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X.

Frau Adda Serafinow machte halt, fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, denn es war wieder sehr heiß, und wartete auf einen russischen Gefangenen, der langsam näher kam, hinter sich einen alten bulgarischen Landsturmmann mit einem vorsintflutlichen Gewehr als Bewachung.

»Komm einmal her, Brüderchen.«

Der Russe hielt an, der bulgarische Landstürmer ebenfalls.

»Hier, da sind ein paar Zigaretten für euch.«

Der flachsblonde Russe und der grauhaarige Bulgare dankten.

»Woher stammst du, Brüderchen?«

»Aus Wologda, Herrin.«

»Wie kommst du dann hierher zu uns?«

Der Russe kratzte sich den flachsblonden, struppigen Bart.

»Das weiß Gott allein.«

»Väterchen Zar hat abdanken müssen.«

»Die Leute sagen so.«

»Du glaubst es nicht?«

»Was soll man heute noch glauben, Herrin?«

»Aber dann kommst du vielleicht bald wieder nach Hause?«

»Das wäre mir schon das liebste, Mütterchen.«

»Was glaubst du denn, wie das jetzt werden wird?«

»Das weiß Gott allein, Mütterchen.«

»Kennst du Kiew?«

Der Russe dachte lange nach und schüttelte dann energisch den Kopf.

»Du weißt wohl nicht einmal, was das ist?«

»Ich weiß es nicht, Herrin.«

»Und du?« wandte sich Frau Adda an den Bulgaren.

Dieser schüttelte ebenfalls den Kopf.

»Wofür kämpft ihr eigentlich, wißt ihr das?«

»Der Zar hat es befohlen«, sagte der Bulgare.

»So ist es«, bestätigte der Russe.

»Ihr beide seid also Feinde?«

Beide sahen verdutzt die Dame an, dann sich.

»Davon wissen wir nichts«, meinte der Russe.

»Aber wenn du fortläufst,« wandte sich Frau Adda wieder an den Russen, »muß der andere auf dich schießen.«

Der Russe lächelte ungläubig. »Warum soll ich fortlaufen, Mütterchen?«

»Also gefällt es dir soweit ganz gut hier?«

»Ganz gut, Mütterchen.«

»Wir sind doch Brüder«, knurrte der grauhaarige Bulgare.

Sie reichte ihnen die Hand. »Ich wünsche euch beiden, daß ihr bald wieder zu Hause in eurem Dorfe seid.«

Die beiden dankten und trotteten weiter.

Frau Adda sah ihnen nach und bemerkte, wie aus einem kleinen Haus ein kleines Mädchen auf den Russen zustürzte und ihm ein Stück Brot in die Hand drückte. Der Russe küßte das Mädchen auf beide Wangen und machte das Zeichen des Kreuzes über seiner Stirn.

Dann trotteten sie weiter.

Wie die Lämmer sind sie, dachte Frau Adda mitleidig. Was soll man mit solchen Leuten anfangen? Und doch schießen sie aufeinander und hassen sich, wenn es befohlen wird.

Frau Adda sprach gern unterwegs ein Wort mit russischen Gefangenen, wenn es sich gerade so traf. Sie wurden ja überhaupt sehr rücksichtsvoll behandelt.

Aber es war wenig aus den Leuten herauszubringen.

Wie die Lämmer, dachte sie wieder, sie werden zur Schlachtbank geführt und wissen kaum, weshalb.

Frau Adda bog in die 6. Septembergasse ein, um Frau Karakinow zu besuchen. Sie war eine Deutsche, sie wußte wohl mehr über diesen Herrn von Kaufmann, der vielleicht als Partie für Leda in Betracht kommen konnte. Er bedeutete entschieden mehr als Boris Makarow, zumal sein Vater seit einiger Zeit nicht mehr so hoch in der Gunst des Zaren stehen sollte. Wenigstens munkelte darüber jedermann am Hof. Ein sinkender Stern. Und für besonders begabt hatte sie Boris eigentlich nie gehalten. Um so besser würde es sein, einen Deutschen in der Familie zu haben, der in Berlin Ansehen genoß, da man doch für lange Zeit mit den Deutschen verbündet sein würde. Vielleicht wurde er einmal Minister oder wenigstens Unterstaatssekretär. Das war schon insofern etwas anderes als hier, weil in Bulgarien die Minister so häufig wechselten, in Friedenszeiten wenigstens, was in Deutschland in Friedenszeiten nicht der Fall war ... Eine solche Verbindung mußte den Mazedoniern angenehm sein, und ihr persönlich wäre das noch besonders angenehm gewesen der Ukraine wegen, die sich an Deutschland anlehnen mußte, wollte sie selbständig werden und sich Rußland gegenüber ihrer Haut wehren. Auch wenn Christo Gesandter in Kiew wurde, konnten deutsche Beziehungen nur von Vorteil sein. Sie läutete, aber es dauerte lange, bis ihr geöffnet wurde.

