihn, als er noch Kind war, oft in die Arme schloß und zu ihm sagte: – Bleibe ein wenig hier, bei mir – und wie er lange so blieb, seinen Kopf an den ihrigen gelehnt und nachdachte. Und jetzt sagte er bei sich selber: – Werde ich dich eines Tages wiedersehen, liebe Mutter? Komme ich am Ziel meiner Reise an, Mutter? – Und er ging weiter, immer weiter, mitten durch unbekannte Wälder, durch große Zuckerplantagen, durch Prairien die kein Ende nahmen, immer die großen blauen Berge vor sich, die mit ihren unermeßlich hohen Spitzen in den Himmel hineinragten. Vier Tage – fünf – eine Woche ging vorüber. Seine Kräfte nahmen immer mehr ab, seine Füße bluteten. Endlich, eines Abends, als die Sonne unterging, sagten sie ihm: – Tucuman ist fünf Meilen von hier. – Er stieß einen Freudenschrei aus und beflügelte den Schritt, als ob er in einem Augenblick die verlorene Kraft wieder gewonnen hätte. Allein es war eine kurze Täuschung. Die Kräfte verließen ihn plötzlich, und er fiel gänzlich erschöpft am Rand eines Grabens nieder. Aber das Herz klopfte ihm vor Freude. Der mit glänzend leuchtenden Sternen dicht besäte Himmel war ihm nie so schön vorgekommen. Er betrachtete sie, zum Schlafe auf das Gras hingestreckt, und dachte, daß vielleicht zu gleicher Zeit auch seine Mutter dieselben betrachte. Und er sagte: – O Mutter, wo bist du? was machst du in diesem Augenblick? Denkst du an deinen Sohn? Denkst du an deinen Marco, der so nahe bei dir ist?
Armer Marco, hättest du sehen können, in welchem Zustand sich deine Mutter in diesem Augenblick befand, du hättest eine übermenschliche Anstrengung gemacht, um weiter zu gehen, um einige Stunden früher bei ihr anzukommen. Sie lag krank im Bette, in einem Parterrezimmer eines vornehmen Häuschens, wo die Familie Mequinez wohnte; diese hatte sie sehr lieb gewonnen und ließ ihr alle Sorgfalt angedeihen. Die arme Frau war schon kränklich, als der Ingenieur Mequinez unerwartet von Buenos Aires abreisen mußte und hatte sich auch in der guten Luft von Cordova nicht wieder erholt. Als sie dann aber auch keine Antwort mehr auf ihre Briefe weder von ihrem Manne noch vom Vetter erhielt, ergriff sie eine immer lebendigere Ahnung eines großen Unglücks, das die Ihrigen betroffen. Die fortwährende Bangigkeit, in der sie lebte, die Ungewißheit, ob sie abreisen oder bleiben solle, jeden Tag die quälende Furcht, eine unglückliche Nachricht zu bekommen: alles das hatte ihren Zustand über die Maßen verschlimmert. In letzter Zeit hatte sich eine sehr schwere Krankheit eingestellt: eine Darmentzündung. Seit vierzehn Tagen lag sie im Bette. Um ihr Leben zu retten, war eine chirurgische Operation notwendig. In derselben Stunde, als ihr Marco sie anrief, standen der Herr und die Herrin des Hauses an ihrem Bette und suchten sie mit vieler Sanftmut zu überreden, daß sie sich operieren lasse, aber sie bestand weinend auf ihrer Weigerung. Ein tüchtiger Arzt von Tucuman war schon in der vorigen Woche gekommen, vergebens. – Nein, liebe Herren, – sagte sie, es nützt nichts, ich habe nicht mehr die nötige Kraft; ich würde unter den Messern des Chirurgen verscheiden. Lassen Sie mich lieber so sterben. Alles ist ja zu Ende für mich. Es ist besser ich sterbe, bevor ich erfahre, was meiner Familie widerfahren ist. – Und die Herrschaft suchte sie immer auf andere Gedanken zu bringen, sie solle Mut fassen, sie werde auf den letzten, direkt nach Genua geschickten Brief Antwort erhalten, sie solle sich operieren lassen, ihren Söhnen zu Liebe. Aber der Gedanke an ihre Söhne vergrößerte nur die Angst und die tiefe Entmutigung, die sie seit langer Zeit niederdrückten. Bei jenen Worten brach sie in Weinen aus. – O meine Kinder! meine Söhne! – rief sie aus, die Hände faltend; – vielleicht sind sie nicht mehr! Es ist besser, auch ich sterbe. Ich danke Ihnen, gute Herren, ich danke Ihnen von Herzen. Aber es ist besser, ich sterbe. Ich würde auch nach der Operation nicht mehr genesen, ich bin dessen gewiß. Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Fürsorge, liebe Herren. Es ist unnütz, daß übermorgen der Arzt wieder komme. Ich will sterben. Es ist nun einmal bestimmt, daß ich hier sterben muß und ich bin bereit dazu. Aber jene fuhren fort, sie zu trösten und immer zu wiederholen: – Nein, sagt doch das nicht; – und nahmen sie bei der Hand und hörten nicht auf, sie zu bitten. Aber dann schloß sie erschöpft die Augen und fiel in einen todesähnlichen Schlummer. Und die Herrschaft blieb beim spärlichen Schein eines Lichtchens eine Zeitlang da und betrachtete mit großem Mitgefühl diese bewunderungswürdige Mutter, die ihre Familie zu retten hieher gekommen war, sechstausend Meilen von ihrer Heimat entfernt, um zu sterben, nachdem sie so viel ausgestanden, die arme, ehrliche, gute und unglückliche Frau.
