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Frau Stambulow, die Witwe des ermordeten bulgarischen Ministerpräsidenten und Diktators, die nur dem Andenken ihres vergötterten Mannes lebte, hatte die Patronage über dies Wohltätigkeitsfest im Modernen Theater übernommen und die Einladungen dazu ergehen lassen. Das erste Wohltätigkeitsfest seit dem Weltkrieg, das von privater Seite ausging. Offizielle Wohltätigkeitsfeste, die von Persönlichkeiten des Hofes oder von den Ministerien ausgingen, waren schon wiederholt veranstaltet worden. Das war selbstverständlich und gehörte sich so. Von privater Seite hatte sich noch niemand hervorgewagt.
So kriegerisch man auch gesinnt war, die Erfahrungen des zweiten Balkankrieges lasteten doch zu schwer auf dem bulgarischen Volk, als daß es leichten Herzens dem Kommenden entgegensehen konnte.
Aber nun war Serbien besiegt, Bukarest genommen. Das Schicksal des zweiten Balkankrieges konnte sich jetzt unmöglich wiederholen!
Da entschloß sich Frau Stambulow, die sonst so zurückgezogen lebte, zu diesem öffentlichen Wohltätigkeitsfest und glaubte damit ganz im Sinne ihres Mannes zu handeln, der jedenfalls jede Aktion unterstützt hätte, um Rußland zu ärgern oder gar zu schädigen.
Und nun wollte es der Zufall, daß dies Fest mit dem Zusammenbruch des zaristischen Rußlands zusammenfiel.
Das Moderne Theater in der Maria-Luise-Straße, das für gewöhnlich nur kinematographischen Veranstaltungen diente, war längst vor Beginn der Vorstellung bis auf den letzten Platz besetzt, trotzdem der langgestreckte Raum, an dessen Seitenwänden in drei Etagen Dutzende von kleinen Logen wie Schwalbennester klebten, mehrere tausend Personen faßte.
Vom Parterre her duftete es nach Knoblauch, aus den Logen nach französischen Parfüms.
Leda Serafinow saß mit ihrer Freundin Eveline Ali Bey und Friedrich Franz von Kaufmann auf den vorderen Plätzen einer etwas größeren Loge, in deren Hintergrund sich jüngere Herren der verbündeten Gesandtschaften drängten. Wo die beiden Freundinnen waren, waren auch sie.
Jetzt erschien auch Maria Petrow und nahm neben Leda Platz.
Eveline und Leda galten den jüngeren Herren der verbündeten Gesandtschaften als die schönsten Mädchens Sofias, Maria Petrow als eine der elegantesten. Auch stand sie mit ihrer Familie schon vor der Entscheidung im September 1915 auf Seiten der Mittelmächte. Da war es einfach Pflicht der verbündeten jüngeren Diplomaten, ihr den Hof zu machen. Daß Maria Petrow auch hübsch und sehr wohlhabend war, erleichterte den jüngeren Herren der verbündeten Gesandtschaften ihre Pflicht.
»Worauf warten wir eigentlich?« fragte Leda ungeduldig, denn der Knoblauchduft aus dem Parterre wurde stärker.
In demselben Augenblick erhob sich alles. Die beiden Prinzessinnen waren in ihre Loge eingetreten, und die Musikkapelle intonierte die bulgarische Nationalhymne.
»O Gott,« flüsterte ein jüngerer Herr, »jetzt kommen noch drei Nationalhymnen» Die Bundesgenossenschaft hat auch ihre Schattenseiten.«
Maria Petrow meinte ärgerlich: »Seien Sie froh, daß wir nicht zur Entente gehören. Dann hätten Sie acht bis zehn Nationalhymnen auszuhalten.«
Der junge Herr erwiderte lächelnd: »Dann wäre ich überhaupt nicht hier, mein gnädiges Fräulein.«
Eveline lachte.
Es wurde nur die bulgarische Nationalhymne gespielt, man konnte bald wieder Platz nehmen.
Der Vorhang teilte sich. Die Bühne war über und über mit Fahnen und Fähnchen in den bulgarischen, deutschen, österreichischen, ungarischen und türkischen Fahnen geschmückt. Aus dem Hintergrund trat ein Herr im Frack mit einer Geige und verneigte sich.
In diesem Augenblick wurden die jüngeren Herren der Gesandtschaften etwas unsanft beiseitegeschoben durch einen baumlangen, hageren, dunkelhaarigen, schwarzäugigen bulgarischen Kavallerieleutnant und durch Boris Makarow.
