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März.

Die Abendschulen.

2. – Donnerstag.

Gestern Abend führte mich mein Vater in unsere Abteilung Baretti, um die Abendschulen zu sehen. Die Schule war schon ganz erleuchtet und die Arbeiter begannen einzutreten. Als wir ankamen fanden wir den Direktor und die Lehrer in großem Zorn, denn kurz vorher war eine Fensterscheibe durch einen Steinwurf eingeschlagen worden: der Pedell, der hinausgelaufen war, hatte einen Knaben der vorüberging beim Schopf erfaßt; aber dann war Stardi, welcher in dem Hause der Schule gegenüber wohnt, herzugekommen und hatte gesagt: – Dieser ists nicht; ich habe es mit eigenen Augen gesehen; Franti hat den Stein geworfen und zu mir gesagt: – »Wehe dir, wenn du schwatzest!« – aber ich fürchte mich nicht. – Und der Direktor sagte, daß Franti für immer fortgejagt werden solle. Indessen nahmen die Handwerker, die zu zweien, zu dreien mit einander eintraten, meine Aufmerksamkeit in Anspruch; es waren schon mehr als zweihundert beisammen, ich hatte nie gesehen, wie schön eine Abendschule ist! Da waren Knaben von zwölf Jahren an und bärtige Männer, die von der Arbeit zurückkehrten, Bücher und Hefte unter dem Arm mit sich tragend! es waren Zimmerleute, Heizer mit schwarzem Gesicht, Maurer, mit von Kalk weiß gefärbten Händen, Bäckergesellen, die noch Mehl in den Haaren trugen, und es roch nach Firniß, Leder, Pech, Öl, nach allen Handwerken. Es trat auch eine Abteilung Arbeiter vom Arsenal ein, als Artilleristen gekleidet und von einem Korporal geführt. Alle huschten schnell in die Bänke, hoben den Tritt, auf den wir die Füße stellen, weg, und senkten sofort den Kopf auf die Arbeit. Einige gingen mit offenen Heften zu den Lehrern, um Erklärungen zu erbitten. Ich sah einen jungen, gut gekleideten Lehrer, – das ›Advokätchen‹, – dessen Pult von vier oder fünf Handwerkern umgeben war und der mit der Feder Korrekturen machte. Ein anderer Lehrer sprach mit einem Färber und lachte, weil ihm dieser ein Heft gebracht hatte, das mit roter und blauer Farbe ganz bemalt war. Auch mein Lehrer war da; er ist wieder gesund, und wird morgen in die Schule zurückkehren. Die Türen der Schulzimmer waren offen. Ich war ganz verwundert, als die Lektionen begannen und ich sah, wie alle unverwandten Auges aufmerkten. Und doch war der größte Teil, sagte der Direktor, um nicht zu spät zu kommen, nicht nach Hause zum Abendessen gegangen und sie waren hungrig. Die Kleinsten indessen wurden nach einer halben Stunde Unterrichts vom Schlafe befallen; einige schliefen, den Kopf auf die Bank gelegt, sogar ein (und der Lehrer weckte sie, indem er sie mit der Feder hinter dem Ohre kitzelte). Aber die Großen, nein! Die waren aufgeweckt; mit offenem Munde, ohne mit den Augen zu zwinkern, hörten sie auf die Lektion; es befremdete mich, in unsern Bänken alle diese bärtigen Männer zu sehen. Wir stiegen auch in das zweite Stockwerk hinauf und ich lief an die Türe meiner Klasse und sah an meinem Platze einen Mann mit einem großen Schnurrbart und einer verbundenen Hand, der sich vielleicht an einer Maschine verletzt hatte; dennoch versuchte er zu schreiben, aber ganz langsam. Aber was mir am meisten gefiel, war, am Platze des Maurermeisterleins, in der gleichen Bank und im gleichen Winkelchen seinen Vater zu sehen, jenen Riesen, der in der engen Bank, die Ellbogen aufgestemmt, das Kinn auf den Fäusten und die Augen auf dem Buche so aufmerksam dasaß, daß er kaum zu atmen wagte. Und es war kein Zufall, er selbst hatte, als er am ersten Abend in die Schule kam, zum Direktor gesagt: – »Herr Direktor, machen Sie mir das Vergnügen, mich an den Platz meines Hasenmäulchens zu setzen;« – denn immer nennt er seinen Sohn so … Mein Vater hielt mich bis zum Schlusse zurück und dann sahen wir auf der Straße viele Frauen mit Kindern auf dem Arm, die ihre Männer erwarteten und beim Herauskommen tauschten sie: die Arbeiter nahmen die Kinder auf den Arm und die Frauen ließen sich die Bücher und Hefte geben und so gingen sie nach Hause. Die Straße war für einige Augenblicke voll von Leuten und Geräusch. Dann wurde alles still und wir sahen nichts mehr, als die lange und müde Gestalt des Direktors, der sich entfernte.

Die Eltern der Schüler.

6. – Montag.

Es ist geschehen. – Der schlimme Franti hatte am folgenden Tage Stardi in einer Straße aufgepaßt und war heimtückischer Weise von hinten über ihn hergefallen. Da er größer und stärker ist als Stardi, richtete er ihn übel zu, aber Stardi war nicht verzagt und hatte ihm tüchtig heimgezahlt. Die Umstehenden nahmen Partei für den Angegriffenen und so kam zuletzt Franti schlecht weg und nahm Reißaus, verfolgt von den Scheltworten aller. Heute Morgen nach der Schule holte der Vater Stardi seinen Sohn ab, aus Furcht, dieser möchte Franti noch einmal begegnen; aber Franti, sagt man, werde nicht mehr kommen, weil man ihn ins Gefängnis setzen wird, da er bei dem Streite das Messer gezogen haben soll, das ihm Stardi aus der Hand riß. – Diesen Morgen waren viele Eltern da. Unter andern auch Corettis Vater, der Holzhändler, ganz das Bild des Sohnes, lebhaft, heiter, mit einem spitzen Schnurrbart und einem zweifarbigen Bändchen im Knopfloch. Ich kenne schon fast alle Eltern meiner Mitschüler, da ich sie hier immer sehe. Da ist eine gebeugte Großmutter mit weißer Haube, die, es mag regnen oder stürmen, viermal des Tages ihren Enkel in die erste Klasse begleitet und wieder abholt; sie nimmt ihm immer den Überrock ab, zieht ihm denselben an, zupft ihm die Halsbinde zurecht, stäubt ihn ab, glättet ihn, betrachtet seine Hefte: man sieht, daß sie keinen andern Gedanken hat, daß sie nichts Schöneres auf der Welt kennt. Auch ein Artilleriehauptmann, der Vater Robettis, des Knaben der an Krücken geht, der ein Kind vor dem Überfahren durch einen Omnibus gerettet hat, kommt oft; und allen Gefährten seines Sohnes, die ihn im Vorbeigehen liebkosen, giebt er die Liebkosung oder den Gruß zurück und vergißt keinen; er beugt sich hinab zu allen, und je ärmer und schlechter sie gekleidet sind, um so zufriedener scheint er und dankt ihnen. Hie und da sieht man auch traurige Vorfälle: ein Herr, der seit einem Monat nicht mehr kam, weil ihm ein Sohn gestorben ist, und der den andern durch die Magd abholen ließ, kam gestern zum erstenmal wieder, und als er die Klasse sah, die Gefährten seines verstorbenen Kleinen, ging er in eine Ecke und brach in heftiges Schluchzen aus, beide Hände vor dem Gesichte, und der Direktor nahm ihn bei dem Arm und führte ihn in sein Zimmer. Es giebt Väter und Mütter, welche die Kameraden ihrer Söhne alle beim Namen kennen. Es kommen Schwestern der benachbarten Schule, Schüler des Gymnasiums, um die Brüder zu erwarten. Da ist auch ein alter Herr, der Oberst war, und wenn ein Knabe auf der Straße ein Heft oder eine Feder fallen läßt, so nimmt er sie auf. Man sieht auch sehr schön gekleidete Damen, welche mit den andern, die nur ein Tuch um den Kopf tragen oder einen Korb am Arm haben, über Schulsachen sprechen und sie sagen: – Ach! die Rechnungen sind dieses Mal schrecklich schwer gewesen! Die Aufgabe für die Grammatikstunde wollte kein Ende nehmen. – Und wenn in einer Klasse ein Kranker ist, so wissen es alle; wenn ein Kranker sich besser befindet, so freuen sich alle. Und gerade diesen Morgen umstanden acht oder zehn Damen und Handwerkersfrauen die Mutter Crossis, die Gemüsefrau, um von ihr Nachrichten über ein armes Kind aus der Klasse meines Bruders zu hören, das im Hofe ihres Hauses wohnt und in Lebensgefahr schwebt. Es ist, als ob die Schule alle gleich und zu Freunden mache.