Am frühen Morgen des folgenden Tages trat Marco, mit seinem Sack auf den Schultern, gebeugt und hinkend, aber voll Mut in die Stadt Tucuman, eine der jüngsten und blühendsten Städte der Republik Argentinien. Er glaubte Cordova, Rosario, Buenos Aires wieder zu sehen: es waren dieselben geraden und endlosen Straßen, dieselben niedrigen und weißen Häuser; aber überall eine frische und prächtige Vegetation, eine balsamisch duftende Luft, ein wunderbares Licht, ein heller und klarer Himmel, wie er ihn nie gesehen hatte, nicht einmal in Italien. Durch die Straßen schreitend, fühlte er wieder die fieberhafte Aufregung, die ihn in Buenos Aires ergriffen hatte; er betrachtete die Fenster und Türen aller Häuser; betrachtete alle Frauen, die vorübergingen, in der ängstlichen Hoffnung seine Mutter anzutreffen; er hätte alle fragen mögen und wagte nicht jemand anzuhalten. Alle, die unter den Türen standen, drehten sich, um diesen armen, zerrissenen und bestäubten Knaben, der dem Anscheine nach aus weiter Ferne kam, zu betrachten. Und er suchte unter den Leuten ein Gesicht, das ihm Vertrauen einflößte, um wieder jene schreckliche Frage zu stellen, als sein Auge auf ein Schild über einem Laden fiel, auf dem ein italienischer Name geschrieben stand. Drinnen war ein Mann mit einer Brille und zwei Frauen. Er näherte sich langsam der Türe, und als er entschlossen Mut gefaßt hatte, fragte er: – Könnten Sie mir sagen, mein Herr, wo die Familie Mequinez wohnt?
– Der Ingeniero Mequinez? – fragte der Krämer seinerseits.
– Der Ingenieur Mequinez, – antwortete der Knabe mit leiser Stimme.
– Die Familie Mequinez, – sagte der Krämer, – ist nicht in Tucuman.
Ein verzweifelter Schmerzensschrei, wie von einem zu Tode getroffenen Menschen, war die Antwort auf diese Worte.
Der Krämer und die Frauen fuhren zusammen, einige Nachbarn sprangen herbei. – Was ist? was hast du, Knabe? – sagte der Krämer, indem er ihn in den Laden zog und ihn sitzen hieß; – da ist nichts zum Verzweifeln! Die Mequinez sind nicht hier, aber nicht weit, wenige Stunden von Tucuman!
– Wo? wo? – schrie Marco, wie ein Auferweckter emporspringend.
– Nur fünfzehn Meilen von hier, – fuhr der Mann fort, – am Ufer des Saladillo, wo sie eine große Zuckerfabrik bauen, ein Häufchen Häuser; dort ist das Haus des Herrn Mequinez, jedermann kennt es, du kannst in einigen Stunden dort sein.
– Ich bin vor einem Monat dort gewesen, sagte ein junger Mann, der auf den Schrei herbeigeeilt war.
Marco betrachtete ihn mit großen Augen und fragte ihn hastig und erbleichend: – Habt Ihr die Dienstfrau des Herrn Mequinez, die Italienerin, gesehen?
– Die Genueserin? Ich habe sie gesehen.
Marco brach in krampfhaftes Schluchzen aus, halb Lachen und halb Weinen. Dann rief er mit ungestümer und heftiger Entschlossenheit: – Wo ist der Weg, – schnell – die Straße – ich gehe sofort, zeigt mir die Straße!
– Aber du brauchst einen ganzen Tag bis dorthin, – sagten sie alle miteinander, – du bist müde, mußt ausruhen; du kannst morgen in der Frühe abreisen. – Unmöglich! Unmöglich! antwortete der Knabe. – Sagt mir, wohinaus es geht, ich warte keinen Augenblick, ich mache mich sofort auf, sollte ich auch auf der Straße sterben müssen!
Da sie ihn unerschütterlich sahen, widersetzten sie sich nicht mehr. – Gott begleite dich, – sagten sie zu ihm. – Gieb acht auf die Straße durch den Wald. – Glückliche Reise, du kleiner Italiener! – Ein Mann begleitete ihn vor die Stadt, zeigte ihm den Weg, gab ihm einige Ratschläge und schaute ihm nach, um ihn dahin wandern zu sehen. Nach wenigen Minuten verschwand der hinkende Knabe, mit dem Sack auf den Schultern, hinter den dichten Bäumen, die zu beiden Seiten der Straße standen.
Diese Nacht war schrecklich für die arme Kranke. Sie hatte so gräßliche Schmerzen, daß ihr Schreien einem das Herz brechen wollte und dann bekam sie heftige Fieberanfälle. Die Frauen, die ihr beistanden, verloren den Kopf. Die Herrin lief von Zeit zu Zeit ebenfalls ganz verzweifelt herbei. Alle begannen zu fürchten, daß, wenn sie sich jetzt auch zur Operation entschlösse, der auf den folgenden Morgen erwartete Arzt zu spät kommen würde. In den Augenblicken, in denen das Fieber nachließ, sah man immerhin, daß ihre schrecklichen Qualen nicht die des Körpers, sondern der Gedanke an ihre ferne Familie war. Abgezehrt, zu Grunde gerichtet, mit ganz entstelltem Gesichte raufte sie sich die Haare in herzzerreißender Verzweiflung und schrie: – Mein Gott! Mein Gott! So weit weg sterben, sterben ohne sie wieder zu sehen! Meine armen Söhne, die ohne Mutter bleiben, meine lieben Kinder, mein armes Blut! Mein Marco, der noch so klein ist, nur so hoch, so gut und so liebreich. Ihr wißt nicht, was für ein Knabe es war! Ach liebe Frau, wenn Sie wüßten! Ich konnte ihn nicht vom Halse reißen, als ich abreiste, er schluchzte zum Herzbrechen, als wisse er, daß er seine Mutter nicht mehr sehen würde, armer Marco, mein armes Kind! Ich glaubte das Herz müsse mir zerspringen. Ach, wäre ich damals gestorben, gestorben als er mir lebewohl sagte! Mutterlos, armes Kind, er, der mich so sehr liebte, der mich so sehr nötig hatte; ohne Mutter, im Elend, wird er betteln gehen müssen; er, Marco, mein Marco, wird hungrig die Hand ausstrecken müssen! O! Ewiger Gott! Nein! Ich will nicht sterben! Den Arzt! Ruft ihn sogleich! Er soll kommen, er soll mich zerschneiden, er bringe mich um den Verstand, wenn er mir nur das Leben rettet! Ich will genesen, ich will leben, abreisen, fliehen, morgen, sofort! Den Arzt! Hilfe! Hilfe! – Und die Frauen hielten sie bei den Händen, liebkosten sie, baten sie und brachten sie nach und nach wieder zu sich, und sprachen ihr von Gott und Hoffnung. Und alsdann fiel sie in eine tödliche Niedergeschlagenheit, weinte, die Hände in den grauen Haaren, seufzte wie ein kleines Kind, langgezogene Klagen ausstoßend und von Zeit zu Zeit murmelnd: – O mein Genua! Mein Haus! Das schöne Meer! … O mein Marco, mein armer Marco! Wo bist du jetzt, mein armes Kind?