»Radschi!« rief Maria ihrem Bruder zu, »komme zu uns.«
Die beiden Bulgaren drängten sich zu den Sesseln der jungen Damen, so daß einige jüngere Herren der verbündeten Gesandtschaften die Loge räumen mußten, die so viele Personen nicht zu fassen vermochte.
»Willst du uns nicht vorstellen?« bat Radschi Petrow seine Schwester. Es geschah, und Boris wandte sich sofort Eveline zu und begann ihr französisch Komplimente zu machen.
Friedrich Franz glaubte zu bemerken, daß Leda um eine Nuance blasser wurde.
»Französisch gilt jetzt nicht, entweder deutsch oder bulgarisch«, sagte Maria energisch.
»Also deutsch,« meinte Boris, »denn bulgarisch sprechen Sie vermutlich nicht?«
»Wenn Sie wollen, können wir uns auch türkisch unterhalten. Das sprechen Sie doch gewiß auch wie die meisten Bulgaren?« meinte Eveline.
»Dagegen protestiere ich,« warf Maria ein, »ich spreche es nicht gut genug, und ich will verstehen, was ihr sagt.«
Ist sie eifersüchtig? dachte Leda Serafinow unruhig.
Der Geiger spielte eine besonders schwierige Etüde von Rubinstein. Maria verzog das Gesicht. »Weshalb spielt er nicht lieber etwas Bulgarisches?«
»Rubinstein habe ich jedenfalls in Wien, Berlin und Paris schon besser gehört«, meinte Boris Makarow spöttisch.
Radschi Petrow griff zum Programm. »Lauter solche Sachen. Damit können wir uns nur blamieren.«
»Den meisten machte es doch großen Spaß, hören Sie nur, wie man klatscht!« warf Eveline ein.
»Mir macht es keinen Spaß«, sagte Boris. »Ich geniere mich ein bißchen vor den andern Europäern.«
»Eigentlich hätte ich auch lieber etwas Bulgarisches gehört«, meinte Eveline. »Davon weiß unsereins sowenig.«
»Die Bulgaren wollen sich eben bilden und gebildet tun. Deshalb ziehen sie eine schlechte Wiedergabe von Rubinstein der besten bulgarischen Musik vor«, antwortete Boris.
Radschi Petrow sagte: »Übrigens wäre die meiste bulgarische Musik eigentlich türkisch.«
»Da siehst du gleich wieder ein Stück von unserem Elend«, sagte Maria zu Eveline. »Unter der langen Türkenherrschaft haben wir es nicht einmal zu einer eigenen Musik bringen können.«
»Bst, davon spricht man nicht mehr«, warnte Boris.
Zwei Damen spielten eine Beethovensche Sonate, dann ein Stück von Grieg und ein Notturno von Chopin.
Dann kam wieder der Geiger an die Reihe.
In den Logen langweilte man sich, so sehr man auch bemüht war, es nicht allzu deutlich zu zeigen.
»Möchte wohl wissen, was sich der alte Kantartschiew bei der ganzen Chose denkt«, sagte ein jüngerer Herr laut, so daß es alle ringsum hörten. Der Geiger war plötzlich in ein Pianissimo verfallen, was der jüngere Herr nicht vorausgesehen hatte.
Man lächelte. Der alte Kantartschiew galt immer noch als eine Hauptstütze aller Russophilie. Es war recht pikant, daß er sich trotzdem heute hier sehen ließ.
»Einen schönen Kopf hat er«, bemerkte Eveline, da alle unwillkürlich zu dem alten Herrn hinüberblickten.
»Überhaupt ein sehr kluger, gebildeter, sehr anständiger Mann«, sagte Radschi Petrow mit einem neckischen Blick auf seine Schwester. Aber sie tat ihm nicht den Gefallen, darüber zu streiten.
Auf die Bühne trat, von rauschendem Beifall begrüßt, der Liebling Sofias, eine junge umfangreiche Sängerin vom Nationaltheater. Sie sang mit gut geschulter, umfangreicher Sopranstimme einige Arien aus landläufigen Opern. Rasender Beifall. Ein gewaltiger Blumenstrauß wurde ihr auf die Bühne gereicht. Jetzt sang die Dame bulgarische Volkslieder mit so viel Hingabe und einer fast religiösen Inbrunst, daß sogar die jüngeren Herren der Gesandtschaften aufmerksam zuhörten.
Der Jubel wollte kein Ende nehmen. Die Schwarzkirschenaugen der Sängerin glühten. Sie trat einige Schritte vor und hielt eine kleine Ansprache.
