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In dem Wirbel von Gefühlen und Eindrücken, die Mary an jenem Tage mit nach Hause brachte, überragten die letzten Minuten ihres Beisammenseins mit dem Kronprinzen alle anderen Erinnerungen. Dieser seltsame Abschied bedrückte sie noch lange; seine flehende Stimme lag ihr im Ohr, sie meinte seinen keuchenden Atem noch immer zu fühlen. Er war also nicht glücklich! Sie hatte es richtig gefühlt. Wie hätte er auch in diesem Leben glücklich sein können! Aber so elend hatte sie ihn nicht vermutet. Er brauchte sie also, sie, Mary Vetsera, mit der er zum ersten Male gesprochen hatte! Klang das nicht unglaublich? Doch konnte sie daran zweifeln? Er litt darunter, daß sie von ihm fort mußte. Verzweiflung und Glück! Sie machte sich Vorwürfe, zu wenig zärtlich gewesen zu sein, es nicht verstanden zu haben, ihn zu trösten. Die armseligen Worte, die sie gesprochen hatte, erschienen ihr jetzt erbärmlich. »Was wird er von mir denken?« sagte sie sich. »Wird er mich für gefühllos halten?«
Dann fegte der Sturm ihres Glücks die Wolken ihrer Bedenken fort. Alles verflüchtigte sich vor der strahlenden Gewißheit: »Er liebt mich!« Ließ sich das in Worten ausdrücken? Von Rudolf geliebt zu werden! Hatte sie jemals in ihren kühnsten Träumen ein solches Wunder erhofft? Noch keinen Monat war es her, noch keine Woche, daß er ihr so fern, so unnahbar erschienen war … Und gestern hatte er zu ihren Füßen gesessen, sie hat seine Hand streicheln dürfen, er hat an ihrer Schulter fast geweint. War es denn Wirklichkeit? Und nichts weiter hatte er von ihr verlangt; aber sie fühlte, daß sie vielleicht gerade darum seinem Herzen so nahe stand, daß gerade darin die Tiefe seiner Gefühle lag. Wieviele Frauen waren schon durch sein Leben gegangen, doch hatte er schon zu irgendeiner von ihnen so gesprochen wie gestern beim Abschied zu ihr? Nein, dessen war sie sicher und darauf war sie stolz! Sie hatte Saiten in ihm zum Schwingen gebracht, die ihr die schönsten schienen und die niemals für eine andere klingen würden.
Doch die Liebe kennt keine Ruhe. Zu viel Trennendes lag zwischen ihnen. Wie konnte sie ihn wiedersehen? Ihre Tage und ihre Nächte waren von der Sorge erfüllt, den Weg zu ihm zu finden. Allein konnte sie nicht ausgehen. Stets wurde sie von ihrer Mutter begleitet, die sie nicht einmal einer Kammerfrau anvertraute. Die Gräfin Larisch war die einzige, auf die Mary bauen konnte. Aber stand denn die Gräfin immer zur Verfügung? Hatte sie nicht ihre eigenen Wege, einen Gatten, ein Schloß fern von Wien? Durfte Mary es wagen, zufällige Abwesenheiten von Mutter und Schwester zu benützen, um sich fortzustehlen und sich damit in die Hände der Dienerschaft liefern? Sie wußte, was ihr Schicksal wäre, wenn die Baronin irgendeinen Verdacht schöpfte! Bestimmt würde man sie gleich aus Wien fortbringen, wahrscheinlich so lange in ein Kloster sperren, bis sich ein Gatte für sie gefunden hätte.
Ihre gute alte Amme konnte ihr gar keine Hilfe sein. Nur gerade zur Vermittlung von Briefen war sie zu verwenden. Aber selbst dies kam augenblicklich nicht in Betracht, denn in der Erregung ihres ersten Beisammenseins hatte sie ganz vergessen, diese Frage mit Rudolf zu besprechen. Das nächste Mal mußte sie sicher daran denken!
Das nächste Mal – wann würde das sein? Niemals war ihr eine Woche endloser erschienen! Die Gräfin war für die wenigen Tage der Abwesenheit des Kronprinzen nach Pardubitz zurückgereist und hatte versprochen, gleichzeitig mit ihrem Vetter wieder in Wien einzutreffen. Mary hatte jetzt niemanden, mit dem sie sich aussprechen konnte. Selbst ihrer alten Bonne, die bis dahin die tägliche Vertraute aller ihrer Sorgen und Hoffnungen gewesen war, hatte sie nicht mehr gewagt, von dem Besuch in der Hofburg zu erzählen. Jetzt war ihr die Sache zu ernst. Niemand, auch die Alte nicht, durfte wissen, was sich ereignet hatte.