Es war Mitternacht; und ihr armer Marco, nachdem er mehrere Stunden halb erschöpft am Rande eines Grabens zugebracht hatte, ging mitten durch einen Urwald. Riesige Bäume, wahre Pflanzenkolosse ragten gleich Pfeilern einer Kathedrale in die Höhe und schlangen ihre gewaltigen, vom Mondlicht bestrahlten Kronen ineinander. Im Halbdunkel erblickte er Stämme von allen möglichen Formen; die einen waren gerade, andere gebogen, krumm, gekreuzt und sahen drohend und kampfbereit aus; einige lagen auf der Erde wie umgestürzte Säulen; sie waren von üppigen Schlingpflanzen überwuchert und umstrickt. Dann gab es wieder ganze Gruppen von Bäumen mit senkrecht emporstrebenden Stämmen, wie Bündel riesiger Lanzen, deren Spitzen die Wolken zu berühren schienen. Es war eine großartige Pracht, ein Labyrinth von fremdartigen Gewächsen, das schauerlichste und erhabenste Schauspiel, das ihm die Pflanzenwelt je dargeboten. Manchmal überfiel es ihn wie großer Schrecken. Aber sofort wandte sich seine Seele nach der Mutter. Und er ging erschöpft, mit blutenden Füßen allein inmitten dieses ungeheuern Waldes, wo er nur in großen Entfernungen kleine menschliche Wohnungen erblickte, die zu Füßen dieser Bäume wie Ameisenhaufen aussahen, und einige Büffelochsen, welche am Wege schliefen; er war erschöpft, aber er fühlte die Müdigkeit nicht; er war allein, aber er fürchtete sich nicht. Die Größe des Waldes machte auch seine Seele größer; die Nähe seiner Mutter gab ihm die Kraft und Beherztheit eines Mannes; die Erinnerung an den Ocean, an die Schrecken, die erduldeten und überwundenen Schmerzen, die ausgestandenen Mühen, die eiserne, von ihm bewiesene Beharrlichkeit ließen sein starkes, edles, genuesisches Blut wärmer zum Herzen strömen und ihn mit Stolz und Kühnheit die Stirne erheben. Und etwas anderes erfolgte in ihm: während bisher, durch die zwei Jahre lange Abwesenheit seiner Mutter, ihr Bild in seinem Gedächtnis etwas dunkel geworden und verblaßt war, so wurde ihm dieses Bild in jenen Momenten hell; er sah ihr Gesicht ganz und ungetrübt, wie er es seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte; er sah sie in der Nähe, verklärt, sprechend; er sah die flüchtigsten Bewegungen ihrer Augen und ihrer Lippen, ihre Haltung, alle ihre Bewegungen, alle Schatten ihrer Gedanken; und von diesen unvergeßlichen Erinnerungen getrieben, beflügelte er den Schritt; und eine Liebe, eine unsägliche Zärtlichkeit wuchs in ihm, wuchs in seinem Herzen, daß ihm süße und ruhige Thränen über das Gesicht herunter flossen; und indem er in der Finsternis vorwärts schritt, sprach er zu ihr, sagte ihr die Worte, die er ihr in kurzem ins Ohr flüstern wollte: – Ich bin da, liebe Mutter, hier bin ich, – ich werde dich nie mehr verlassen; wir kehren mit einander nach Hause zurück und ich bleibe auf dem Schiffe immer in deiner Nähe, an dich geschmiegt, und keiner wird mich mehr von dir reißen, keiner, nie, nie mehr, so lange du leben wirst! – Und darob bemerkte er nicht, daß auf den Gipfeln der riesigen Bäume das silberne Licht des Mondes im sanften Morgenrot erstarb.
Schon um acht Uhr dieses Morgens war der Arzt von Tucuman, – ein junger Argentinier, – mit einem Assistenten am Bette der Kranken, um zum letztenmal zu versuchen, ob er sie dazu bringen könne, die Operation vornehmen zu lassen; mit ihm vereinigten ihre heißesten Bitten der Ingenieur Mequinez und seine Gemahlin. Aber alles war vergeblich. Von ihren Kräften verlassen, hatte die Frau keinen Glauben mehr an die Operation; sie war gewiß, entweder sogleich zu sterben, oder nur wenige Stunden zu leben, nachdem sie umsonst schrecklichere Schmerzen gelitten hatte, als die, welche sie auf natürlichem Wege töten sollten. Der Arzt mochte ihr noch so oft wiederholen: – Aber die Operation ist ja sicher – Eure Rettung ist gewiß, wenn Ihr nur ein wenig Mut habt. Und ebenso sicher ist Euer Tod, wenn Ihr Euch weigert! – Es waren vergebliche Worte. – Nein, – antwortete sie mit leiser Stimme, zu sterben habe ich noch den Mut, aber ich habe ihn nicht mehr, unnütz zu leiden. Dank, Herr Doktor. Es ist so bestimmt. Lassen sie mich ruhig sterben. – Der Arzt drang nicht mehr in sie. Niemand sprach mehr. Nun wandte die Frau das Gesicht gegen die Herrin und brachte mit sterbender Stimme ihre letzten Bitten vor. – Liebe, gute Frau, – sagte sie mühsam und schluchzend, – Sie werden das wenige Geld und meine geringe Habe meiner Familie schicken … durch den Herrn Konsul. Ich hoffe, alle seien am Leben. Mein Herz sagt es mir in diesen letzten Augenblicken. Sie thun mir den Gefallen zu schreiben, … daß ich immer an sie gedacht habe, daß ich immer für sie gearbeitet habe … für meine Söhne … und daß mein einziger Schmerz der war, sie nicht mehr zu sehen … aber daß ich mutig gestorben bin … ergeben … sie segnend; und daß ich meinem Manne … und meinem größern Sohne … den kleinsten, meinen armen Marco … den ich bis zum letzten Augenblicke im Herzen getragen habe … empfehle. – Und sich plötzlich erhebend, schrie sie, indem sie die Hände faltete: – Mein Marco! Mein Kind! Mein Leben! … – Aber als sie die thränenvollen Augen herumschweifen ließ, bemerkte sie, daß die Herrin nicht mehr da war: man hatte sie heimlich hinausgerufen. Sie suchte den Herrn, er war verschwunden. Es war niemand mehr da als der Assistent und die beiden Krankenwärterinnen. Man hörte im benachbarten Zimmer ein eiliges Geräusch von Schritten, das Murmeln von leisen, gedämpften Stimmen und unterdrückte Ausrufe. Die Kranke heftete die verschleierten Augen auf die Türe und wartete. Nach einigen Minuten sah sie den Arzt mit ungewohntem Gesichte erscheinen; dann die Herrin und den Herrn, auch sie mit veränderter Miene. Alle drei betrachteten sie mit seltsamem Ausdruck und wechselten mit leiser Stimme einige Worte. Es schien ihr, als ob der Arzt zur Herrin sage: – Besser sofort. – Die Kranke verstand es nicht.