Da alle Vorhänge und Jalousien heruntergelassen waren, war es dunkel im Innern des Hauses. Sie hörte in der Halle, wie Peter Karakinow nebenan sich reckte und streckte und laut gähnte. Sie hatte ihn im Nachmittagsschlaf gestört.

Frau Thea Karakinow kam ihr in etwas unordentlicher Toilette entgegen.

»Ja Adda, bist du's wirklich, wo kommst du denn her bei der Hitze?«

»Ich hatte in der Stadt zu tun und bin vor der Hitze für einen Augenblick zu euch geflüchtet.«

Frau Serafinow ließ sich in einen Sessel fallen. Frau Karakinow setzte sich ebenfalls und gähnte.

»Es sollte mir leid tun, wenn ich dich sehr gestört habe.«

»Aber nicht im geringsten«, versicherte Frau Karakinow und unterdrückte das Gähnen, so gut es möglich war.

»Mir fiel unterwegs ein, ich hätte schon lange eine Frage an dich wegen dieses Herrn von Kaufmann.«

Sofort war Frau Karakinow munter.

»Interessierst du dich Ledas wegen für ihn?«

Frau Serafinow nickte.

»Ich glaube Adda, da befindest du dich auf einen falschen Weg. Ich habe ihm mal auf den Zahn gefühlt, er interessiert sich wenig für Leda, wie mir scheint.«

Frau Adda machte eine wegwerfende Handbewegung. »Darum handelt es sich auch gar nicht. Ich möchte zunächst nur über seine Person etwas genauer Bescheid wissen. Kennst du seine Familie?«

Frau Thea überlegte einen Augenblick. Frau Adda stammte zwar aus Kiew, also aus einer großen Stadt, aber sie lebte schon über zwanzig Jahre in Sofia und war etwas kleinstädtisch geworden, fand Frau Thea. Wie man hier jedermann kannte, so mußte es wohl auch in Deutschland sein. Gestand sie nun ein, daß sie diese Familie von Kaufmann nicht kannte, so würde Adda vielleicht daraus folgern, daß sie selbst nicht aus guter Familie sei. Grade als Deutsche genoß sie aber jetzt besonderes Ansehen in Sofia wie nie früher. Das wollte sie keinesfalls aufs Spiel setzen.

Also berichtete Frau Thea allerhand Allgemeinheiten, die ungefähr zu jedermann passen konnten, warum also nicht auch zu Herrn Kaufmann?

Eine Weile hörte Frau Serafinow aufmerksam zu. Aber die Auskünfte waren ihr nicht persönlich genug.

»Leben seine Eltern noch?«

Wenn ich ja sage, muß ich auch von ihnen erzählen, also sage ich lieber nein, dachte Frau Thea.

»Weißt du zufällig, ob er Geschwister hat?«

»Nicht ganz bestimmt, aber ich glaube nein.«

»Besitzt er Vermögen?«

»Recht beträchtlich sogar«, lautete die Erwiderung.

»Was hältst du von seiner Karriere, wie ist das in solchen Fällen bei euch in Deutschland?«

»Er war längere Zeit in Afrika.«

»Als was?« unterbrach Frau Adda.

Da Frau Thea das nicht wußte, antwortete sie: »Als Offizier.« Das war immer noch das wahrscheinlichste.

»Bei Kriegsausbruch war er zufällig in Deutschland, ging zur Front, wurde verwundet und bekam dann den Auftrag hierher, den du ja kennst.«

»Wenn er den Auftrag zur Zufriedenheit ausführt oder sich dabei vielleicht sogar auszeichnet, was wird er dafür bekommen?«

»Einen Orden«, sagte Frau Thea, denn das war wohl selbstverständlich.

Wieder machte Frau Serafinow eine wegwerfende Bewegung. Das interessierte sie nicht. »Ich meine, was für einen Posten wird er dann bekommen?«

Frau Thea fühlte sich verlegen werden. Woher sollte sie das wissen? Der Vorgänger des Herrn von Kaufmann, Herr von Henningen, war wieder an die Front gegangen.