Doch ebensowenig wie Kummer, verträgt Glück sich mit Schweigen. Noch kein Tag war vergangen, als Marys allzu volles Herz gegen ihre alte Vertraute überfloß. Sie konnte den Wunsch nicht unterdrücken, ihr den Ring zu zeigen. Diesmal war die Alte, sonst gegen »ihr Kind« so nachsichtig, ganz außer sich. Aus ihrer Besorgnis schöpfte sie sogar die Kraft, Mary ins Gewissen zu reden und ihr den Abgrund zu zeigen, dem sie entgegeneilte:
»Wo soll das bloß hinführen, Kind? Nur ein Unglück kann daraus entstehen, gar nichts Gutes … Du weißt, wie verwöhnt unsere Erzherzoge sind; sie pflücken im Vorbeigehen eine hübsche Blume und werfen sie nach wenigen Schritten fort. Dann bücken sie sich nach einer andern. Erwartest du etwas besseres? Heiraten kann er dich nicht, und du, mein armes Kind, hast ein viel zu weiches Herz, du wirst darunter leiden …«
Sie hatte Marys Hand ergriffen und drückte zärtlich ihre Lippen darauf. Mary sah, daß sie wirklich in Sorge war, aber sie war nicht in der Stimmung, sich trüben Gedanken hinzugeben. Sie lachte und flüsterte der alten Frau ins Ohr:
»Du kennst ihn nicht. Wärest du zwanzig Jahre alt, du würdest anders sprechen.«
Freitag endlich ließ die Gräfin sich bei der Baronin melden. Der Kronprinz war am Abend zuvor in Wien eingetroffen; Mary wußte es. Doch würde sie ihn Sonnabend sehen können, würde er sie sehen wollen? Die ersten Worte der Gräfin zerstreuten ihre Zweifel. Sie bat die Baronin, Mary am nächsten Tage nachmittags zu einem Spaziergang abholen zu dürfen.
»Das Kind ist so fröhlich«, sagte sie, »und es ist so langweilig, alle Besorgungen allein machen zu müssen. Vertrau' mir die Kleine ruhig an, ich werde sie heil wieder zurückstellen.«
Diesmal machte die Mutter einige Schwierigkeiten. Nicht etwa, daß sie die Vertrauenswürdigkeit ihrer Freundin im mindesten angezweifelt hätte, aber sie hatte selbst vorgehabt, mit Mary auszugehen. Da sie jedoch gutmütig war, kam es unschwer zu einer Verständigung, und man einigte sich dahin, daß die Baronin die beiden Damen um fünf Uhr im Grand Hotel zum Tee treffen sollte.
Wieder fand sich Mary in der Hofburg und betrachtete durch das Fenster das Leben auf dem Burgplatz.
Die Gräfin hatte sie diesmal nur bis an die Albrechtsrampe gebracht und in ihren Abschiedsworten hatte ein leichter Anflug von Ironie gelegen. »Du bist jetzt schon ein so erfahrenes Mädchen, Mary«, hatte sie gesagt, »daß ich dich ruhig allein weitergehen lassen kann.« Das so eigentümlich betonte Wort »erfahren« hatte Mary bedrückt. »Was meint sie wohl?« Über diese Frage grübelnd, auf die sie sich keine Antwort zu geben hatte als ein leichtes Erröten, war sie dem Kammerdiener auf dem schon vertrauten Weg gefolgt, dessen Gefahren sie gar nicht empfand. Den kleinen Salon, in den Loschek sie eintreten ließ, hatte sie leer gefunden.
»Seine Kaiserliche Hoheit wird im Augenblick erscheinen«, sagte der Lakai, während er hinter ihr die Türe schloß.
Der Raum war mit weißen Azaleen und Chrysanthemen wundervoll geschmückt. »Trotz seiner vielen Sorgen hat er Zeit gefunden, daran zu denken«, sagte sich Mary gerührt. Selbst der Totenkopf auf dem Schreibtisch schien sie heute schon vertrauter und freundlicher anzugrinsen. Mary trat näher, aber mit dem Gedanken, daß der Tod Rudolfs ständiger Gesellschafter sei, konnte sie sich doch nicht befreunden. Und auch der Revolver lag noch immer da! Düstere Gefährten! Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und legte ihre Hand auf den schimmernden Schädel. Seine Kälte ließ sie erschauern.
