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IV.
Oktoberereignisse

Mit raschen Schritten eilte er durch den Gang, der zu den Séparés führte. Eine Türe öffnete sich, und schwer schlug ihm die Luft entgegen, die aus Frauenparfüm, Blumenduft und Weindunst gemischt war. Im Zigarettennebel sah er die Anwesenden vom Sofa und den Fauteuils aufspringen.

»Wir haben gewartet, Kaiserliche Hoheit, und noch nicht begonnen«, rief Graf Hoyos mit fröhlicher starker Stimme. »Die beiden reizenden Damen sind keine Unbekannten«, fügte er mit einer Handbewegung nach zwei hübschen Mädchen hinzu, die als Operettensängerinnen einen Namen hatten, »und dies hier – ist Marinka.« Damit stellte er ein junges, zartes Geschöpf vor, das sich ein wenig im Hintergrund gehalten hatte. Schwarze, schimmernde Haare bedeckten einen ganz kleinen Kopf, mandelförmige Augen blickten aus einem Gesicht von brauner Hautfarbe. »Sie stammt aus dem südlichen Rußland«, fuhr der Graf fort, »aber in der Bukowina hat sie deutsch gelernt.«

Rudolf betrachtete die Zigeunerin und fand keine besonderen Reize an ihr. Er grüßte sie mit einem freundschaftlichen Nicken des Kopfes und wandte sich dem zweiten Herrn zu, der im Zimmer anwesend war, um ihm herzlich die Hand zu schütteln. Philipp von Coburg, ein Mann mit wettergebräunten Zügen, der die Jünglingsjahre schon hinter sich hatte und dessen Schläfen zu ergrauen begannen, war Rudolfs ständiger Gefährte bei Jagden und Vergnügungen.

»Und jetzt, meine Freunde, wollen wir essen«, rief der Kronprinz gutgelaunt. »Die Tändeleien des Tages sind vorüber, der Ernst des Lebens beginnt. Trinken wir! Hoyos, schenken Sie mir, zu Ehren Marinkas einen Wodka ein!« Auf einen Zug leerte er sein Glas.

 

Spät in der Nacht begann die Zigeunerin zu singen. Auf ihren Wunsch hatte man die meisten Kerzen verlöscht, die das Zimmer beleuchteten. Ihr Begleiter war mit einer Gitarre eingetreten. An die Wand gelehnt, sang Marinka mit zurückgelegtem Kopf, den Blick in die Ferne gerichtet. Der Umfang ihrer Stimme überraschte. Mit einem angeborenen musikalischen Gefühl verband sie einen eigenartigen Vortrag, der die abgebrauchtesten Melodien neu und ergreifend werden ließ. Mit rührender Melancholie sang sie die Zigeunerweisen und die russischen Lieder, und selbst wenn sie übermütig war, schienen verhaltene Tränen in ihrer Stimme zu liegen.

Nichts hätte Rudolfs kranker Seele an diesem Abend wohler tun können. Ein tiefer Schmerz, den er nicht abschütteln wollte, legte sich über ihn. Wie konnte er nach diesem Auftritt mit Johann Salvator überhaupt noch weiterleben? Er beweinte sein verfehltes Leben, in dem jede Stunde des Glücks zerrann, noch ehe er sie erreicht hatte. Marinkas Stimme, die seine Verzweiflung geweckt hatte, brachte ihm aber auch den einzigen Trost, das Vergessen. Er wollte sie immer weiter singen hören. Als sie endlich verstummte, zog er sie an sich und faßte nach ihrer Hand. So saßen sie lange, ohne zu sprechen. Plötzlich neigte sie sich über ihn, ihre Lippen streiften wie ein Hauch seine Stirn und sie flüsterte:

»Biedni!« Armer

»Was bedeutet dieses Wort?« fragte Rudolf.

Sie antwortete nicht. Niemand verstand, was sie gesagt hatte.

»Das ist russisch«, meinte Hoyos. »Von dieser Sprache kenne ich nur das einzige Wort ›Nitschewo‹, und auch von dem weiß ich nicht genau, was es bedeutet.«

 

Eines Morgens gegen neun Uhr, während Loschek noch damit beschäftigt war, in dem Salon, der neben dem kleinen Schlafzimmer des Kronprinzen lag, Ordnung zu machen, erlebte er eine große Überraschung.

Die Tür ging auf und die Kaiserin trat ein. Sie war allein, schwarz gekleidet und trug ihren kleinen Fächer in der Hand. Sie war noch nie in den Zimmern ihres Sohnes erschienen und überdies war es ganz ungewöhnlich, daß keine ihrer Hofdamen sie begleitete. Daß sie ohne Gefolge, ohne Dienerschaft die vielen Räume durchschritten hatte, die ihre Gemächer von denen Rudolfs trennten, war für einen Lakaien, der seit so vielen Jahren in der Hofburg lebte, Ursache genug zur Verwunderung.

Mit ihrem leichten, schnellen Schritt, an dem sich seit ihrer Jugend nichts geändert hatte, kam sie auf Loschek zu, der in stummer Verbeugung verharrte.