– Josefa, – sagte ihr die Herrin mit zitternder Stimme, – Ich bringe Euch eine gute Nachricht. Bereitet das Herz auf eine frohe Nachricht vor.
Die Frau betrachtete sie aufmerksam.
– Eine Nachricht, – fuhr die Herrin immer bewegter fort, – die Euch eine große Freude machen wird.
Die Kranke riß die Augen auf.
– Bereitet Euch vor, – fuhr die Herrin fort, – eine Person zu sehen, … die Ihr sehr liebt.
Die Frau erhob den Kopf mit heftiger Bewegung und begann mit leuchtenden Augen bald nach der Herrin, bald nach der Türe zu sehen.
– Eine Person, – sagte die Dame erbleichend, – die soeben … unerwartet angekommen.
– Wer ist's? – schrie die Frau mit gepreßter, unnatürlicher Stimme, wie in großem Schrecken.
Einen Augenblick nachher stieß sie einen durchdringenden Schrei aus, saß im Bette auf und blieb unbeweglich, die Augen aufgesperrt und die Hände an den Schläfen, als erblicke sie eine Erscheinung aus der andern Welt.
Marco, zerrissen und bestäubt, stand aufrecht auf der Schwelle, an einem Arm vom Doktor gehalten.
Die Frau schrie dreimal: – Gott! Gott! Mein Gott!
Marco stürzte vorwärts, sie streckte die abgezehrten Arme aus, drückte ihn mit der Kraft einer Löwin an den Busen, brach in heftiges Lachen aus, unterbrochen von Schluchzen ohne Thränen, bis sie atemlos aufs Kissen zurücksank.
Aber sie erholte sich sofort und schrie außer sich vor Freude, ihn mit Küssen bedeckend: – Wie bist du hier? Warum? Bist du es? Wie du gewachsen bist! Wer hat dich hiehergebracht? Bist du allein? Bist du nicht krank? Bist du es, Marco? Ist es kein Traum? Mein Gott! Sprich! Dann brach sie auf einmal ab: – Nein schweige! Warte! Und hastig gegen den Arzt gewandt: – Schnell, sogleich, Doktor. Ich will genesen. Ich bin bereit. Verlieren Sie keinen Augenblick. Führet Marco weg, daß er nichts höre. Mein Marco, es ist nichts. Du wirst mir nachher erzählen. Noch einen Kuß. Gehe. Hier bin ich, Herr Doktor.
Marco wurde weggeführt. Die Herrschaft und die Frauen gingen eilig hinaus; der Chirurg und der Assistent, welche die Türe schlossen, blieben zurück.
Der Herr Mequinez versuchte Marco in ein entferntes Zimmer zu bringen, aber es war unmöglich, er schien auf dem Boden festgenagelt.
– Was ist's? – fragte er. Was hat meine Mutter? Was machen sie?
Und Herr Mequinez, immer bemüht, ihn fortzuziehen, sprach ihm leise zu: – Nun höre. Ich will es dir sagen. Deine Mutter ist krank; sie muß sich einer kleinen Operation unterziehen; ich werde dir alles erklären, komm nur mit mir.
– Nein, – antwortete der Knabe stehen bleibend, – ich will hier bleiben. Erklären Sie es mir hier.
Der Ingenieur häufte Worte auf Worte, indem er ihn fortzog: der Knabe begann zu erschrecken und zu zittern.
Auf einmal ertönte ein durchdringender Schrei, wie der Schrei eines zu Tode Verwundeten, durch das ganze Haus.
Der Knabe antwortete mit einem andern verzweifelten Schrei: – Meine Mutter stirbt!
Der Arzt erschien unter der Türe und sprach: – Deine Mutter ist gerettet.
Der Knabe betrachtete ihn einen Augenblick und dann warf er sich zu seinen Füßen: – Dank, Herr Doktor!
Aber der Doktor hob ihn mit einem Rucke auf, indem er sagte: – Stehe auf! … du heldenhafter Knabe, du hast deine Mutter gerettet.
24. – Mittwoch.