Nummer 78.

8. – Mittwoch.

Gestern sah ich eine rührende Scene. Seit einigen Tagen betrachtete die Gemüsefrau jedesmal, wenn sie an Derossi vorbeiging, ihn mit einem Ausdruck großer Zuneigung; denn Derossi hat, seitdem er die Entdeckung vom Tintenfaß und dem Gefangenen Numero 78 machte, ihren Sohn Crossi, den mit den roten Haaren und dem lahmen Arme, liebgewonnen und hilft ihm in der Schule die Aufgaben machen, flüstert ihm die Antworten zu, giebt ihm Papier, Federn, Bleistifte: kurz, er behandelt ihn wie einen Bruder, als wolle er ihn für das Unglück seines Vaters, das ihn betroffen hat und das er nicht kennt, entschädigen. Mehrere Tage betrachtete die Gemüsefrau Derossi und es schien, als könne sie die Augen nicht mehr von ihm abwenden, denn sie ist eine gute Frau, die nur für ihren Knaben lebt; und Derossi, der ihm hilft, der ihn nie im Stiche läßt, Derossi, der ein Herr, der Erste der Schule ist, erscheint ihr wie ein König, wie ein Heiliger. Sie betrachtet ihn immer, als wolle sie ihm etwas sagen und scheue sich doch. Aber gestern Morgen endlich faßte sie Mut, hielt ihn vor einer großen Türe an und sagte zu ihm: – Entschuldigen Sie, kleiner Herr, Sie sind so gut und haben meinen Sohn so lieb, machen Sie mir das Vergnügen, dieses kleine Andenken an eine arme Mutter anzunehmen; – und sie zog aus dem Kräuterkorb eine Schachtel aus weißem, vergoldetem Pappdeckel hervor. Derossi errötete, und weigerte sich etwas anzunehmen, indem er entschlossen sagte: – »Geben Sie es Ihrem Sohne, ich nehme nichts an.« – Die Frau war ganz eingeschüchtert und bat um Entschuldigung, indem sie stotterte: – »Ich wollte Sie nicht beleidigen … es ist nur Gerstenzucker.« Aber Derossi sagte wieder nein, indem er den Kopf schüttelte. – Da nahm sie furchtsam aus dem Korbe ein Büschelchen Rettige und sagte: – »Nehmen Sie wenigstens diese an, sie sind frisch, bringen Sie sie ihrer Mutter.« – Derossi lächelte und antwortete: – »Nein, ich danke, ich will nichts, ich werde immer für Crossi thun, was ich kann, aber ich kann nichts annehmen, immerhin danke ich gleichwohl.« – »Aber ich habe Sie doch nicht beleidigt?« – fragte die Frau ängstlich. Derossi sagte ihr nein, nein, indem er lächelte und wegging, während sie ganz gerührt ausrief: – »O welch guter Knabe! Ich habe nie einen so braven und schönen Knaben gesehen!« – Und alles schien beendigt. Aber siehe da, um vier Uhr abends kommt anstatt der Mutter Crossis der Vater desselben mit seinem abgezehrten, melancholischen Gesichte. Er hielt Derossi fest und aus der Art und Weise wie er ihn betrachtete, begriff ich sofort, daß er Verdacht habe, Derossi wisse sein Geheimnis; er sah ihn fest an und sagte mit trauriger und liebreicher Stimme zu ihm: – »Sie sind meinem Sohne gut … Warum sind Sie ihm so gut?« – Derossi wurde glühend rot. Er hätte antworten mögen: – »Ich bin ihm gut, weil er unglücklich gewesen ist; weil auch Ihr, sein Vater, mehr unglücklich als schuldig gewesen seid und Euer Verbrechen edel gebüßt habt und ein Mann von Herz seid.« – Aber es fehlte ihm der Mut, es ihm zu sagen, denn im Innersten fühlte er doch noch Furcht und Abscheu vor diesem Manne, der das Blut eines andern vergossen hatte, und sechs Jahre im Gefängnis gewesen war. Aber jener erriet alles und indem er die Stimme dämpfte, flüsterte er Derossi fast zitternd ins Ohr: – »Du liebst den Sohn, aber du hassest und verachtest den Vater, nicht wahr?« – »Ach nein! nein! Im Gegenteil!« rief Derossi bewegt aus. Und nun machte der Mann eine ungestüme Bewegung, wie um ihm den Arm um den Hals zu legen; aber er wagte es nicht, und statt dessen nahm er mit zwei Fingern eine seiner blonden Locken, zog sie leicht auseinander und ließ sie wieder gehen; dann legte er seine Hand auf den Mund und küßte sie, indem er Derossi mit feuchten Augen ansah, wie um ihm zu sagen, daß dieser Kuß für ihn bestimmt sei. Dann nahm er den Sohn bei der Hand und ging mit schnellen Schritten weg.

Ein kleiner Toter.

13. – Montag.

Der kleine Knabe aus der ersten Klasse, der im Hofe der Kräuterverkäuferin wohnt, der Schulkamerad meines Bruders, ist gestorben. Die Lehrerin Delcati kam am Samstag abend ganz betrübt, um es dem Lehrer mitzuteilen; Garrone und Coretti boten sich sofort an, den Sarg tragen zu helfen. Es war ein braver Knabe, er hatte vorige Woche die Medaille erhalten; er liebte meinen Bruder und hatte ihm eine zerbrochene Sparbüchse geschenkt; meine Mutter liebkoste ihn immer, wenn sie ihn antraf. Er trug eine Mütze mit zwei Streifen von rotem Tuche. Sein Vater ist Packträger bei der Eisenbahn. Am gestrigen Sonntag, abends um halb fünf Uhr, sind wir in sein Haus gegangen um ihn zur Kirche zu begleiten. Seine Eltern wohnen im Erdgeschoß. Im Hofe waren schon viele Knaben mit ihren Müttern, fünf oder sechs Lehrerinnen, und einige Nachbarn. Die Lehrerin mit der roten Feder und die Delcati waren hineingegangen und wir sahen sie an einem offenen Fenster weinen; man hörte die Mutter des Knaben, welche heftig schluchzte. Zwei Damen, Mütter von Schulkameraden des Toten, hatten zwei Blumenkränze gebracht. Punkt fünf Uhr traten wir den Weg zur Kirche an. Zu vorderst ging ein Knabe, der das Kreuz trug, dann ein Priester, dann der Sarg, ein ganz kleiner Sarg, armes Kind! mit einem schwarzen Tuche bedeckt und ringsum hingen die Blumenkränze der beiden Damen. Auf einer Seite des schwarzen Tuches hatten sie die Medaille und die Ehrenmeldungen, welche sich der Knabe im Laufe des Jahres erworben hatte, befestigt. Garrone, Coretti und zwei Knaben des Hofes trugen den Sarg. Hinter dem Sarge kam zuerst die Delcati, die weinte, als ob der kleine Tote ihr gehöre; hinter ihr die andern Lehrerinnen und hinter den Lehrerinnen die Knaben, unter ihnen einige sehr kleine, die die Totenbahre verwundert betrachteten, in einer Hand Veilchensträußchen trugen und an der andern von ihren Müttern geführt wurden. Ich hörte einen der sagte: – »Und jetzt kommt er nicht mehr in die Schule?« – Als der Sarg aus dem Hofe getragen wurde, hörte man einen verzweifelten Schrei aus dem Fenster: es war die Mutter des Kleinen; aber sofort führte man sie ins Zimmer zurück. In der Straße angekommen trafen wir die Knaben eines Instituts an, die in Doppelreihen vorübergingen und beim Anblick der Bahre mit der Medaille und der Lehrerinnen die Mützen abnahmen. Armer Kleiner, er ging nun für immer, um bei seiner Medaille zu schlafen. Wir werden seine rote Mütze nie mehr sehen. Er war immer gesund; nach kurzer Krankheit von vier Tagen starb er. Den letzten Tag noch zwang er sich aufzustehen, um seine kleine Aufgabe, ein Verzeichnis von Namen, zu machen und er wollte seine Medaille auf dem Bette haben, aus Furcht, man könnte sie ihm rauben. Niemand wird sie dir mehr nehmen, armer Knabe! Addio, addio. Wir werden uns in der Abteilung Baretti immer deiner erinnern. Schlafe in Frieden, lieber Knabe.