»Ist mein Sohn nicht hier?« erkundigte sie sich.

»Seine Kaiserliche Hoheit erteilt im kleinen Saal neben der Säulenstiege Audienzen«, meldete Loschek. »Wenn Eure Majestät befehlen, werde ich Seiner Kaiserlichen Hoheit melden …«

»Nein«, unterbrach die Kaiserin, »ich will ihn nicht stören. Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu sprechen, Loschek.«

Der Diener blickte sie entgeistert an. Dies überstieg sein Fassungsvermögen. Die Kaiserin fuhr fort:

»Wie geht es ihm, Loschek? Sie sind immer um ihn gewesen, Sie kennen ihn ebensogut wie ich selbst. Ich finde, daß er seit einiger Zeit schlecht aussieht. Fehlt ihm etwas? Ist er vielleicht erkältet oder überarbeitet?«

»Das ist es, Eure Majestät«, gab Loschek zur Antwort, »das und nichts anderes. Seine Kaiserliche Hoheit ist abgespannt … Weiter fehlt ihm nichts … Es ist wahr, er schläft unruhig. Wenn ich früh in sein Zimmer trete, bemerke ich es. Manchmal stöhnt er aus dem Schlaf … Oft bringe ich es schwer über mich, ihn zu wecken, aber der Befehl … Er würde mir nie verzeihen, wenn er sich durch meine Schuld verspätete. Er geht zu spät zu Bett, auch das ist wahr … Aber sein Leben ist einmal so.«

Er verstummte. Die Kaiserin, deren Gesicht halb hinter dem Fächer verborgen war, hatte reglos der langen Rede zugehört. Als Loschek aber hinzufügte: »Seine Kaiserliche Hoheit wird über die Nachricht tief gerührt sein, daß Eure Majestät sich persönlich hierher bemüht haben«, unterbrach sie ihn lebhaft:

»Sie werden ihm nichts davon sagen, Loschek, ich verbiete es. Ich werde vielleicht an einem der nächsten Tage wiederkommen.«

Sie ging einige Schritte durch den Raum und betrachtete die Einrichtung. Ihre Blicke blieben schließlich an dem Schreibtisch haften. Von dort grinste sie der Totenschädel an. Sie zuckte die Achseln, ging aber noch näher und betrachtete den Totenkopf mit großer Aufmerksamkeit; dann wandte sie sich langsam, wie mit zögerndem Bedauern ab. Neben der Schreibmappe entdeckte sie einen Revolver. Sie deutete mit der Hand danach und sprach vorwurfsvoll zu Loschek:

»Den lassen Sie so hier liegen? Das ist unrecht! Sehr unrecht …« Mit diesen Worten eilte sie so rasch aus dem Zimmer, daß Loschek nicht einmal Zeit blieb, die Türe für sie zu öffnen. Sie verschwand, und nur ein leichter Duft von Heliotrop blieb zurück.

Allein geblieben, fiel der Kammerdiener auf einen Stuhl, so sehr zitterten ihm vor Aufregung die Beine. Es dauerte lange, bevor er sich so weit gefaßt hatte, daß er in Ruhe über die Bedeutung der Worte nachsinnen konnte, die die Kaiserin gesprochen hatte.

 

In jenem Jahre gab es in der zweiten Hälfte Oktober wundervolles Wetter in Wien. Unter den Bäumen der Prateralleen, deren Blätter noch wenig von ihrem saftigen Grün eingebüßt hatten, gaben sich Reiter und Equipagen ein Stelldichein, um die letzten schönen Tage des Jahres zu genießen. Damen der Aristokratie und Geschäftsleute, Offiziere und Schauspielerinnen, alle Schichten der Wiener wohlhabenden Kreise waren hier vertreten. In einer vornehmen Viktoria fuhr eine zarte Frau vorbei, die den Typus einer Zigeunerin hatte und scheu in die Ecke des Wagens geschmiegt saß, ohne ihrer Umgebung einen Blick zu schenken. Wenige wußten, wer sie war; bloß einige Eingeweihte flüsterten, daß sie eine Russin wäre, die Marinka hieß, und daß der Kronprinz an ihr Gefallen gefunden hätte …

Fast jeden Nachmittag sah man den Landauer der Baronin Vetsera durch die Hauptallee rollen. Niemand grüßte lebhafter nach allen Seiten als diese liebenswürdige Frau. Stets war Mary in ihrer Gesellschaft, manchmal auch ihre ältere Tochter Hanna.