»Was sagt sie?« fragte Eveline ungeduldig.
»Sie will ihren Blumenstrauß zugunsten des bulgarischen Roten Kreuzes versteigern«, erklärte Maria Petrow.
Aus einer Loge rief es: »Hundert Lewa!«
Im Parterre wurde es mäuschenstill.
Aus dem Parterre rief einer: »Hundertfünfzig Lewa!« Sofort antwortete es aus einer Loge: »Zweihundert Lewa!«
»Zweihundert Lewa?!« fragte zögernd, ein wenig schmollend die Sängerin.
»Fünfhundert Lewa!« klang es aus einer Loge.
Das ganze Parterre hob die Köpfe nach der Loge und klatschte Beifall. Der alte Kantartschiew hatte das Angebot gemacht, der Russophile.
Das ließ einen alten Stambulowisten nicht ruhen. Er bot mit überlauter Stimme achthundert Lewa.
Alles reckte die Köpfe nach dem alten Kantartschiew, der sofort tausend Lewa bot.
Ein altes Mütterchen im Parterre stand schwerfällig auf, drehte sich der Loge des alten Kantartschiew zu, faltete andächtig die Hände über den mageren Leib und schüttelte leise den greisen Kopf. Soviel Geld für einen Blumenstrauß.
Die Sängerin schritt hin und her und hielt den Blumenstrauß lockend in die Höhe. »Tausend Lewa?« fragte sie freundlich mit einem aufmunternden Blick.
»Zwölfhundert Lewa«, kam es aus heiserer Kehle. Man merkte, welche Kämpfe es dem Besitzer dieser Kehle gekostet hatte, die zwei Worte über die Lippen zu bringen.
»Wie heißt fünfzehnhundert auf bulgarisch?« flüsterte Eveline erregt.
»Ich bitte dich«, sagte Maria Petrow.
»Wie heißt es?«
Maria nannte die Zahl, und Eveline rief sie zur Bühne.
Niemand rührte sich im Parterre. Man hörte nur, wie einige Leute sehr heftig atmeten. Die meisten hatten die Augen halb geschlossen, als könnten sie so besser hören.
Die Sängerin stellte sich so auf, daß sie grade in Kantartschiews Loge blicken konnte und sagte: »Der Betrag sei nicht gestiftet für unsere verwundeten Helden vom serbischen Kriegsschauplatz,« ihre Stimme schwoll an, »der Betrag sei gestiftet den bulgarischen Helden, die von Engländern und Franzosen an der Salonikifront verwundet wurden!«
Es kam Bewegung in die Menge. Viele klatschten Beifall, einige lachten schadenfroh. Alle erhoben sich und wandten die Gesichter direkt der Loge Kantartschiews zu.
Im Kampf gegen die Serben war ganz Bulgarien einig, da gab es keine Meinungsverschiedenheiten. Was die Sängerin eben aber gesagt hatte, das traf direkt die Russophilen, die ja auch die Freunde Englands und Frankreichs waren. Das griff energisch und absichtlich an mancherlei bulgarische Konflikte der letzten Monate ... Was würde Kantartschiew tun?
Der schöne Kopf des Alten änderte sich in keinem Zug. Kühl und ruhig glitt sein Blick über die aufgeregte Menge mit den ein wenig schadenfrohen Gesichtern. Dann trat ein leichtes Lächeln in seine Augen, und die Fältchen unter den Augen lächelten mit. Er kannte die Menschen, er kannte seine Bulgaren. Er kostete diesen Augenblick, wo wieder einmal alles an seinen Lippen hing, mit Behagen aus.
In einem ruhigen Geschäftston sagte er dann: »Dreitausend Lewa!« Beifallsstürme durchbrausten das Haus. Immer wieder.
»Das war die Sensation des Abends,« sagte Boris und klatschte ebenfalls Beifall, »das haben sie alle beide ganz famos gemacht.«
Eveline ließ sich den Vorgang von Maria noch ein wenig genauer erklären. Es war allerdings pikant, daß auf einem Fest der Witwe Stambulows, des großen Russenfeindes, ein alter Widersacher, der als der einflußreichste Russenfreund galt, zu einem solchen Opfer provoziert wurde und sich dazu provozieren ließ an diesem Tage des russischen Zusammenbruches.
»Übermäßig fein und vornehm war es nicht«, meinte Eveline nachdenklich.