Marco der Genuese ist der zweitletzte Held, dessen Bekanntschaft wir dieses Jahr machen; es bleibt nur noch einer für den Monat Juni. Es sind nur noch zwei Monatsexamen, sechsundzwanzig Schultage, sechs Donnerstage und fünf Sonntage. Man spürt schon etwas vom Ende des Schuljahres in der Luft. Die Bäume des Gartens, voll Laub und Blüten, werfen einen tiefen Schatten auf die Turngeräte. Die Schüler sind sommerlich gekleidet. Es ist jetzt schön, sie aus den Klassen kommen zu sehen, wie anders ist alles, als in den verflossenen Monaten. Die Haare, welche auf die Schultern niederfielen, sind verschwunden: alle Köpfe sind glatt geschoren; man sieht nackte Beine und bloße Hälse; Strohhütchen von jeder Form mit Bändern, die bis auf den Rücken herunterreichen; Hemden und Halsbinden aller Farben; die Kleinsten tragen noch irgend etwas Rotes oder Blaues, einen Aufschlag, einen Saum, eine kleine Quaste, ein Fetzchen von einer lebhaften Farbe, von der Mutter angeheftet, damit es mehr hervortrete, auch bei den Ärmsten; und viele kommen ohne Hut in die Schule, als ob sie von Hause entlaufen wären. Einige tragen das weiße Turnerkleid. Da ist ein Knabe der Lehrerin Delcati, ganz rot angezogen, vom Kopf bis zu den Füßen, wie ein gesottener Krebs. Mehrere sind als Matrosen gekleidet. Aber der schönste ist das Maurermeisterlein, der einen großen Strohhut aufgesetzt hat, welcher ihm das Aussehen eines Kerzenstümpfchens mit einem Lichtschirm giebt, und man muß lachen, wenn er darunter das Hasenmäulchen macht. Auch Coretti hat sein Katzenfell weggelegt und trägt eine alte Reisemütze von grauer Seide. Votini hat ein sehr niedliches, schottisches Kleid, Crossi zeigt die nackte Brust; Precossi steckt in dem großen, blauen Hemde eines Schmiedes. Und Garoffi? Jetzt, da er seinen Mantel hat lassen müssen, der seinen ganzen Handel verbarg, bleiben alle seine Taschen, mit allerlei Trödelwaren angefüllt, unbedeckt, und die Lotterielisten gucken daraus hervor. Alle zeigen nun, was sie bei sich tragen: Fächer aus halben Zeitungen gemacht, Rohrstückchen, Pfeile, um nach den Vögeln zu schießen, Gras, Maikäfer, die aus den Taschen kommen und ganz langsam über die Jacke hinaufkriechen. Viele der Kleinen bringen den Lehrerinnen Blumensträußchen. Auch die Lehrerinnen sind alle sommerlich gekleidet, in helle Farben, außer dem »Nönnchen«: die ist immer schwarz; und die Lehrerin mit der roten Feder hat immer die rote Feder, und eine Schleife von rosafarbigen Bändern am Hals, zerknittert von den Pfötchen ihrer Schüler, die sie immer lachen und laufen machen. Es ist die Zeit der Kirschen, der Schmetterlinge, der Straßenmusik und der Spaziergänge auf das Land; viele von der vierten Klasse eilen schon an den Po, sich zu baden; alle haben das Herz schon in den Ferien; alle Tage gehen sie ungeduldiger und froh, daß wieder ein Tag herum, aus der Schule. Einzig das macht mir schweren Kummer, Garrone in Trauer sehen zu müssen, und meine arme Lehrerin der ersten Klasse, die immer abgezehrter und bleicher wird und immer stärker hustet. Sie geht jetzt gebückt und grüßt mich so traurig!
26. – Freitag.
Du fängst an die Poesie der Schule zu verstehen, Heinrich; aber du siehst die Schule jetzt nur von innen: sie wird dir noch viel schöner und poesiereicher erscheinen nach dreissig Jahren, wenn du deine Kinder dorthin begleiten wirst, und sie von aussen siehst, wie ich sie sehe. Den Schluss des Unterrichts abwartend spaziere ich still durch die Strassen, rings um das Gebäude und horche an den geschlossenen Jalousien des Erdgeschosses. Aus einem Fenster höre ich die Stimme einer Lehrerin, die sagt: – O welch Ungeheuer von t! Das geht nicht, mein Sohn, was würde dein Vater dazu sagen? … – Vom nächsten Fenster tönt die derbe Stimme eines Lehrers, der diktiert: – Ich kaufte fünfzig Meter Stoff zu vier Franken fünfzig den Meter … ich verkaufte sie … – Etwas weiter weg die Lehrerin mit der roten Feder, die mit lauter Stimme liest: – Dann zündete Pietro Micca mit der brennenden Lunte … – Aus der nächsten Klasse tönt es wie das Gezwitscher von hundert Vögeln, was sagen will, dass der Lehrer einen Augenblick hinausgegangen ist. Ich gehe weiter und an der Ecke höre ich einen Schüler, welcher weint, und die Stimme des Lehrers, der ihn tadelt oder tröstet. Aus andern Fenstern ertönen Verse, Namen von grossen und guten Männern, Bruchstücke von Sentenzen, die zur Tugend, zur Vaterlandsliebe, zum Mute anfeuern. Dann folgen Augenblicke der Stille, die einen glauben machen könnten, das Gebäude sei leer, und es scheint unmöglich, dass sechshundert Schüler darin seien; dann hört man lärmende Ausbrüche von Heiterkeit, hervorgerufen durch den Scherz eines Lehrers, der guter Laune ist … Und die Leute, die vorübergehen, stehen still, um zu horchen und werfen einen sympathischen Blick nach dem schönen Gebäude, das so viel Jugend und so viele Hoffnungen einschliesst. Dann hört man ein plötzliches, dumpfes Geräusch, ein Zuklappen von Büchern und Mappen, ein Fussgetrampel, ein Summen, das sich von Klasse zu Klasse, von unten nach oben fortpflanzt, wie beim unerwarteten Bekanntwerden einer guten Nachricht: es ist der Schuldiener, der herumgeht und den Schluss ankündigt. Und bei diesem Geräusch drängt sich eine Menge von Frauen, Männern, Mädchen und Jünglingen von hier und dort gegen die Türe, um ihre Söhne, Brüder, Enkel zu erwarten; unterdessen strömen die kleinen Knaben aus den Türen der Klassen in das grosse Vorzimmer, um Überröcke und Hüte zu nehmen, richten dort allerlei Unordnung an und drängen sich bis der Schuldiener einen um den andern wieder hineinjagt. Und endlich kommen sie heraus, in langen Reihen, mit den Füssen stampfend. Und nun beginnt von allen Seiten ein Sturm von Fragen: – Hast du die Lektion gekonnt? Was für eine Censur hat er dir im Aufsatz gegeben? Was habt ihr auf für morgen? Wann ist das Monatsexamen? – Und auch die armen Mütter, die nicht lesen können, öffnen die Hefte, betrachten die Rechnungen, fragen nach den Censuren: – Nur acht? – Zehn mit Lob? – Neun in der Lektion? Und sie beunruhigen oder freuen sich, befragen die Lehrer und sprechen von den Programmen und den Examen. Wie schön, wie gross und vielversprechend für die Zukunft ist doch dies alles!