Aber Mary kam vergeblich in den Prater; der Kronprinz ließ sich hier nicht mehr blicken. Er war auf der Jagd oder in Prag, in Budapest, in Graz, vielleicht auch in Wien, aber nicht im Prater. Seit etwa vierzehn Tagen erschien er auch nicht mehr in den Hoftheatern, die Mary regelmäßig besuchte, wenn der Kronprinz nicht verreist war. Bloß ein einziges Mal, am 14. Oktober, hatte sie ihn seit ihrem denkwürdigen Gespräch mit der Gräfin Larisch in der Festvorstellung gesehen, mit der das neue Burgtheater am Franzensring eingeweiht wurde. Damals war ihr Glück so groß gewesen, daß sie gemeint hatte, ein ganzes Leben damit erfüllen zu können. Doch als dann eine Woche vergangen war, ohne daß sie ihn wieder zu Gesicht bekommen hatte, verfiel sie in düstersten Trübsinn. Sie lebte wohl in dem fröhlichsten Hause Wiens, doch sie fühlte sich in all dem Lachen vereinsamt, verlassen, überflüssig. Nichts gab es hier, was ihr zu Herzen gegangen wäre, nichts konnte sie zerstreuen. Sie horchte nur auf, wenn der Name des Kronprinzen fiel, doch sie bemerkte, daß man oft die Stimme senkte, wenn man in ihrer Gegenwart von ihm sprach. Anfangs beunruhigte sie dies; sollte man etwas über ihre Gefühle erraten haben? Nein, das war unmöglich. Die Gräfin Larisch war eine so verläßliche Freundin, daß sie an ihrer Verschwiegenheit nicht zweifeln konnte. Dieses geheimnisvolle Tuscheln mußte andere Gründe haben. Was gab es wohl in Rudolfs Leben, das man mit solcher Sorgfalt vor Mädchenohren verbarg? Unglückseligerweise weilte die Gräfin in Böhmen auf ihrem Schloß, und Mary wagte nicht, sie brieflich zu befragen; denn hätte die Baronin Vetsera auf einem Briefumschlag die Handschrift ihrer Freundin erkannt, sie hätte ihn ohne Zögern geöffnet.

Elisabeth

Elisabeth

So lebte die arme Mary in Sorge und Unruhe. Sie liebte, und ihre Liebe war hoffnungslos. Und doch konnte und wollte sie dieser Liebe nicht entsagen.

Eines Tages kam sie mit erneuter Zuversicht in den Prater. Der Kronprinz war seit zwei Tagen in Wien und noch nicht ausgeritten. Es waren schon fast drei Wochen, daß sie einander nicht begegnet waren; hatte er gar kein Verlangen danach, sie zu sehen? Bei dieser Frage lächelte Mary melancholisch vor sich hin. Wie hätte sie sich einbilden dürfen, daß dieser schöne Prinz, den so viele Frauen liebten, noch an sie dachte!

Die Sonne war schon im Untergehen, der Landauer war zum zweiten Male vom Lusthaus bis zum Praterstern getrabt, Rudolf war nicht erschienen! Mary fühlte sich ganz erfroren. Die Baronin bemerkte ihre Blässe und fragte, ob ihr kalt sei. Mary griff gerne nach der Möglichkeit, ein wenig länger im Prater zu bleiben, und erwiderte, daß es allerdings kühl wäre und daß sie gerne mit ihrer Schwester ein wenig zu Fuß gehen wollte, um sich zu erwärmen. Die Baronin hatte nichts dagegen, doch sie selbst blieb im Wagen; sie haßte das Spazierengehen.

Mary und Hanna stiegen aus und schritten den Fußweg entlang, der neben der Hauptallee dahinführt.

Als sie beim zweiten Rondeau dem Seitenweg folgten, der entlang dem Heustadelwasser ein wenig tiefer unter die Bäume führt, sahen sie plötzlich einen Reiter in Uniform vor sich, der sein Pferd angehalten hatte, um sich mit einer Dame zu unterhalten, die, vom Pferd halbverdeckt, neben ihm stand. Der Offizier drehte den beiden Mädchen den Rücken zu, doch während sie näherkamen, begann Marys Herz stürmisch zu schlagen. Als sie eben im Begriff waren, in einem Bogen um das Pferd herumzugehen, richtete der Offizier sich auf, und Mary erkannte den Kronprinzen. Ihre Verwirrung war grenzenlos; im ersten Augenblick senkte sie die Blicke, doch gleich danach sah sie wieder auf. Rudolf betrachtete sie; sie war nur wenige Schritte von ihm entfernt, noch nie war sie ihm so nahe gewesen. Jetzt erkannte sie auch die Frau, die neben ihm stand: es war die dunkelhäutige Fremde, die ihr schon öfters in einer Viktoria begegnet war. Als eine Beute der widerstreitendsten Gefühle, die auf sie einstürmten und die sie nicht zu zergliedern vermochte, vor allem aber aus Furcht, neugierig zu erscheinen, wandte sie den Kopf ab. Wo nahm sie bloß die Kraft her, ihren Weg fortzusetzen, die Fragen ihrer Schwester zu beantworten, die von dieser überraschenden Begegnung lebhaft angeregt war! Sie hatte noch keine fünfzig Schritte gemacht, als sie den frischen Trab eines Pferdes hinter sich hörte. Der Kronprinz ritt an ihr vorbei; er hatte den Kopf ein wenig nach ihrer Seite gedreht, und Mary glaubte, daß er sich in kaum merklicher Art gegen sie verneigte.


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