»Darauf verzichten wir ganz gern, wenn das Gegenteil vorteilhafter ist«, sagte Radschi Petrow ruhig, während seine Schwester eifrig zu einer Loge hinüberwinkte, wo Leutnant Gonthard elegisch an der Wand lehnte und Eveline Ali Bey mit beiden Augen verschlang.
Er gab seine elegische Stellung auf und kam herüber. Maria stellte ihn Eveline vor. »Bin ich nicht nett? Ich halte, was ich versprochen habe.«
Boris Makarow schien nicht besonders erbaut davon zu sein, was Leda Serafinow mit Genugtuung feststellte.
Radschi Petrow wollte schon vorschlagen, jetzt essen zu gehen, als sein Blick auf das Programm fiel.
Er wandte sich an Eveline. »Für eine Nummer wollen wir noch bleiben, wenn es Ihnen recht ist. Jetzt kommt der einzige bulgarische Kabarettist, den wir haben. Das kann vielleicht noch amüsant werden.
Die Damen waren einverstanden.
Ein junger blasser Herr im Frack trat auf die Bühne, der Kabarettist.
»Sie sind enttäuscht, ich sehe es Ihnen an«, sagte Boris zu Eveline. »Sie dachten, ein bulgarischer Kabarettist muß mindestens wie ein mazedonischer Komitadschi aussehn, nicht wahr? Nun hat er einen Frack an, dasselbe blasse Gesicht, dieselben langen Haare, dieselben geschmeidigen und arroganten Manieren wie seine Kollegen in Wien, Budapest und Berlin.«
Er stockte einen Augenblick und sagte dann, stolz auf seinen Einfall: »Wissen Sie, mit dieser Kunst ist es wie mit der Cholera. Sie tritt ebenfalls auf der ganzen Welt in denselben Formen auf.«
Eveline lachte. Maria fand den Vergleich geschmacklos und ungerecht.
»Deshalb kann er aber doch amüsant sein«, meinte Eveline.
Der Kabarettist war wie die Sängerin ein besonderer Liebling der Hauptstadt. Man lachte, bevor er den Mund auftat. Der Kabarettist nannte den Titel seines Couplets.
»Das muß ich Ihnen übersetzen,« sagte Boris zu Eveline, »das ist wirklich amüsant. Das Couplet erzählt, wie sich die verschiedenen Nationen benehmen, wenn ihnen der Kellner ein Glas Bier vorsetzt, in dem eine tote Fliege schwimmt.«
Eveline war ganz Ohr.
»Der Engländer verlangt einfach mit ruhigem Phlegma ein anderes Glas Bier. Der Franzose schimpft und verläßt das Lokal. Der Deutsche fischt die Fliege aus dem Glas und trinkt das Bier. Der Russe verprügelt den Kellner und feuert das Glas an die Wand ...«
Das Parterre schüttelte sich vor Lachen.
»Und der Bulgare?« fragte Eveline.
Boris lachte. »Der Bulgare trinkt das Bier mitsamt der Fliege, schimpft dann fürchterlich und bezahlt nicht, weil eine Fliege in dem Glas war.«
Das Parterre wollte sich ausschütten vor Lachen.
Maria sagte: »Ich finde es widerwärtig, eine groteske Übertreibung und nichts weiter, eine alberne Verleumdung.«
»Ich bitte dich, es ist doch viel Wahres daran«, sagte Radschi.
»Aber die Wahrheit hört man nicht gern, und jetzt lachen alle Leute«, fiel Eveline begütigend ein.
»Das stimmt doch nicht so ganz, wenigstens bei uns nicht«, meinte Radschi. »Wir erkennen die Wahrheit an, auch wenn sie für uns nicht gerade schmeichelhaft ist. Wir sind für europäische Begriffe gar nicht engherzig in diesem Punkt. Es fehlt uns auch durchaus nicht an Selbsterkenntnis, wie alle unsere Sprichwörter beweisen. Wir sind, wie wir einmal sind, und solange uns das Nutzen bringt, haben wir nichts dagegen. Erst wenn es uns schädlich sein sollte, wären wir geneigt, uns über die Wahrheit zu ärgern und den Versuch zu machen, uns zu ändern.«
»Also reine Nützlichkeitsmenschen«, meinte Maria bitter.
»Wie alle Bauernvölker«, sagte Boris Makarow ruhig und wandte sich wieder Eveline zu.
Friedrich Franz sah deutlich, wie es Leda Serafinow ärgerte. Ein Gefühl von Eifersucht beschlich ihn, dumpf brütete er vor sich hin und schwieg weiter.