»Hat das kleine Mädchen gar keine Furcht?« erklang plötzlich eine Stimme hinter ihr. Sie fuhr zusammen. Der Kronprinz war, ohne daß sie seinen Schritt gehört hatte, hinter sie getreten. Er trug diesmal seinen einfachen grauen Jagdanzug; so hatte sie ihn noch nie gesehen, es war eine Überraschung für sie.
»Ist das auch wirklich noch der kaiserliche Prinz?« fragte sie lächelnd. »Fast hätte ich ihn nicht erkannt.«
»Dann will ich rasch wieder meine Uniform anziehen. Und ich war doch so glücklich, sie endlich los zu sein!«
Sie sah ihn an.
»Nein, bleibe. Du bist mir in jeder Gestalt gleich lieb.«
Er schloß sie in seine Arme.
»Wie habe ich auf dich gewartet! Die letzte Stunde schien endlos.«
»Du bist auch in keiner sehr lustigen Gesellschaft hier«, meinte sie mit einer Handbewegung nach dem Totenschädel. »Und dann noch dies dort.« Sie wies nach dem Revolver.
»Die Waffe«, gab Rudolf achselzuckend zurück, »die gehört zum Beruf. Vergiß nicht, reizendes, kleines Mädchen, daß ich vor allem Soldat bin. Schon mit vier Jahren trug ich meine erste Uniform. Kannst du dir so einen Knirps als Offizier verkleidet, mit Säbel, Tschako und Feldbinde, vorstellen? Ich glaube, meinen ersten Revolver hängte man mir um, als ich zwölf Jahre alt war. Ja, das war meine Kindheit. So einem armen Soldaten muß man vieles nachsehen.«
Wie liebte Mary diesen scherzenden Ton! In die Arme des Kronprinzen geschmiegt, glaubte sie im siebenten Himmel zu sein und hielt sich ganz still. Jetzt sprach Rudolf vom Totenschädel:
»Es ist doch gar nichts Erschreckendes an ihm. Glaub' mir, der, dem er einst gehörte, war ein Unglücklicher …«
»Du hast ihn gekannt?« unterbrach ihn Mary erregt.
»Aber nein. Ich wollte bloß sagen, er war ein Unglücklicher, wie wir alle es sind. Er hatte vielleicht eine eifersüchtige Frau und Zahnschmerzen und mehr Ärger, als er ertragen konnte. Und wenn dann eines Tages statt des zänkischen Weibes, statt aller Sorgen – der Friede kommt … Findest du das so schrecklich? Ich für meinen Teil sehe darin eine Beruhigung …« Er neigte sich über Mary und sah ihre blauen Augen voll auf sich gerichtet. »Doch lassen wir das. Das mag für meine einsamen Stunden gut sein, wenn es mir nicht vergönnt ist, dein schönes, junges Gesicht zu betrachten.« Er führte Mary zu dem Sofa und half ihr, Hut und Mantel abzulegen. »Hier ist jetzt dein Reich, und ich bin dein Sklave. Das habe ich dir das letzte Mal bewiesen. Niemals werde ich das mindeste tun, was deinen eigenen Wünschen zuwider ist. Du bist hier nicht weniger in Sicherheit als bei dir zu Hause, in der Salesianergasse.«
Eine Stunde verflog wie im Traum. Rudolf war niemals heiterer gewesen, hatte niemals so fröhlich gelacht wie in dieser Stunde. Er erzählte von seinen Jagden, wie glücklich er schon als Knabe dem Wild nachgespürt hatte.