Der Vorabend des 14. März.

Der heutige Tag war heiterer als der gestrige. Der dreizehnte März ist der Vorabend der Preisverteilung im Theater Viktor Emanuel, das große und schöne Fest jedes Jahres! Aber dieses Mal werden die Knaben, die auf die Bühne gehen müssen, um die Zeugnisse den Herren zu überbringen, welche die Preise verteilen, nicht mehr aufs Geratewohl gewählt. Der Direktor kam diesen Morgen am Ende der Stunde und sagte: – »Knaben, ich habe eine freudige Nachricht! Dann rief er: »Coraci!« Es ist der Name des Kalabresen. Derselbe erhob sich. – »Willst du unter denen sein, die morgen im Theater der Behörde die Preise überreichen?« – Der Kalabrese antwortete: »ja.« »Gut,« sagte der Direktor; »so wird auch ein Vertreter Kalabriens da sein. Das ist schön. Der Stadtrat hat dieses Jahr gewünscht, daß die zehn oder zwölf Knaben, welche die Preise überbringen, Knaben aus allen Teilen Italiens sein und aus den verschiedenen Abteilungen der öffentlichen Schulen genommen werden sollen. Wir haben zwanzig Abteilungen mit fünf Neben-Instituten: siebentausend Schüler; unter einer so großen Zahl war es leicht, für jede Gegend Italiens einen Knaben zu finden. In der Sektion Torquato Tasso fanden sich zwei Vertreter der Inseln: ein Sardinier und ein Sicilianer; die Schule Boncompagni lieferte einen kleinen Florentiner, den Sohn eines Holzschnitzers; in der Sektion Tommaseo ist ein Römer, gebürtig aus Rom selbst; Venetianer, Lombarden, Romagnolen fanden sich etliche; einen Neapolitaner, den Sohn eines Offiziers, giebt die Abteilung Monviso; wir geben einen Genuesen und einen Kalabresen, dich, Coraci. Mit dem Piemontesen sind es zwölf. Das ist schön, nicht wahr? Eure Brüder aus ganz Italien werden euch die Preise geben. Gebt acht: alle zwölf werden mit einander auf der Bühne erscheinen. Empfanget sie mit mächtigem Beifallssturm. Es sind Knaben wir ihr; aber sie vertreten das Land, als ob sie Männer wären: eine kleine dreifarbige Fahne ist so gut das Symbol Italiens wie eine große, nicht wahr? Spendet also feurigen Beifall. Zeiget, daß auch eure kleinen Herzen entbrennen, daß auch eure jungen Seelen frohlocken vor dem Bilde des Vaterlandes.« – Nachdem er das gesagt hatte, entfernte er sich und der Lehrer sagte lächelnd: – »Also, Coraci, du bist der Gesandte Kalabriens.« – Nun klatschten alle in die Hände und als wir auf der Straße waren, umgaben wir Coraci, faßten ihn bei den Beinen, hoben ihn in die Höhe und trugen ihn im Triumph umher, indem wir riefen: Hoch lebe der Deputierte Kalabriens! – Das thaten wir aus lauter Freude, es versteht sich, aber nicht um uns über ihn lustig zu machen, im Gegenteil, um ihn zu feiern, aus vollem Herzen, denn er ist ein Knabe, der allen gefällt; und er lächelte. Wir trugen ihn bis an die Straßenecke, wo wir unerwartet auf einen Herrn mit schwarzem Bart stießen, der zu lachen anfing. Der Kalabrese sagte: – »Es ist mein Vater.« – Und nun überließen ihn die Knaben dessen Armen und stoben nach allen Seiten auseinander.

Die Preisverteilung.

14. März.

Gegen zwei Uhr war das ganze große Theater gedrängt voll; Parterre, Gallerien, Logen, Bühne, alles wimmelte; Tausende von Gesichtern, Knaben, Damen, Lehrer, Handwerker, Frauen aus dem Volke, Kinder; das war ein Bewegen von Köpfen und Händen, ein Zittern von Federn, Bändern, Locken, ein festliches Gemurmel, das heiter stimmte. Das Theater war ganz mit rotem, weißem und grünem Tuche ausgeschlagen. Im Parterre hatte man zwei Treppen angebracht: eine zur Rechten, über welche die Prämierten auf die Bühne gelangen, eine zur Linken, auf welcher sie herunter kommen sollten, nachdem sie die Preise erhalten. Im Vordergrunde der Bühne stand eine Reihe roter Stühle und an der Lehne des mittelsten hing ein Lorbeerkranz; im Hintergrund der Bühne war eine Trophäe von Fahnen; auf einer Seite ein grünes Tischchen mit allen Preisen, die mit dreifarbigen Bändern gebunden waren. Das Musikcorps befand sich im Parterre vor der Bühne; die Lehrer und Lehrerinnen füllten eine ganze Hälfte der ersten Gallerie, welche für sie reserviert war; die Bänke und die Gänge des Parterre waren von Hunderten von Knaben angefüllt, welche singen sollten und die Notenblätter in den Händen hielten. Hinten und ringsum sah man Lehrer und Lehrerinnen gehen und kommen, welche die Prämierten in eine Reihe stellten, und da waren auch Eltern, welche den Kindern die Haare ordneten und ihre Halsbinden zurecht rückten.

Kaum war ich mit den Meinigen in die Loge getreten, so sah ich in einer Loge uns gegenüber die Lehrerin mit der roten Feder, welche lachte, mit ihren schönen Grübchen in den Wangen, und bei ihr befand sich die Lehrerin meines Bruders und das »Nönnchen«, ganz schwarz gekleidet; auch meine gute Lehrerin der ersten Klasse war da, aber sie sah so blaß aus, die Arme, und hustete so stark, daß man es von einem Ende des Theaters bis zum andern hörte. Im Parterre entdeckte ich sofort Garrones liebes Gesicht, und den kleinen blonden Kopf Nellis, der an Garrones Schulter lehnte. Etwas weiter entfernt sah ich Garoffi, mit seiner Habichtsnase, der sich große Mühe gab, die gedruckten Verzeichnisse der Prämierten zu erhaschen, und er hatte wirklich schon ein großes Bündel beisammen um damit irgend ein Geschäft zu machen … was für eins werden wir morgen erfahren. In der Nähe der Türe war der Holzhändler mit seiner Frau, beide festlich gekleidet, mit ihrem Knaben, der einen dritten Preis der zweiten Abteilung hat: ich war ganz verwundert, die Mütze aus Katzenfell und die braune Jacke nicht mehr zu sehen: Dieses Mal war er wie ein Herrchen gekleidet. In einer Gallerie sah ich auf einen Augenblick Votini, mit einem Spitzenkragen; dann verschwand er. In einer ganz besetzten Loge des Prosceniums war der Artilleriehauptmann, der Vater Robettis, des Knaben mit den Krücken, der ein Kind vor dem Überfahren rettete.