»Gnädiges Fräulein sind Türkin?« fragte Leutnant Gonthard mit verhaltenem Atem Eveline.
Diese antwortete lächelnd: »Von der Mutter her deutsch, vom Vater türkisch und der Erziehung nach amerikanisch.«
»Wie empfinden Sie denn dann in Wirklichkeit?« fragte Boris ein wenig aufdringlich.
Sie stutzte für einen Augenblick und warf den Kopf zurück. »Immer noch meist alles durcheinander, mal deutsch, mal türkisch und dazwischen auch mal ein bißchen amerikanisch.«
»So etwas ist mir unverständlich«, meinte Maria Petrow herb.
»Das dürfte nicht immer leicht auszubalancieren sein«, meinte einer der jüngeren Herren der verbündeten Gesandtschaften, der sich nicht hatte verdrängen lassen.
»Schon mehr ein diplomatischer Eiertanz«, sagte Radschi Petrow.
»Eine unkomplizierte Natur könnte das direkt auseinanderreißen«, meinte der jüngere Herr, verbindlich lächelnd.
»Manchmal ist mir auch ganz ähnlich zumute«, gestand Eveline.
»Wie helfen Sie sich denn?« fragte Boris.
Eveline warf wieder bot Kopf zurück und erwiderte von oben herab: »Ich helfe mir türkisch ... Kismet ...«
»Das ist allerdings ein Ausweg, auf den ich nicht gekommen wäre«, lachte Boris.
»Trotzdem die Bulgaren solange unter türkischer Herrschaft standen? Merkwürdig«, erwiderte Eveline spitz.
»Sie ging bei uns eben nicht in die Tiefe«, meinte Boris spöttisch.
Sie maßen sich wie Gegner. Sie fühlten im Augenblick beide etwas wie Abneigung gegeneinander.
»Herrschaften, gehn wir ins ›Hotel Bulgarie‹ essen, hier ist doch nichts Rechtes mehr los«, schlug Radschi Petrow vor.
Alle waren einverstanden und erhoben sich. Die Situation drohte peinlich zu werden. Die spitzigen Worte zwischen Eveline Ali Bey und Boris Makarow, die Unruhe, die sowohl Leda als Maria empfand, da Boris sie fast gar nicht beachtete ...
»Gehn wir essen«, wiederholte Leda und reichte Friedrich Franz den Arm. Die andern folgten.
»Sie waren heute nicht grade gesprächig, Herr von Kaufmann«, meinte Leda in der Garderobe.
»Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, ich hatte den Eindruck, als wäre Geschwätzigkeit meinerseits unerwünscht gewesen.«
Leda Serafinow musterte ihn forschend.
»Gospodin Makarow sorgte ja hinreichend für allseitige Unterhaltung.« Er fühlte sofort, daß sie ihm diese Worte übelnahm, und fuhr fort: »Außerdem waren der Menschen zuviel und die Loge zu groß für eine vernünftige Unterhaltung.«
Sie lächelte ein wenig spöttisch. »Mir scheint, Sie bereuen es, mir neulich bei Karakinows eine Loge für dies Fest abgenommen zu haben?«
Während er ihr beim Anlegen des Abendmantels behilflich war, sagte er: »Allerdings, ich bereue es.«
»Die hundertfünfzig Lewa stehen wieder zu Ihrer Verfügung, Herr von Kaufmann.«
»Sie wollen mich beleidigen, mein gnädiges Fräulein?«
»Sie haben mich durch Ihre ostentative Schweigsamkeit den ganzen Abend über beleidigt, Herr von Kaufmann.«
»Dann bitte ich um Entschuldigung, mein gnädiges Fräulein.«
Am liebsten hätte er sich empfohlen und wäre nach Hause gegangen. Aber die andern hatten sich schon auf den Weg gemacht zum Hotel. Er konnte Leda Serafinow unmöglich allein dorthin gehen lassen.
»Haben Sie Ihr Auto hier, mein gnädiges Fräulein?«
»Leider nicht, Herr von Kaufmann. Ich dachte nicht daran, daß Ihnen das lieber sein könnte.«
»Dann erlauben Sie, daß ich Sie zum Hotel begleite.«
»Ich bitte darum, Herr von Kaufmann.«
Sie traten auf die Straße, die leer war. Die andere Gesellschaft mußte schon weit voraus sein.