Dein Vater.
28. – Sonntag.
Der Monat Mai konnte nicht besser enden als mit dem Besuche dieses Morgens. Unser Türglöckchen läutete und alle liefen hinaus. Ich hörte meinen Vater, der in verwundertem Tone sagte: – Ihr hier, Georg? – Es war Georg, unser Gärtner von Chieri, der jetzt seine Familie in Condove hat und soeben von Genua ankam, wo er Tags vorher, aus Griechenland zurückgekehrt, gelandet war, nachdem er drei Jahre an Eisenbahnen gearbeitet hatte. Er trug ein großes Bündel unter dem Arm. Er ist ein wenig älter geworden, aber immer noch rot im Gesicht und lustig.
Mein Vater wollte, daß er hereinkomme; aber er sagte: – nein – und fragte sofort, indem er ein ernstes Gesicht machte: – Wie geht es meiner Familie? Wie steht's mit Gigia? – Bis vor wenigen Tagen gut, – antwortete meine Mutter.
Georg stieß einen schweren Seufzer aus: – O! Gott sei gelobt! Ich hatte nicht den Mut zu den Taubstummen zu gehen, ohne Nachricht von ihr zu haben. Ich lasse das Bündel hier und eile, sie zu sehen. Drei Jahre sind es, daß ich meine arme Tochter nicht mehr sah! Drei Jahre, daß ich niemand von den Meinigen sah!
Mein Vater sagte zu mir: – Begleite ihn.
– Noch ein Wort, entschuldigen Sie, – sagte der Gärtner auf der Treppe.
Aber mein Vater unterbrach ihn: – Und die Geschäfte?
– Gut, – antwortete er, – Gott sei Dank. Einige Soldi habe ich mitgebracht. Aber ich wollte fragen: Wie stehts um den Unterricht der kleinen Stummen? sagen Sie mir etwas. Als ich sie verließ, war sie wie ein armes Tierchen, das gute Geschöpf. Ich traue ihnen nur wenig zu, diesen Anstalten. Hat sie gelernt, Zeichen zu machen? Meine Frau schrieb mir wohl: – Sie lernt sprechen, macht Fortschritte. – Aber, sagte ich, was nützt es, daß sie sprechen lerne, wenn ich selbst sie nicht machen kann, diese Zeichen? Wie können wir uns verstehen, arme Kleine? Es ist schon gut, daß sie sich unter einander verstehen, ein Unglücklicher den andern. Wie geht es also? Wie gehts?
Mein Vater lächelte und antwortete: – Ich sage Euch nichts; Ihr werdet selbst sehen; geht, geht, stehlt ihr keine Minute mehr.
Wir gingen hinaus; die Anstalt ist nahe. Als wir die Straße mit großen Schritten durcheilten, sprach der Gärtner traurig zu mir. – Ah! meine arme Gigia! Mit einem solchen Unglücke geboren zu werden! Wenn ich denke, daß ich mich von ihr nie »Vater« rufen hörte, daß sie sich von mir nie »Töchterchen« rufen hörte, daß sie nie auf der Welt ein Wort gesagt noch gehört hat! Aber Gott sei Dank, daß sich ein freigebiger, großmütiger Herr gefunden hat, der die Kosten der Anstalt deckte.
Aber ach … vor dem achten Jahre hat sie nicht gehen können. Seit drei Jahren ist sie nicht mehr daheim. Sie geht jetzt in das elfte. Ist sie gewachsen, sagen Sie mir, ist sie gewachsen? Ist sie heiter?
– Nun, Ihr werdet sehen, bald werdet Ihr sehen; – antwortete ich ihm, den Schritt beflügelnd.
– Aber wo ist diese Anstalt? – fragte er. – Meine Frau brachte sie dorthin, als ich schon abgereist war. Es scheint mir, sie sollte hier herum sein.
Wir waren gerade angekommen. Wir traten sofort ins Sprechzimmer. Ein Aufseher kam uns entgegen. – Ich bin der Vater von Gigia Voggi, – sagte der Gärtner; – mein Töchterchen – schnell, schnell. – Sie sind in der Pause, – antwortete der Aufseher, – ich will die Lehrerin benachrichtigen. – Und er eilte fort.
Der Gärtner konnte weder mehr sprechen, noch stille stehen; er betrachtete die Bilder an den Wänden ohne etwas zu sehen.
Die Türe öffnete sich: eine schwarz gekleidete Lehrerin trat ein, mit einem Mädchen an der Hand.
Vater und Tochter betrachteten sich einen Augenblick und dann warfen sie sich mit einem Schrei einander in die Arme.
Das Mädchen trug ein weiß und rot gestreiftes Kleid und eine graue Schürze. Sie ist größer als ich. Sie weinte und hielt den Vater mit beiden Armen umschlungen.
Er machte sich los und betrachtete sie vom Kopf bis zu den Füßen, mit glänzenden Augen; schwer atmend, als hätte er einen langen Lauf gemacht, rief er aus: – Ah! wie ist sie gewachsen! Wie schön ist sie geworden! O meine liebe, meine arme Gigia! Meine arme, kleine Stumme! Sind Sie, Fräulein, die Lehrerin? Sagen Sie ihr, sie solle mir immerhin ein wenig ihre Zeichen vormachen, daß ich etwas verstehe, und dann werde ich nach und nach lernen. Sagen Sie ihr, sie solle mir mit Gebärden etwas zu verstehen geben.
Die Lehrerin lächelte und sagte mit leiser Stimme zu dem Mädchen: – Wer ist dieser Mann, der gekommen ist, dich zu besuchen?