Als die Glocke zwei Uhr schlug, spielte die Musik und zu gleicher Zeit stiegen auf den Treppen zur Rechten der Bürgermeister, der Präfekt, der Assessor und der Schulrat und viele andere Herren, alle in Schwarz gekleidet, empor und setzten sich auf die roten Sessel im Vordergrund der Bühne. Die Musik hörte auf. Der Musikdirektor der Schulen trat vor, den Taktstock in der Hand. Auf sein Zeichen erhoben sich alle Knaben im Parterre; auf ein anderes Zeichen begannen sie zu singen. Es waren sechshundert, die ein herrliches Lied sangen; sechshundert Knabenstimmen, welche zusammen singen, wie schön das ist! Alle hörten unbeweglich zu: es war ein süßer, klarer, langsamer Gesang, wie ein Kirchengesang. Als sie schwiegen, klatschten alle Anwesenden Beifall: Dann wurde es sehr still. Die Verteilung der Preise sollte beginnen. Schon war mein kleiner Lehrer der zweiten Klasse mit seinem roten Kopf und den lebhaften Augen auf der Bühne vorgetreten, um die Namen der Prämierten zu lesen. Man erwartete die zwölf Knaben, die eintreten sollten um die Preise zu überbringen. Die Zeitungen hatten schon berichtet, daß es zwölf Knaben aus allen Provinzen Italiens sein würden. Alle wußten es und erwarteten sie, neugierig nach der Türe blickend, durch welche sie eintreten sollten; auch der Bürgermeister und die andern Herren und das ganze Theater verharrten in lautloser Stille.

Plötzlich erschienen sie, gingen eilig auf die Bühne und blieben da in einer Reihe stehen; alle zwölf lächelten. Das ganze Theater, dreitausend Personen, erhoben sich wie mit einem Schlage, in einen Beifallssturm ausbrechend, der dem Rollen des Donners glich. Die Knaben blieben einen Augenblick wie aus der Fassung gebracht. – »Das ist Italien,« sagte eine Stimme auf der Bühne. Ich erkannte sofort Coraci, den Kalabresen, schwarz gekleidet wie immer. Ein Herr vom Stadtrat, der bei uns war, kannte sie alle und zeigte sie meiner Mutter: – Jener Kleine, Blonde ist der Repräsentant von Venedig. Der Römer ist jener große, lockige. Zwei oder drei waren als Herrchen gekleidet; die andern waren Söhne von Handwerkern, aber alle gut und reinlich angezogen. Der Florentiner, welcher der kleinste war, hatte eine blaue Schärpe um den Leib. Alle gingen beim Bürgermeister vorbei, der einen nach dem andern auf die Stirne küßte, während ein Herr in seiner Nähe ihm leise und lächelnd die Namen der Städte nannte: – Florenz, Neapel, Bologna, Palermo … – und bei jedem der vorbeiging, klatschte das ganze Theater in die Hände. Dann gingen alle zum grünen Tischchen, um die Preise zu nehmen, der Lehrer begann das Verzeichnis zu lesen, indem er die Abteilung, die Klasse und den Namen nannte, und die Prämierten begannen hinauf- und wieder hinunterzusteigen.

Kaum waren die ersten hinaufgestiegen, als man hinter der Scene eine sehr sanfte Musik von Geigen hörte, welche während der ganzen Dauer des Verteilens nicht mehr aufhörte eine liebliche und immer gleiche Arie zu spielen, die ein Gemurmel von vielen leisen Stimmen schien, Stimmen von allen Müttern, Lehrern und Lehrerinnen, welche alle zusammen Rat zu geben, zu bitten und liebreiche Vorwürfe zu machen schienen. Und unterdessen gingen die Prämierten einer nach dem andern bei den sitzenden Herren vorbei, welche die Preise überreichten und für jeden ein Wort oder eine Liebkosung hatten. Im Parterre und in der Gallerie klatschten die Knaben jedesmal wenn ein sehr kleiner, oder einer der nach der Kleidung zu schließen arm war, hinaufging, und auch jenen klatschten sie zu, welche lange, lockige Haare hatten, oder weiß und rot gekleidet waren. Es stiegen solche aus der ersten Klasse hinauf, welche, oben angekommen, in Verwirrung gerieten und nicht mehr wußten wohin sie sich wenden sollten, und das ganze Theater lachte. Es war einer dabei, kaum drei Spannen hoch, mit einer großen, rosafarbigen Schleife über der Schulter, der kaum recht gehen konnte, an dem Bodenteppich stolperte und fiel; der Präfekt hob ihn auf und alle lachten und klatschten in die Hände. Ein anderer rollte über die Treppe hinunter, und gelangte so wieder ins Parterre; man hörte Angstgeschrei aber er hatte sich nicht wehe gethan. Gesichter aller Arten gab es da, Gesichter von Gassenbuben, Gesichter von Zaghaften, andere rotwangig wie Kirschen, welche jedermann ins Gesicht lachten; und kaum ins Parterre niedergestiegen, wurden sie von Väterchen und Mütterchen erhascht und fortgetragen. Als unsere Abteilung an die Reihe kam, ja da hatte ich zu schauen! Da waren viele, die ich kannte. Es kam Coretti, vom Kopf bis zu den Füßen neu gekleidet, mit seinem schönen, heitern Lächeln, das alle seine weißen Zähne sehen ließ: und doch, wer weiß wie viele Zentner Holz er diesen Morgen schon getragen hatte! Als der Bürgermeister ihm den Preis gab, fragte er ihn, woher er das rote Zeichen auf seiner Stirne habe und unterdessen legte er ihm eine Hand auf die Schulter: ich spähte im Parterre nach seinem Vater und seiner Mutter und sah, daß sie den Mund mit der Hand bedeckten und lachten. Dann kam Derossi, ganz blau gekleidet, mit glänzenden Knöpfen, mit seinen goldenen Locken, behend, ungezwungen, mit hoher Stirn, so schön, so sympathisch, daß ich ihm hätte einen Kuß schicken mögen, und alle die Herren wollten mit ihm sprechen und ihm die Hände drücken. Nun rief der Lehrer: – »Giulio Robetti!« – und man sah den Sohn des Artilleriehauptmanns vorwärts kommen. Hunderte von Knaben kannten den Vorfall, die Nachricht verbreitete sich in einem Augenblicke in der Versammlung, ein Sturm von Beifall und Rufen brach los, von dem das Theater erbebte; die Männer standen auf, die Damen schwenkten die Taschentücher und der arme Knabe, mitten auf der Bühne angekommen, hielt an, bestürzt und zitternd … Der Bürgermeister zog ihn an sich, gab ihm den Preis und einen Kuß, löste den Lorbeerkranz von der Stuhllehne und hing ihn ihm an das Querstück der Krücken … Dann begleitete er ihn bis zur Loge des Prosceniums, wo der Hauptmann, sein Vater, war und dieser hob ihn mit beiden Armen in die Höhe, und setzte ihn hinein, unter einem unbeschreiblichen Rufen von Bravo und Lebehoch. Und unterdessen spielte die sanfte und liebliche Musik der Geigen weiter und die Knaben folgten sich: die der Abteilung Della Consolata, fast alles Kaufmannssöhne; die der Abteilung Di Vanchiglia, Söhne von Handwerkern, diejenigen der Abteilung Boncompagni, von denen viele Bauernkinder sind; die der Schule Rayneri, welche die letzte war. Kaum war alles zu Ende, so sangen die sechshundert Knaben im Parterre ein anderes, sehr schönes Lied; dann sprach der Bürgermeister und nach ihm der Assessor, der am Schlusse seiner Rede zu den Knaben sagte: – … »Aber gehet nicht von hier fort, ohne denjenigen einen Gruß geschickt zu haben, welche für euch so viel arbeiten, welche euch alle Kräfte ihrer Intelligenz und ihres Herzens gewidmet haben, welche für euch leben und sterben.« Dort sind sie! – Und er zeigte auf die Gallerien der Lehrer. Und nun erhoben sich alle Knaben der Gallerien, der Logen, des Parterre, und streckten die Hände rufend gegen die Lehrerinnen und Lehrer, welche antworteten, indem sie sich erhoben und gerührt mit den Händen, den Hüten, den Taschentüchern winkten. Nachher spielte die Musik noch einmal und das Publikum schickte den in einer Reihe stehenden Knaben aller Provinzen, welche ihre Hände ineinandergeschlungen hatten, einen letzten, donnernden Gruß zu unter einem Regen von Blumensträußen.

Streit.

20. – Montag.