»Gedenken Sie, auch auf der Straße so schweigsam zu sein wie im Theater, Herr von Kaufmann?«
»Ich möchte Sie nicht in Ihren Gedanken stören, mein gnädiges Fräulein, die gewiß für Sie sehr viel interessanter sind als jedes Wort von mir.«
Leda Serafinow lachte leise und nahm seinen Arm. »Verzeihen Sie mir, Herr von Kaufmann, wenn es Ihnen irgend möglich ist, daß ich Herrn Makarow schon etwas länger kenne als Sie.«
Sie lachte wieder leise vor sich hin, und es schien ihm, als hänge sie sich ein wenig fester bei ihm ein.
»Es wird mir nicht ganz leicht, Ihren Wunsch zu erfüllen, mein gnädiges Fräulein.«
»So geben Sie sich ein wenig Mühe, Herr von Kaufmann.«
»Wenn Sie solchen Wert darauf legen, mein gnädiges Fräulein ...«
Sie blieb stehen. »Sagen Sie, ist man bei solchen Gelegenheiten bei Ihnen in Deutschland immer so ... so ... eigenartig?«
»Nein, mein gnädiges Fräulein. Nur ich bin halt mal so.«
»Sie halten das für einen individuellen Vorzug, wie es scheint?«
»Ich beschäftige mich nicht so intensiv mit meiner unscheinbaren Persönlichkeit, wie Sie anzunehmen scheinen, mein gnädiges Fräulein. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht.«
»Ich schlage vor, wir vertragen uns wieder, Herr von Kaufmann.«
»Wie Sie befehlen, Gnädigste.«
»Ich befehle gar nichts.«
»Dann bitte ich darum.«
»Damit bin ich einverstanden.«
Sie gingen langsam weiter. Der Fliegergefahr wegen war es reichlich dunkel auf den Straßen. Das Pflaster schien hier auch nicht gerade gut zu sein. Er zog ihren Arm fester in den seinen und damit sie selbst noch näher an sich heran. Ihre Beine streiften sich bei jedem Schritt. Sie waren fast gleich groß. Der Rhythmus ihrer Schritte stimmte gut zusammen. Bald atmeten sie auch im selben Rhythmus. Sie lauschten auf einander. Ihnen war, als ob das Blut auch im gleichen Rhythmus durch die Adern zog; und zwar ein wenig schneller, als es sonst der Fall war.
Friedrich Franz sprach nicht, und diesmal schien Leda Serafinow durchaus damit einverstanden zu sein.
Die Wärme ihrer Hand teilte sich seinem Arm mit. Sein Atem mischte sich mit dem ihren. Es war eine warme Nacht, in der schon etwas vom Sommer lag, trotzdem man sich im Monat März befand. Einen Frühling gibt es in diesem Lande so gut wie gar nicht. Vom Winter geht es fast ohne Übergang in den Sommer hinein.
Eine Patrouille stapfte an ihnen vorüber. Sie erkannte sofort, daß sie es mit feinen Leuten zu tun hatte, und ließ die beiden ungeschoren.
Beider Blut rann schneller durch die Adern. Bei Leda Serafinow hatte es damit angefangen, empfand er glücklich, und sofort ging auch sein Blut schneller.
Sie gelangten zum Alexanderplatz. Unzählige Lichter aus dem »Deutschen Haus«, dem Mittelpunkt der gesamten deutschen militärischen Tätigkeit in Bulgarien, machten den weiten Platz fast taghell.
Leda Serafinow löste ihren Arm aus dem seinen, solange sie über den Platz gingen. Aber sie blieb ihm doch so nahe, daß der Rhythmus ihrer Schritte, ihres Blutes derselbe blieb.
Die überhängenden Bäume des Stadtgartens ließen den kurzen Weg, der ihnen noch bis zum Hotel verblieb, fast finster erscheinen. Er suchte ihren Arm, der sich ihm willig bot. Heißer ging das Blut durch beider Adern. Ledas Hand brannte auf Friedrich Franzens Arm. Beider Schritte stockten. Schwer atmend standen sie still und lauschten. Er zog sie an sich, umschlang sie und küßte sie auf den Mund, der sich ihm willig bot. Heiß, immer wieder.
Sie trennten sich, denn wieder stapften Soldatenstiefel näher.
»Ich habe Hunger«, flüsterte Leda Serafinow. »Und Sie?«
»Ich habe Durst nach Ihren Lippen.«
»Also wollen Sie nicht mit essen kommen?«
Er führte sie bis zum Hoteleingang, neigte sich tief über ihre Rechte und flüsterte: »Sie wollen essen, ich werde träumen gehn.«