Und das Mädchen antwortete mit rauher, seltsamer, mißtönender Stimme, wie die eines Wilden, der unsere Sprache zum erstenmale spricht, aber deutlich aussprechend: – Es ist mein Va-ter.
Der Gärtner wich einen Schritt zurück und rief wie ein Wahnsinniger: – Sie spricht! Aber ist es denn möglich? Ist es denn möglich? Sie spricht? Du sprichst ja mein Kindlein, du sprichst? sag mir doch: sprichst du? – und von neuem umarmte er sie und küßte sie dreimal auf die Stirne. – Aber sprechen sie denn nicht durch Zeichen, Fräulein Lehrerin, nicht mit den Fingern, so? Was ist das?
– Nein, Herr Voggi, – antwortete die Lehrerin, – nicht mit Zeichen. Jenes war die alte Methode. Hier lehrt man nach der neuen Methode, nach der mündlichen Methode. Wie, Ihr wußtet das nicht?
– Ach, ich wußte gar nichts! – antwortete der Gärtner erstaunt. – Seit drei Jahren bin ich fort! O! sie haben es mir geschrieben, aber ich habe es nicht verstanden. Ich bin ein Dummkopf. O mein Töchterchen, du verstehst mich also? Du hörst meine Stimme? Antworte ein wenig: hörst du mich? Hörst du, was ich sage?
– Ach nein, guter Mann, – sagte die Lehrerin – die Stimme hört sie nicht, denn sie ist taub. Sie versteht nach den Bewegungen Eures Mundes, welches die Worte sind, die Ihr sprecht; das ist die Sache; aber Eure Worte hört sie nicht, nicht einmal die, welche sie zu Euch sagt; sie spricht, weil wir sie dieselben sprechen gelehrt haben, Laut für Laut, wie sie die Lippen stellen und die Zunge bewegen, und welche Anstrengung sie mit der Brust und der Kehle machen muß, um die Stimme zu erzeugen.
Der Gärtner verstand noch nicht und stand mit offenem Munde da. Er glaubte noch nicht.
Sage mir Gigia, fragte er das Töchterchen, ihr ins Ohr flüsternd, – bist du zufrieden, daß dein Vater heimgekommen ist? – Und, das Gesicht wieder erhoben, erwartete er die Antwort.
Das Mädchen betrachtete ihn nachdenkend, und sagte nichts.
Der Vater wurde unruhig.
Die Lehrerin lachte. Dann sagte sie: – Guter Mann, sie antwortet Euch nicht, weil sie die Bewegungen Eures Mundes nicht gesehen hat. Ihr habt ihr ins Ohr gesprochen! Wiederholt die Frage, indem Ihr Euer Gesicht gut vor das ihrige haltet.
Der Vater, ihr fest ins Gesicht schauend, wiederholte: – Bist du zufrieden, daß dein Vater heimgekommen ist? Daß er nie mehr fortgeht?
Das Mädchen, das ihm aufmerksam auf die Lippen gesehen hatte, als wolle sie auch in den Mund hineinsehen, antwortete freimütig:
– Ja, ich bin zu-frie-den, daß du heim-ge-kom-men bist, daß du nie mehr fort-gehst, nie-mals mehr.
Der Vater küßte sie ungestüm, und dann, in größter Eile, um sich besser zu vergewissern, überhäufte er sie mit Fragen.
– Wie heißt deine Mutter?
– An-to-nia.
– Wie heißt deine kleine Schwester?
– A-de-laide.
– Wie heißt diese Anstalt?
– Taub-stum-men-anstalt.
– Wie viel ist zwei mal zehn?
– Zwan-zig.
Während wir glaubten, er lache vor Freude, fing er plötzlich an zu weinen. Aber auch dies vor lauter Freude. – Mut, sagte ihm die Lehrerin, – Ihr habt Grund fröhlich zu sein, nicht zu weinen. Seht, Ihr macht auch Euer Töchterchen weinen. Ihr seid also zufrieden?
Der Gärtner ergriff die Hand der Lehrerin und küßte sie zwei- oder dreimal, indem er sagte: – Dank, Dank, hundertmal Dank, tausendmal Dank, liebes Fräulein Lehrerin! Und verzeihen Sie mir, daß ich nichts anderes zu sagen weiß!
– Aber sie kann nicht nur sprechen, – sagte ihm die Lehrerin; – Eure Tochter kann auch schreiben, kann rechnen. Sie kennt die Namen aller gebräuchlichen Gegenstände, kennt ein wenig Geschichte und Geographie. Jetzt ist sie in der Normalklasse. Wenn sie die beiden andern Klassen durchgemacht hat, wird sie viel, viel mehr wissen. Wenn sie von hier fortgeht, ist sie imstande, einen Beruf zu erlernen. Wir haben schon Taubstumme, die in den Läden die Kunden bedienen und ihre Arbeit thun, wie die andern.
Der Gärtner war von neuem erstaunt. Es schien, als ob sich seine Gedanken ein zweites Mal verwirrten. Er betrachtete das Töchterchen und rieb sich die Stirne. Sein Gesicht drückte den Wunsch nach weiterer Erklärung aus.
Nun wandte sich die Lehrerin zu dem Aufseher und sagte: – Rufet mir ein Kindlein der Vorbereitungsklasse.
Der Aufseher kehrte bald nachher mit einer Taubstummen von acht bis neun Jahren zurück, die vor wenig Tagen in die Anstalt getreten war.
– Diese, – sagte die Lehrerin, – ist eine derjenigen, welche wir die ersten Elemente lehren. Ich will Euch zeigen, wie man es macht. Ich will sie e sagen lassen. Paßt auf. – Die Lehrerin öffnete den Mund, wie man ihn öffnet, um den Vokal e auszusprechen und winkte dem Kinde, es solle den Mund in gleicher Weise öffnen. Das Kind gehorchte. Nun winkte ihm die Lehrerin, es solle die Stimme hervorstoßen. Es brachte die Stimme hervor, aber anstatt e sprach es o. – Nein, – sagte die Lehrerin, es ist nicht das. – Und sie faßte die beiden Hände des Kindes und legte sich die eine offen auf die Kehle, die andere auf die Brust und wiederholte: – e. – Das Kind, das mit den Händen die Bewegung der Kehle und der Brust gefühlt hatte, öffnete den Mund wieder und sprach sehr gut: – e. – Auf gleiche Weise ließ die Lehrerin es c und d sagen, sich die kleinen Hände immer auf Brust und Kehle haltend. – Habt Ihr jetzt verstanden? – fragte sie.