Und doch, nein, es geschah nicht aus Neid darüber, daß er einen Preis erhielt und ich keinen, daß ich mich diesen Morgen mit Coretti heftig zankte! Es war nicht aus Neid. Aber ich hatte doch unrecht. Der Lehrer hatte ihn neben mich gesetzt; ich schrieb in mein Schreibheft, er stieß mich mit dem Ellbogen, so daß ich einen Klecks machte und auch die Erzählung »Romagnolisches Blut« befleckte, die ich für das »Maurermeisterlein«, das krank ist, abschreiben mußte. Ich wurde zornig und sagte ihm ein häßliches Wort. Er antwortete mir lächelnd: – »Ich habe es nicht absichtlich gethan.« – Ich hätte ihm glauben sollen, da ich ihn kenne; aber es gefiel mir nicht, daß er lächelte und ich dachte: – »O! jetzt da er den Preis erhalten hat, wird ihm der Kamm geschwollen sein!« – und kurz nachher gab ich ihm, um mich zu rächen, einen heftigen Stoß, der ihm eine ganze Seite verdarb. Jetzt, ganz rot vor Zorn, sagte er zu mir: – »Du freilich hast es absichtlich gethan!« – und erhob den Finger, – der Lehrer sah her – Coretti zog den Finger zurück. Aber er sagte: – »Ich erwarte dich draußen!« – Ich schämte mich, die Wut hörte auf zu kochen, ich bereute. Nein, Coretti konnte es nicht absichtlich gethan haben. Er ist gut, dachte ich. Ich erinnerte mich an damals, als ich ihn in seinem Hause sah, wie er arbeitete, wie er seiner kranken Mutter beistand, und dann welche Freude ich ihm in unserm Hause bereitet und wie er meinem Vater gefallen hatte. Wie viel hätte ich gegeben, jenes Wort nicht gesagt, ihm diesen Schimpf nicht angethan zu haben. Und ich dachte an den Rat, den mir mein Vater geben würde: – »Hast du unrecht?« – »Ja.« – »Also bitte um Verzeihung.« – Aber dies zu thun hatte ich nicht den Mut, ich schämte mich, mich zu erniedrigen. Ich betrachtete ihn verstohlen, sah, daß seine Jacke an der Schulter zerschlissen war, vielleicht weil er zu viel Holz getragen hatte und ich fühlte, daß ich ihm gut sei und sagte mir: – »Mut!« – aber das Wort: – »Verzeih mir,« – blieb mir in der Kehle stecken. Er sah mich von Zeit zu Zeit von der Seite an und schien mir mehr gekränkt als zornig zu sein. Aber dann betrachtete auch ich ihn trotzig, um zu zeigen, daß ich keine Furcht habe. Er wiederholte: – »Wir werden uns draußen sehen!« – Und ich: – »Wir werden uns draußen sehen!« – Aber ich dachte an das, was mir mein Vater einmal gesagt hatte: – »Wenn du unrecht hast, verteidige dich, aber schlage nicht!« – Und ich sagte zu mir selbst: – »Ich werde mich verteidigen, aber ich werde nicht schlagen.« Aber ich war unzufrieden, traurig und hörte selbst den Lehrer nicht mehr. Endlich kam der Augenblick, wo wir hinausgingen. Als ich allein in der Straße war, sah ich daß er mir folgte. Ich hielt an und erwartete ihn, das Lineal in der Hand. Er näherte sich, ich erhob das Lineal. – »Nein, Heinrich,« sagte er, mit seinem guten Lächeln, das Lineal mit der Hand wegschiebend, – »seien wir wieder Freunde, wie bisher.« – Ich blieb einen Augenblick verwundert und dann war es mir als gebe eine Hand mir einen Stoß auf die Schulter und ich befand mich in seinen Armen. Er küßte mich und sagte: – »Keine Rauferei zwischen uns, nicht wahr?« – »Nie mehr! nie mehr!« – antwortete ich. Und wir trennten uns zufrieden. Aber als ich zu Hause ankam und meinem Vater alles erzählte, da ich glaubte, ihm Vergnügen zu machen, machte er ein finsteres Gesicht und sagte: – »du hättest zuerst ihm die Hand reichen sollen, da du unrecht hattest.« Dann sagte er: – »Du solltest nicht das Lineal gegen einen Kameraden erheben, der besser ist als du, gegen den Sohn eines Soldaten!« Und er riß mir das Lineal aus der Hand, brach es in zwei Stücke und warf es gegen die Wand.

Meine Schwester.

24. – Freitag.

Warum, Heinrich, bist du, nachdem dich unser Vater schon getadelt hatte, weil du dich gegen Coretti so schlecht betragen, nun auch gegen mich so unartig gewesen? Du kannst dir nicht vorstellen, welchen Schmerz ich empfand. Weisst du nicht, dass, als du noch ein ganz kleines Kind warst, ich Stunden und Stunden lang an deiner Wiege stand, anstatt mich mit meinen Gefährtinnen zu belustigen, und dass, wenn du krank warst, ich jede Nacht aus dem Bette stieg, um zu fühlen, ob deine Stirne fieberheiss sei? Weisst du es nicht, der du deine Schwester beleidigst, dass, wenn ein schreckliches Unglück uns treffen sollte, ich Mutterstelle an dir vertreten und dich lieben würde wie einen Sohn? Weisst du nicht, dass, wenn unser Vater und unsere Mutter nicht mehr sein werden, ich dann deine beste Freundin bin, die einzige, mit der du von unsern Toten und deiner Kindheit sprechen kannst, und die, wenn es nötig wäre, für dich arbeiten würde, Heinrich, um für dich Brot zu verdienen, um dir zum Studium zu verhelfen? dass ich dich immer lieben werde, wenn du gross sein wirst, dass meine Gedanken dir folgen werden, wenn du weit fortgehen wirst, – immer, denn wir sind mit einander aufgewachsen und haben das gleiche Blut. O Heinrich, sei sicher, wenn du ein Mann sein wirst, wenn dir ein Unglück begegnet, wenn du allein bist, gewiss, dann wirst du zu mir kommen und mir sagen: – »Silvia, Schwester, lass mich ein wenig bei dir bleiben, sprechen wir von den Zeiten, in denen wir noch glücklich waren, erinnerst du dich? sprechen wir von unserer Mutter, von unserem Hause, von jenen schönen, längst entflohenen Tagen.« O Heinrich, du wirst bei deiner Schwester immer offene Arme finden. Ja, lieber Heinrich, und verzeihe mir auch den Vorwurf, den ich dir jetzt mache. Ich werde mich nicht an ein Unrecht erinnern, das du mir je gethan, und wenn du mir auch noch mehr Schmerz bereiten würdest, was liegt daran? du wirst dennoch stets mein Bruder bleiben, ich werde mich an nichts mehr erinnern, als dass ich dich als kleines Kind auf meinen Armen getragen, Vater und Mutter mit dir geliebt, dich wachsen gesehen habe, während so vieler Jahre deine treueste Gefährtin gewesen bin. Aber du wirst mir ein gutes Wort in dieses gleiche Heft schreiben und ich werde vor abend zu dir kommen, um es zu lesen. Unterdessen habe ich für dich, um dir zu zeigen, dass ich dir nicht böse bin und da ich gesehen habe, dass du müde warst, die monatliche Erzählung »Romagnolisches Blut«, die du für das kranke Maurermeisterlein kopieren solltest, abgeschrieben, suche sie im linken Fache deines Tischchens; ich habe alles in dieser Nacht geschrieben, während du schliefest. Schreibe mir ein gutes Wort, Heinrich, ich bitte dich.

Deine Schwester Silvia.

Ich bin nicht würdig, dir die Hände zu küssen. Heinrich.

Romagnolisches Blut.

(Monatliche Erzählung.)

Heute war das Haus Ferruccios ruhiger als gewöhnlich. Der Vater, der einen kleinen Krämerladen hatte, war nach Forli gegangen um Einkäufe zu machen, und seine Frau hatte ihn mit Luigina begleitet, einem Mägdlein, das sie zum Arzte führte, um sein krankes Auge operieren zu lassen; sie konnten vor dem nächsten Morgen nicht zurück sein. Es war nahe an Mitternacht. Die Frau, welche den Tag über die Dienste verrichtet hatte, war gegen Dämmerzeit fortgegangen. Im Hause blieben nur die Großmutter mit gelähmten Beinen und Ferruccio, ein Knabe von dreizehn Jahren zurück. Es war eine Hütte mit nur einem Erdgeschoß, an der Straße gelegen, einen Flintenschuß weit von einem Dorfe, nicht sehr weit von Forli, einer Stadt in der Romagna; in der Nähe gab es nur ein unbewohntes Haus, welches zwei Monate vorher von einer Feuersbrunst zerstört worden war, und an welchem man noch das Schild eines Wirtshauses sah. Hinter dem Häuschen befand sich ein kleiner Gemüsegarten, von einem Zaun umgeben, durch welchen ein roh gearbeitetes Türchen führte; die Türe des Ladens, die auch als Haustüre diente, ging auf die Straße. Ringsherum breitete sich die Landschaft aus, weite, angebaute mit Maulbeerbäumen bepflanzte Felder.