»Auf der Jagd bin ich zum erstenmal mit der Natur in Berührung gekommen. Was weiß man von der Natur, wenn man in einem Garten oder in einem Park aufgewachsen ist! Wie bedaure ich die Stadtkinder, mögen sie arm oder reich sein, die niemals erfahren, was ein richtiger Wald ist. Um das zu wissen, muß man als Kind den Wald kennen lernen, man muß stundenlang zwischen den Bäumen gewandert, in der Mittagsschwüle auf dem Moos geruht haben. Man muß Furcht gehabt haben, wenn die Dämmerung hereinbrach, daß es Nacht werden würde, ehe man aus dem Walde draußen war. –
Alles das habe ich erlebt, noch ehe ich zehn Jahre alt war …«
Mary wurde nicht müde, ihm zuzuhören. »Kann jemand poetischer fühlen als er? Kann es einen prächtigeren Menschen geben?« sagte sie sich. »Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht. Ich bin das glücklichste Mädchen der Welt, daß ich hier bei ihm sitzen und ihm zuhören darf.« Als er verstummte, sagte sie zu ihm:
»Willst du mich nicht einmal mit dir in den Wald nehmen? Wenn du nur zwei freie Stunden hättest … Aber ich bin zu unbescheiden, das wäre ja fast ein halber Tag … Und dann ist jetzt Winter, da wird es draußen nicht so schön sein.«
»Der Wald ist immer schön, seine Schönheit wandelt sich nur mit den Jahreszeiten, aber sie vergeht nicht. – Ja, wir beide wollen einmal in den Wald hinausgehen …«
»Und wir werden uns dort verirren, ich werde Furcht haben und mich ganz eng an dich drücken.«
»Und wir bleiben zusammen, um nie mehr zurückzukehren!«
Als die Stunde des Abschieds kam, rief Mary empört: »Aber ich bin doch eben erst gekommen!«
Rudolf blickte auf seine Uhr und traute kaum seinen Augen. »Ist es möglich, daß zwei Stunden so verfliegen?«
»Ich soll schon fort?« Mary war dem Weinen nahe. »Laß mich noch eine Weile hier …«
Dieser stille Nachmittag, an dem sich nichts ereignet hatte, an dem nicht das mindeste geschehen war, woran die Erinnerung sich hätte klammern können, blieb ihnen beiden trotzdem als der glücklichste im Gedächtnis, den sie erlebt hatten.
Trübere Stunden sollten folgen. In der nächsten Woche verbrachte Rudolf einen Tag in Prag und zwei auf der Jagd. Doch unglückliche Verkettungen führten es herbei, daß die Gräfin Larisch während der übrigen Tage nicht in Wien war. Wie in einem Gefängnis irrte Mary in ihrer Wohnung herum. War ein grausameres Geschick zu ersinnen? Er sehnte sich nach ihr, er wartete auf sie in ihrem kleinen blumengeschmückten Paradies in der Hofburg, und sie hatte keine Möglichkeit, zu ihm zu eilen, wie jeder Pulsschlag es ihr gebot!
Der einzige Lichtblick waren zwei zärtliche Briefe, die sie von ihm erhielt. Sie waren ganz einfach an die alte Amme adressiert, die in ihrem ganzen Leben noch nicht so viel Briefe bekommen hatte. Der Kronprinz hatte ihr aus Prag geschrieben; es war nur eine kurze Zeile, aber sie enthielt für Mary mehr als alle Bücher der Welt: »Wie soll ich ohne dich das Leben ertragen?«
Der zweite Brief war aus Wien. Er klagte über Ärgernisse, die er nicht näher beschrieb, und deren Art Mary nicht zu erraten vermochte … Vielleicht mit seiner Frau? Mary haßte jetzt diese Frau. Wer war denn diese belgische Bäuerin, die es nie verstanden hatte, in ihrem Mann Liebe zu erwecken? Lag ihr Lebenszweck nur darin, den bewundernswertesten aller Männer unglücklich zu machen? Seit mehr als einem Jahr drohte sie, ihn zu verlassen. Warum kehrte sie denn nicht endlich nach Belgien zurück? Die schmerzliche Falte zwischen Rudolfs Brauen würde dann rasch verschwinden!