Der Vater hatte verstanden; aber er schien noch verwunderter als vorher, da er nichts verstand. – Und man lehrt sie auf diese Weise sprechen? – fragte er nach einem Nachdenken von einer Minute, die Lehrerin betrachtend. – Sie haben die Geduld, alle auf diese Weise nach und nach sprechen zu lehren? eines nach dem andern? … Jahr um Jahr? … Aber Sie sind eine Heilige, das sind Sie! Sie sind ein Engel des Paradieses! Nein, es giebt keine Belohnung für Sie auf der Erde! Was soll ich sagen? … Ah! lassen Sie mich jetzt ein wenig mit meiner Tochter. Lassen Sie mich für fünf Minuten mit ihr allein.
Und er zog sie abseits und begann sie zu fragen und jene antwortete und er lachte mit glänzenden Augen, schlug mit den Fäusten auf die Kniee und nahm die Tochter bei den Händen, schaute sie an, außer sich vor Freude, wenn sie sprach, als hörte er eine Stimme vom Himmel; dann fragte er die Lehrerin: – Würde es erlaubt sein, dem Herrn Direktor zu danken? – Der Direktor ist nicht da, – antwortete die Lehrerin. – Aber einer andern Person solltet Ihr danken. Hier ist jedes kleine Mädchen einer größern Gefährtin zur Besorgung übergeben und diese vertritt Schwester und Mutter bei ihr. Gigia ist einer Taubstummen von siebzehn Jahren, der Tochter eines Bäckers, die sehr gut ist und sie von Herzen liebt, anvertraut: seit zwei Jahren hilft sie ihr jeden Morgen beim Ankleiden, kämmt sie, lehrt sie nähen, hält ihre Sachen in Ordnung und leistet ihr gute Gesellschaft. Luigia, wie heißt deine Mutter in der Anstalt?
Das Mädchen lächelte und antwortete:
– Ka-te-ri-na Gior-dano. – Dann sagte sie zu ihrem Vater: – Sehr, sehr gut.
Der Aufseher, der auf einen Wink der Lehrerin hinausgegangen war, kam unverzüglich mit einer blonden, kräftigen Taubstummen von heiteren Mienen zurück; auch sie trug ein rot gestreiftes Kleid und eine graue Schürze; sie blieb unter der Türe stehen und errötete; dann senkte sie lächelnd den Kopf.
Die Tochter Georgs lief ihr gleich entgegen, nahm sie bei einem Arm wie ein Kind und zog sie vor ihren Vater, indem sie mit rauher Stimme sagte: – Ka-te-ri-na Gior-dano.
Ah! das brave Mädchen! – rief der Vater und streckte die Arme aus, um sie zu liebkosen, aber er zog sie zurück und wiederholte: – Ah! das gute Mädchen, Gott segne sie, er gebe ihr alles Glück, allen Trost, er mache sie immer glücklich, sie und die Ihrigen, ein so gutes Mädchen; meine arme Gigia, ein ehrlicher Arbeiter, ein armer Familienvater wünscht ihr dies von Herzen.
Das große Mädchen liebkoste das kleine, das Gesicht immer gesenkt und lächelnd, und der Gärtner betrachtete sie wie eine Madonna.
– Heute könnt Ihr Eure Tochter mit Euch nehmen, – sagte die Lehrerin. – Ja, ich nehme sie, – antwortete der Gärtner. Ich führe sie nach Condove und bringe sie morgen früh zurück. Glauben Sie ja nicht, daß ich sie da lasse! – Die Tochter huschte fort, sich umzukleiden. – Drei Jahre sind es, daß ich sie nicht mehr sah, – fuhr der Gärtner fort. – Jetzt spricht sie! Nach Condove führe ich sie sogleich. Aber zuerst will ich mit der kleinen Stummen einen Gang durch Turin machen, und sie zu meinen vier Bekannten führen, damit sie sie sehen! Ah! welch schöner Tag! Das ist ein Trost! Hier, gieb deinem Vater den Arm, meine Gigia! Das Mädchen, welches mit einem Mäntelchen und einem Häubchen zurückgekehrt war, gab ihm den Arm.
– Und allen Dank! – sagte der Gärtner unter der Türe. – Allen sage ich Dank aus meinem ganzen Herzen! Ich werde noch einmal kommen, um allen zu danken!
Er blieb einen Augenblick nachdenkend, dann ging er schnell von dem Mädchen weg, kehrte zurück, indem er seine Weste durchstöberte und rief überlaut: – Nun, ich bin nur ein armer Kerl, aber hier, da lasse ich zwanzig Lire für die Anstalt, ein schöner neuer, goldener Marengo!
Und indem er fest auf den Tisch klopfte, legte er den Marengo hin.
– Nein, nein, braver Mann, – sagte die Lehrerin gerührt. – Nehmt Euer Geld wieder. Ich kann es nicht annehmen. Nehmt es. Es gehört nicht mir. Ihr werdet kommen, wenn der Direktor da ist. Aber nicht einmal er wird es annehmen, dessen könnt ihr versichert sein. Ihr habt zu große Mühe gehabt es zu verdienen, guter Mann. Wir sind Euch gleichwohl dankbar.
– Nein, ich lasse es, – antwortete der Gärtner eigensinnig; – und dann … wir wollen schon sehen!
Aber die Lehrerin schob ihm das Geld in die Tasche, ohne ihm Zeit zu lassen es zurückzugeben.
Und nun fügte er sich, den Kopf schüttelnd; und dann schickte er schnell der Lehrerin und dem großen Mädchen mit der Hand einen Kuß zu, nahm den Arm seiner Tochter wieder und stürzte vor die Türe, indem er sagte: – Komm, komm, mein Töchterchen, meine arme, kleine Stumme, mein Schatz!
Und die Tochter rief mit ihrer rauhen Stimme: – O welch schö-ne Son-ne!