Mitternacht war nahe, es regnete, der Wind wehte. Ferruccio und die Großmutter befanden sich noch wach im Wohnzimmer; zwischen diesem und dem Garten war ein kleines Zimmer mit alten Möbeln. Ferruccio war erst um elf Uhr, nach einer Abwesenheit von vielen Stunden, nach Hause gekommen und die Großmutter hatte ihn, von Angst gequält, schlaflos erwartet. Sie saß in einem breiten Armstuhl, auf dem sie den ganzen Tag und oft auch die ganze Nacht zubringen mußte, festgebannt, da sie sich wegen Atembeklemmungen nicht ins Bett legen konnte.

Es regnete und der Wind schlug die Tropfen gegen die Scheiben; die Nacht war rabenschwarz. Ferruccio war müde, beschmutzt, mit zerrissener Jacke heimgekehrt, das blutunterlaufene Zeichen eines Steinwurfes auf der Stirne; er hatte mit seinen Gefährten Steine geworfen, sie waren einander in die Haare geraten, wie gewöhnlich, und zum Schlusse hatte er gespielt und alle seine Soldi verloren und die Mütze in einem Graben gelassen.

Obgleich das Gemach nur von einem kleinen Öllichte, welches in der Nähe des Sessels auf einer Tischecke stand, erleuchtet war, so hatte die arme Großmutter sogleich gesehen, in welch' erbärmlichem Zustand sich ihr Enkel befand und zum Teil seine liederlichen Streiche erraten, zum Teil hatte er sie gebeichtet.

Sie liebte diesen Knaben von ganzem Herzen. Als sie alles wußte, fing sie an zu weinen.

– Ach! – sagte sie dann, nach langem Schweigen; – nein – du hast kein Herz für deine arme Großmutter. Du hast kein Herz, sonst würdest du die Abwesenheit deines Vaters und deiner Nutter nicht benützen, um mir solchen Schmerz zu bereiten. Den ganzen Tag hast du mich allein gelassen! Du hast nicht das geringste Mitleiden mit mir! Nimm dich in acht, Ferruccio! Du wandelst auf schlechten Wegen, die dich zu einem traurigen Ende führen. Ich habe schon andere gesehen, die anfingen wie du und ein böses Ende nahmen. Zuerst läuft man vom Hause weg, fängt mit den andern Knaben Streit an, verspielt seine Soldi und dann nach und nach geht es von den Steinen zum Messer, vom Spiel zu andern Lastern und von diesen … zum Diebstahl.

Ferruccio hörte zu; in einer Entfernung von drei Schritten stand er an einen Speiseschrank angelehnt, das Kinn auf die Brust gesenkt, die Stirne gerunzelt, noch ganz heiß vom Zorn des Streites. Ein Büschel schöner, kastanienbrauner Haare hieng ihm über die Stirne und die himmelblauen unbeweglichen Augen.

– Vom Spiel zum Diebstahl, – wiederholte die Großmutter, indem sie zu weinen fortfuhr. – Denke daran, Ferruccio. Denke an das unglückliche Beispiel unseres Dorfes, an Vito Mozzoni, der jetzt in der Stadt ein Herumstreicher ist; der im Alter von vierundzwanzig Jahren schon zweimal im Gefängnis war und dessen Mutter aus Herzeleid starb – die arme Frau, ich kannte sie, und sein Vater ist aus Verzweiflung in die Schweiz geflohen. Denke an dieses traurige Subjekt, das zu grüßen dein Vater sich schämt; immer steckt es in Gesellschaft von Bösewichtern, die noch schlimmer sind als er und eines Tages wird er auf den Galeeren sein Leben beschließen. Ja, ich habe ihn als Knaben gekannt, er hat begonnen wie du. Denke, daß du deinem Vater und deiner Mutter ein gleiches Ende bereitest, wie er den seinigen.

Ferruccio schwieg. Er hatte kein verdorbenes Herz, gar nicht; sein zügelloses Leben rührte mehr von allzugroßer Lebhaftigkeit und Kühnheit her, als aus schlechtem Herzen; und sein Vater hatte ihn gerade dadurch verzogen, daß er ihm die Zügel frei ließ, sich mit der Überzeugung beruhigend, daß der Knabe im Grunde ein besseres Gemüt habe und auch, wenn es darauf ankomme, einer großen und edelmütigen Handlung fähig sei; so hoffte er, daß er von selbst auf den rechten Weg kommen werde. Er war eher gut als verdorben, aber halsstarrig und verschlossen. Auch jetzt, als ihm das Herz zusammengepreßt war von Reue, und er im Begriffe stand um Verzeihung zu bitten, konnte er die schönen Worte nicht über seine Lippen bringen: Ja, ich habe unrecht, ich werde es nicht mehr thun, verzeihe mir. Oft war seine Seele voll weicher Gefühle; aber der Stolz ließ sie ihn nicht aussprechen.

– Ah! – Ferruccio! – fuhr die Großmutter fort, da sie ihn so stumm sah. – Nicht ein Wort der Reue sagst du mir? Du siehst in welchem Zustande ich bin; man könnte mich gleich begraben. Du solltest nicht das Herz haben, mir wehe zu thun, die Mutter deiner Mutter weinen zu machen, deine arme Großmutter, die so alt und ihrem letzten Tage so nahe ist, die dir immer gut war; die dich ganze Nächte hindurch wiegte, als du ein Kindlein von wenig Monaten warest, und die nichts aß, um sich für dich einen Bissen vom Munde abzusparen, du weißt es nicht! Ich sagte immer: – Das Kind wird mein Trost sein! – Und jetzt kränkst du mich zu Tode! Ich würde gerne dieses Stückchen Leben hingeben, könnte ich dich wieder gut und gehorsam sehen, wie in jenen Tagen … als ich dich zur Kirche führte, erinnerst du dich, Ferruccio! wie du mir die Taschen mit kleinen Steinen und Blumen fülltest und ich dich in meinen Armen eingeschlafen nach Hause trug? Damals warst du deiner armen Großmutter gut. Und jetzt, da ich gelähmt bin, da mir deine Zuneigung nötig wäre, wie die Luft zum Atmen, da ich sonst nichts auf der Welt habe, ich arme, halbtote Frau, mein Gott! mein Gott! …

Ferruccio war im Begriffe, von der Bewegung besiegt, sich der Großmutter an den Hals zu werfen, als er im benachbarten Zimmerchen, das auf den Gemüsegarten ging, ein leichtes klirrendes Geräusch zu hören glaubte. – Aber er wußte nicht, ob der Wind die Fensterflügel bewege, oder ob es etwas anderes sei.

Er lauschte.

Der Regen prasselte an die Fenster.

Das Geräusch wiederholte sich. Auch die Großmutter hörte es. – Was ist das? – fragte sie nach einem Augenblick beunruhigt.

– Der Regen, – murmelte der Knabe.

– Also, Ferruccio, – sagte die Alte, indem sie sich die Augen trocknete, versprichst du mir, daß du gut sein wirst, daß du deine arme Großmutter nicht mehr weinen machen wirst …

Ein neues, leichtes Geräusch unterbrach sie.

– Aber das scheint nicht der Regen zu sein! – rief sie erbleichend aus – … geh' und sieh' nach!

Aber sofort sagte sie: – Nein, bleibe da! – und ergriff Ferruccio an der Hand.

Beide hielten den Atem an. Sie hörten nichts als das Rauschen des Wassers.

Dann schauerten beide zusammen.

Es hatte ihnen geschienen, als hätten sie im Zimmerchen Fußtritte gehört.

– Wer ist da? – fragte der Knabe, mit gepreßtem Atem.

Niemand antwortete.

– Wer ist's? – rief Ferruccio wieder, vor Angst fast starr.