Mary beantwortete seine Briefe, indem sie die ihren an Loschek adressierte und durch einen Dienstmann in die Hofburg bringen ließ. »Ich liebe dich«, schrieb sie, »und ich bin unglücklich. Wie ist das zu begreifen? Ich möchte Dir alles sein und ich bin nur so wenig …« Sie klagte über die Abwesenheit der Gräfin Larisch. »Und bis sie zurückkehrt, wirst vielleicht Du wieder verreisen müssen. Wie schrecklich sind mir alle die Tage, an denen Du fern von Wien bist. Was soll aus mir werden, wenn Dir irgend etwas zustößt? …«
Indessen sah sie den Kronprinzen doch einmal in der Oper. Es war am 4. Dezember bei einer Aufführung von Tristan und Isolde. Sie hatte sich schön gemacht und sogar einige Schmuckstücke von ihrer Mutter ausgebettelt; es war in Wien damals nicht gebräuchlich, daß junge Mädchen Schmuck trugen, ein bescheidenes Emailkreuz war alles, was man ihnen bis zur Hochzeit anzulegen gestattete. Aber die Baronin Vetsera hatte ja im Orient und in der diplomatischen Welt gelebt und war nicht so engherzig. Marys Schönheit war ihr ganzer Stolz, sie sah gar nichts Unpassendes darin, der Tochter die Bitte zu erfüllen. Mary wählte einen Halbmond aus Brillanten, den sie in ihrem Haar befestigte, und große Diamantboutons für ihre Ohren. Wie bedauerte sie, nicht auch den Ring tragen zu können, den Rudolf ihr gegeben hatte. Sie küßte ihn, ehe sie in die Oper fuhr. Sie trug ein Kleid aus weißem Crêpe de chine. Sie wußte, daß sie Rudolf gefallen würde, und überdies war es eine Erinnerung an die weißen Blumen, mit denen er an jenem unvergeßlichen Nachmittag sein Zimmer geschmückt hatte. Niemals hatte sie sich so viel Mühe gegeben, schön zu sein, denn sie wußte, auch die Kronprinzessin würde in der Oper sein, und sie setzte ihren ganzen Stolz daran, an diesem Abend alle zu überstrahlen und bemerkt zu werden.
Die Gräfin Larisch hatte der Baronin für diese Vorstellung ihre eigene Loge zur Verfügung gestellt, die der des Kronprinzen fast gegenüberlag. Mary sah ihre Mühe belohnt; der Halbmond erregte Aufsehen, zahlreiche Freunde kamen in der ersten Pause in die Loge, um ihre Bewunderung auszudrücken. Das Kronprinzenpaar erschien erst während des ersten Zwischenaktes, in seiner Gesellschaft war die Prinzessin Luise von Coburg, Stephanies Schwester. Rudolfs erster Blick galt der Loge, in der Mary saß, und obwohl sie gar nicht so weit entfernt war, nahm er sein Opernglas, um sie besser zu betrachten. Diesmal errötete Mary nicht mehr. Man mußte scheinbar in der kronprinzlichen Loge von ihr gesprochen haben, denn einen Augenblick später sah sie, daß auch die Kronprinzessin und ihre Schwester die Operngläser auf sie richteten. Auch Mary betrachtete die beiden Damen; beide waren weder schön, noch sahen sie vornehm aus. Rudolf, der hinter ihnen stand, schien einer andern Rasse anzugehören. »Was kann zwei solche Menschen verbinden?« dachte Mary, während ihre Blicke von Rudolf zu Stephanie wanderten, und ihr Herz zog sich schmerzhaft bei dem Gedanken zusammen, daß der Mann, den sie liebte, für sein ganzes Leben an diese Frau gekettet sein sollte.
Der weitere Abend machte sie traurig. Alles ringsum brachte ihr schmerzlich die Hindernisse zum Bewußtsein, die zwischen ihr und dem einzigen Menschen lagen, der ihr Herz erfüllte. Sie waren im gleichen Saal, aber ein unendlicher Abstand trennte sie. Sie liebten einander, und er durfte nicht kommen, sie zu begrüßen, durfte ihr nicht einmal aus der Ferne zunicken. Zwischen ihnen beiden bestand schon jene so seltene, kostbare Herzensvertrautheit, jene innige Zärtlichkeit, die zwei Menschen fester als alle äußeren Bande aneinanderknüpft. Umso quälender empfanden sie jetzt die unübersteigbare Mauer aus verwitterten, alten törichten Vorschriften einer Etikette, die aus verschollenen Jahrhunderten emporragte, um sie zu trennen. Nie würden sie sich anders als im Verborgenen, wie Verbrecher, für kurze, stets bedrohte Augenblicke sehen können … Was für eine Zukunft!
Auf der Bühne lag Isolde im Sterben, um sich im Tode mit Tristan zu vereinen. War der Tod wirklich die einzige Möglichkeit unglücklich Liebender, um einander in Frieden anzugehören?
Zu Hause weinte Mary die halbe Nacht, ohne Schlaf finden zu können.
Eine Zeile Rudolfs beglückte sie am nächsten Morgen: »Du warst die Schönste im ganzen Haus. Ich liebe Dich … R.« Das Briefpapier trug den Aufdruck »Hotel Sacher«; Rudolf hatte am Abend nach der Vorstellung an sie geschrieben.