Aber kaum hatte er das Wort gesprochen, als beide einen Schreckensruf ausstießen. Zwei Männer waren ins Zimmer gesprungen; der eine ergriff den Knaben und preßte ihm die Hand auf den Mund; der andere würgte die Alte an der Kehle; der erste sagte: – Still, wenn du nicht sterben willst! – der zweite: – Schweiget! – und hob das Messer. Jeder hatte vor dem Gesichte ein dunkles Taschentuch mit zwei Löchern für die Augen.

– Einen Augenblick hörte man nichts als das unterdrückte Atmen von allen vieren und das Plätschern des Regens; die Alte röchelte leise und ihre Augen waren aus den Höhlen getreten.

Der, welcher den Knaben hielt, sagte ihm ins Ohr: – Wo hat dein Vater das Geld?

Der Knabe antwortete mit leiser Stimme und mit den Zähnen klappernd: Dort … im Schrank.

– Komm mit, sagte der Mann. Und er schleppte ihn ins Zimmer, indem er ihm die Kehle zusammendrückte. Dort stand eine Blendlaterne auf dem Boden.

– Wo ist der Schrank? – fragte er. Der Knabe, halb erstickt, bezeichnete den Schrank. Nun, um sicher zu sein, warf ihn der Mann vor dem Schrank auf die Knie, preßte ihm den Kopf zwischen die Beine, um ihn zu erwürgen, falls er schrie und die Laterne in der Hand, nahm er mit der andern ein spitzes Eisen, stieß es ins Schloß, drückte, erbrach es, öffnete die Türen, warf alles durcheinander, füllte sich die Taschen, schloß, öffnete wieder, durchstöberte den Schrank noch einmal: dann faßte er den Knaben wieder fester und stieß ihn ins Zimmer, wo der andere die Alte noch fest hielt, welche in Krämpfen lag und den Kopf mit offenem Munde rückwärts gedreht hatte.

Mit leiser Stimme fragte dieser: – Gefunden?

Der Gefährte antwortete: – Gefunden. Und fuhr fort: – Sieh' nach dem Ausgange. Der welcher die Alte hielt, lief zur Türe gegen den Garten, um nachzusehen, ob niemand da sei und sagte dann von der kleinen Kammer aus mit einer Stimme, die wie ein Pfiff tönte: – Komm.

Der, welcher zurückgeblieben war und Ferruccio noch hielt, zeigte dem Knaben und der Alten, welche die Augen wieder öffnete, das Messer und sagte: – Keinen Laut oder ich kehre zurück und schneide euch die Kehle ab.

Und er sah beide einen Augenblick fest an.

In diesem Augenblick hörte man von weitem auf der Straße einen Gesang vieler Stimmen.

Der Dieb wandte den Kopf schnell gegen den Ausgang und bei dieser raschen Bewegung fiel ihm das Tuch vom Gesichte.

Die Alte stieß einen Schrei aus: – Mozzoni!

– Verdammt! – heulte der erkannte Dieb. – Du mußt sterben!

Und mit erhobenem Messer näherte er sich der Alten, welche in Ohnmacht sank.

Der Mörder führte den Stoß.

Aber mit einer raschen Bewegung hatte sich Ferruccio, einen verzweifelten Schrei ausstoßend, auf die Großmutter gestürzt und sie mit dem eigenen Körper bedeckt.

Der Mörder floh, indem er an den Tisch stieß und das Licht umstürzte, welches erlosch.

Der Knabe glitt langsam an der Großmutter herunter und fiel auf die Knie und in dieser Stellung blieb er die Arme um ihren Leib geschlungen und den Kopf an ihrem Busen.

Einige Augenblicke verstrichen; dichte Finsternis herrschte; der Gesang der Bauern entfernte sich nach dem Felde hin. – Die Alte kam wieder zur Besinnung.

– Ferruccio! – rief sie mit kaum verständlicher Stimme, indem ihr die Zähne klapperten.

– Großmutter, – antwortete der Knabe.

Die Alte machte eine Anstrengung, um zu sprechen; aber der Schreck lähmte ihr die Zunge.

Sie blieb einen Augenblick still und zitterte heftig.

Dann gelang es ihr zu fragen: – Sind sie nicht mehr da?

– Nein.

– Sie haben mich nicht ermordet, – murmelte die Alte mit erstickter Stimme.

– Nein, Ihr seid gerettet, – sagte Ferruccio mit dünner Stimme. Ihr seid gerettet, liebe Großmutter. Sie haben das Geld fortgetragen. Aber der Vater … hatte ja fast alles mit sich genommen.

– Die Großmutter atmete auf.

– Großmutter, – sagte Ferruccio, immer noch auf den Knien, sie um den Leib haltend, – liebe Großmutter … ihr seid mir gut, nicht wahr?

– O Ferruccio! mein armer Sohn! – antwortete diese, indem sie ihm die Hände auf den Kopf legte, – welchen Schreck mußt du ausgestanden haben! O barmherziger Gott! Zünde ein wenig Licht an … Nein, bleiben wir lieber im Dunkeln, ich habe noch Furcht.

– Großmutter, – fuhr der Knabe fort, – ich habe Euch oft beleidigt … – Nein Ferruccio, rede nicht so, ich denke nicht mehr daran, ich habe dich so gern!

– Ich habe Euch immer weh gethan, – fuhr Ferruccio fort, mühsam und mit zitternder Stimme; – aber … ich habe Euch immer lieb gehabt. Verzeiht Ihr mir? … Verzeiht mir, Großmutter.

– Ja, mein Kind, ich verzeihe dir, ich verzeihe dir von ganzem Herzen. Wie sollte ich dir nicht verzeihen? Stehe auf, mein Kind. Ich werde dich nie mehr schelten. Du bist gut, du bist so gut! Wir wollen ein Licht anzünden. Wir wollen Mut fassen. Erhebe dich, Ferruccio.

– Dank, Großmutter, – sagte der Knabe mit immer schwächerer Stimme. – Nun … bin ich zufrieden. Ihr werdet mich nicht vergessen, Großmutter, … nicht wahr? Ihr werdet immer meiner gedenken; … Eures Ferruccio.

– Mein Ferruccio! – rief die Großmutter, verwundert und unruhig, indem sie ihm die Hände auf die Schultern legte und den Kopf neigte, als wolle sie ihm ins Gesicht sehen.

– Denket an mich – murmelte der Knabe, mit einer Stimme, die nur noch ein Hauch schien. – Gebet meiner Mutter … meinem Vater … Luigina … einen Kuß … Addio Großmutter.

– Um Gottes Willen, was hast du? – schrie die Alte ängstlich, das Haupt des Knaben befühlend, das auf ihren Knieen lag, und dann, mit aller Stimme, die sie noch hatte: Ferruccio! Ferruccio! Ferruccio! Mein Kind! Meine Liebe! Engel des Paradieses stehet mir bei!

Aber Ferruccio antwortete nicht mehr. Der kleine Held, der Retter seiner Großmutter hatte, von einem Messerstich in den Rücken getroffen, die schöne und mutige Seele Gott zurückgegeben.

Das todkranke Maurermeisterlein.

18. – Dienstag.

Das arme Maurermeisterlein ist schwer krank; der Lehrer sagte uns, wir sollten hingehen, um es zu besuchen. Garrone, Derossi und ich verabredeten miteinander hin zu gehen. Auch Stardi wäre gekommen, aber weil uns der Lehrer als Aufsatz die Beschreibung vom Monumente Cavours gab, sagte er, er müsse zum Denkmal gehen und es anschauen, um eine genauere Beschreibung machen zu können. So luden wir denn zur Probe auch den aufgeblasenen Nobis ein, der uns nur antwortete: – Nein! Auch Votini entschuldigte sich, vielleicht aus Furcht er könnte sich den Anzug mit Kalk beflecken. Wir gingen nach Schluß der Schule um vier Uhr. Es regnete, als ob man das Wasser aus Kannen vom Himmel gegossen hätte. Unterwegs stand Garrone still und sagte, den Mund voll Brot: – Was kaufen wir? – und ließ zwei Soldi in der Tasche klingen. Jeder gab zwei Soldi und wir kauften drei große Orangen. Wir stiegen in die Dachstube. Vor der Türe nahm sich Derossi die Medaille ab und steckte sie in die Tasche; wir fragten ihn warum: – Ich weiß es nicht, – antwortete er, – um nicht das Ansehen zu haben … es scheint mir besser ohne Medaille einzutreten. – Wir klopften an; der Vater, der riesengroße Mann, öffnete uns: er hatte ein sehr verändertes Gesicht und sah bekümmert aus. – »Wer seid ihr?« – fragte er. – Garrone antwortete: – Wir sind Schulkameraden von Antonio, wir bringen ihm drei Orangen. – Ach! armer Tonino, – rief der Maurer aus, indem er den Kopf schüttelte, – ich fürchte, er kann eure Orangen nicht mehr essen! – und er wischte sich die Augen mit dem Rücken der Hand. Er hieß uns eintreten: wir traten in eine Dachstube, wo wir das Maurermeisterlein, das in einem kleinen, eisernen Bett schlief, sahen: seine Mutter neigte sich wie selbstverloren aufs Bett, das Gesicht in beide Hände begraben, und wandte sich kaum um, uns zu betrachten; auf einer Seite hingen Maurerpinsel, ein Spitzhammer und ein Kalksieb; auf den Füßen des Kranken war die von Gips weiße Jacke des Maurers ausgebreitet. Der arme Knabe war abgemagert, sehr blaß, mit hervorstehender Nase, er atmete kurz. O lieber, guter, munterer Tonino, mein kleiner Kamerad, wie betrübte mich dein Zustand, wie viel hätte ich gegeben, dich das Hasenmäulchen machen zu sehen, armes Maurermeisterlein! Garrone legte ihm eine Orange aufs Kissen, in die Nähe des Gesichts: der Geruch weckte ihn, er ergriff sie sofort, aber dann ließ er sie fallen und sah Garrone starr an. – Ich bin es, – sagte dieser, – Garrone, kennst du mich? Ein Lächeln, das man kaum bemerkte, flog über sein Gesicht und er erhob mit Mühe die kleine Hand vom Bette und streckte sie Garrone hin, der sie zwischen die seinigen nahm und an die Wangen legte, indem er sagte: – Mut, Mut, Maurermeisterlein; bald wirst du gesund sein und wieder in die Schule kommen und der Lehrer wird dich neben mich setzen, bist du so zufrieden? – Aber das Maurermeisterlein antwortete nicht. Die Mutter brach in Schluchzen aus: – O mein armer Tonino! mein armer Tonino! Er ist so brav und gut, und Gott will ihn mir nehmen! – Schweige! – rief ihr der Maurer in verzweifeltem Tone zu, – schweige um Gotteswillen, oder ich verliere den Kopf. – Dann sagte er ängstlich zu uns: – Gehet, gehet meine Knaben; ich danke; gehet; was wollt ihr hier thun? Dank; gehet nach Hause. – Der Knabe hatte die Augen wieder geschlossen und schien tot. – Kann ich Euch irgend einen Dienst erweisen? – fragte Garrone. – Nein, guter Knabe, Dank, – antwortete der Maurer; – gehet nach Hause. – Und so sprechend schob er uns auf die Treppe und schloß die Türe wieder zu. – Aber wir waren noch nicht in der Mitte der Treppe angelangt, als wir ihn rufen hörten: – Garrone, Garrone! – Alle drei stiegen in Eile hinauf. – Garrone! – rief der Maurer mit erfreutem Gesicht, – er hat dich beim Namen gerufen, seit zwei Tagen hat er nicht mehr gesprochen, er hat dich zweimal gerufen, er will dich sehen, komm sofort. Ach, heiliger Gott, wenn das ein gutes Zeichen wäre! – Auf Wiedersehen, – sagte Garrone zu uns, – ich bleibe, – und er eilte mit dem Vater ins Zimmer zurück. Derossi hatte die Augen voll Thränen. Ich sagte zu ihm: – Weinst du wegen des Maurermeisterleins? Er hat gesprochen, er wird genesen. – Ich glaube es, antwortete Derossi; – aber ich dachte nicht an ihn … Ich dachte, wie gut, welch' schöne Seele Garrone ist.

Der Graf Cavour

29. – Mittwoch.

Du sollst die Beschreibung des Denkmals, das man dem Grafen Cavour errichtet hat, machen. Du kannst sie machen. Aber wer der Graf Cavour gewesen ist, kannst du jetzt nicht verstehen. Doch sollst du vor der Hand folgendes wissen: er war während mehrerer Jahre der erste Minister von Piemont; er ist es, der das piemontesische Heer in die Krim schickte, um durch den Sieg an der Cernaia unsern militärischen Ruhm, der mit der gänzlichen Niederlage von Novara dahin war, wieder aufzurichten; er ist es, der Italien in der feierlichsten Periode unserer Revolution regierte, der in jenen Jahren zu dem heiligen Einigungswerk des Vaterlandes den mächtigsten Anstoss gab, er, mit seinem glänzenden Genie, seiner unerschütterlichen Beharrlichkeit, seiner übermenschlichen Arbeitskraft. Viele Generäle brachten auf dem Schlachtfelde schreckliche Stunden zu; aber er verlebte noch schrecklichere in seinem Studierzimmer, bei dem Gedanken zitternd, dass sein ungeheures Werk, wie ein zerbrechliches Gebäude beim Stoss eines Erdbebens, von Augenblick zu Augenblick wieder in Trümmer stürzen könnte; Stunden, Nächte des Kampfes und der Angst, dazu angethan den stärksten Geist zu trüben und dem Herzen den Todesstoss zu geben. Und diese Riesenarbeit in sturmbewegter Zeit war es, die ihm das Leben um zwanzig Jahre verkürzte. Und doch, vom Fieber verzehrt, das ihn ins Grab bringen sollte, kämpfte er noch verzweifelt mit der Krankheit, um für sein Land zu wirken. – Es ist seltsam, sagte er kummervoll auf seinem Sterbebette, – ich kann nicht mehr lesen, ich kann nicht mehr lesen. – Während man ihm zu Ader liess und das Fieber zunahm, dachte er an sein Vaterland, und sagte gebieterisch: – Macht mich gesund, mein Verstand verdunkelt sich, ich habe alle meine Fähigkeiten notwendig, um wichtige Geschäfte zu erledigen. – Als er sich schon in der grössten Gefahr befand, und als die ganze Stadt in Bewegung war und der König ihm zu Häupten am Bette stand, sagte er mit grösster Mühe: – Ich habe Ihnen viel zu sagen, Sire, muss Ihnen viel zeigen; aber ich bin krank, ich kann nicht, ich kann nicht; – und er war untröstlich. Und immer waren seine Fiebergedanken mit dem Staate beschäftigt, mit den neuen italienischen Provinzen, die sich mit uns vereinigt hatten, mit den vielen Dingen, die noch zu erledigen blieben. Als das Delirium ihn ergriff, rief er unter schwerem Keuchen aus: – Erziehet die Jugend, – erziehet die Jugend … regieret mit der Freiheit. – Das Delirium wuchs, der Tod trat an ihn heran, und er rief mit fieberheissen Worten den General Garibaldi, mit dem er Misshelligkeiten gehabt hatte, herbei; Venedig und Rom, die noch nicht frei waren, beschäftigten ihn; er hatte Visionen von der Zukunft Italiens und Europas; er träumte von feindlichem Einfalle, fragte wo die Regimenter und Generäle seien, bebte noch für uns, für sein Volk. Wisse, sein grosser Schmerz war nicht der, sein Leben schwinden zu fühlen, sondern dass er sein Vaterland im Stiche lassen musste, das ihn noch so nötig hatte, und für welches er in wenig Jahren die wunderbare Kraft einer ungewöhnlichen Natur aufgezehrt hatte. Er starb mit dem Schlachtruf in der Kehle und sein Tod war gross wie sein Leben. – Nun denke ein wenig nach, Heinrich, was ist unsre Arbeit, die doch so hart drückt, was sind unsre Schmerzen, unser Tod selbst, im Vergleiche zu den Mühen, den ungeheuren Sorgen, den schrecklichen Todeskämpfen dieser Männer, denen eine Welt auf dem Herzen liegt! Denke an das, mein Sohn, wenn du bei diesem marmornen Bilde vorbeigehst, und sage in deinem Herzen: Ehre ihm!

Dein Vater.


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