»Frage doch mal den Gesandten bei Gelegenheit«, schlug sie vor.

»Das geht nicht«, erwiderte Frau Adda. »Sie kennen einander kaum und haben offiziell nichts miteinander zu tun. Da weiß ich Bescheid.«

»Vielleicht wird er ins Amt berufen und in der Abteilung für Balkanangelegenheiten beschäftigt«, meinte Frau Thea nach einigem Besinnen, denn dafür sprach doch manches.

Das war es, was Frau Adda hören wollte.

»Weißt du darüber Bestimmteres?« fragte sie.

»Der Militärattaché hat einmal eine Andeutung gemacht, die ich so verstanden habe«, behauptete Frau Thea. »Übrigens, wenn dir daran liegt, kann ich mich ja erkundigen, und wenn Peter das nächstemal nach Berlin fährt, sage ihm doch, er solle sich ein wenig danach umtun.« Frau Thea fühlte sich erleichtert, diese Angelegenheit, für die sie sich im Grunde gar nicht interessierte, auf ihren Mann abschieben zu können.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Frau Adda befriedigt. »Wann reist denn Peter nach Berlin?«

»Das weiß ich nicht, darüber hat er sich noch nicht geäußert.«

»Dann werde ich selbst mit ihm darüber sprechen«, sagte Frau Adda und rief nach ihm.

Fast zu derselben Zeit horchte Maria Petrow bei einem Tee zwei Offiziere von der deutschen Nachrichtenstelle über Friedrich Franz von Kaufmann aus. Aber sehr viel war von ihnen nicht zu erfahren, vor allen Dingen nicht das, worauf es Maria Petrow in erster Linie ankam, ob nämlich Herr von Kaufmann Politiker von Beruf sei.

Die beiden Offiziere dachten nach. Politiker von Beruf, das sind doch die Parlamentarier, die das viele dumme Zeug reden. Nein, etwas Derartiges war Herr von Kaufmann nicht, das wußten sie ganz genau.

Maria suchte dahinterzukommen, ob Herr von Kaufmann politischen Ehrgeiz habe oder dergleichen.

Die beiden Offiziere lachten. Politischer Ehrgeiz, was war denn das? Derlei mochte es drüben bei den Franzosen geben unter Advokaten, wohl auch hier in Bulgarien, wo ja jeder Minister werden wollte, aber in Deutschland? Nee, da gab es so was schwerlich unter Leuten, die auf sich hielten. Da hatte man Besseres zu tun.

Maria Petrow änderte das Thema der Unterhaltung, denn die beiden Offiziere schienen sie überhaupt nicht zu verstehen. Der Hauptmann lachte immer noch, und der Oberleutnant sah sie prüfend von der Seite an und schien sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die Petrowa in Herrn von Kaufmann verliebt sei, daß sie so merkwürdige Fragen stellte.

Friedrich Franz von Kaufmann wartete derweil in einem kleinen Gehölz hinter dem Borispark auf Leda Serafinow.

Es war jetzt nicht ganz einfach in Sofia, sich ungestört und unbeobachtet zu sprechen. Hier, bei vierzig Grad im Schatten, war es noch am sichersten, denn um diese Tageszeit ging niemand bei solcher Hitze spazieren. Man mußte schon alter Afrikaner sein, um einen Hitzschlag nicht zu fürchten. Leda hatte entschieden Mut, ihn bei der Glut hierher zu bitten.

Er knickte eine kleine verdorrte Birke um und benutzte sie als Sitzgelegenheit. Leda schien diesmal nicht pünktlich sein zu können. Endlich sah er sie näher kommen. Prachtvoll sieht sie aus, dachte er, groß, schlank, ganz in Weiß, und einen Gang hat sie!

Er hielt es für besser, das Gehölz nicht zu verlassen und ihr nicht entgegenzugehen.

Sie schritt jetzt schneller aus. Dann hielt sie wieder an und lauschte. Auch Friedrich Franz lauschte unwillkürlich. Sollte doch jemand so verrückt sein und ausgerechnet jetzt spazierengehen und stören?

Leda ging langsam weiter. Ihrer ganzen Haltung war anzumerken, daß sie immer noch nach rechts und links horchte.

Bildschön ist sie, dachte er und wäre am liebsten aufgesprungen und ihr entgegengelaufen.

Nun hielt sie wieder an und spähte zu dem Gehölz hinüber. Sollte er sich irgendwie bemerkbar machen?

Er hielt es für besser, ruhig sitzenzubleiben und zu warten. Sie sah sich nochmals nach allen Seiten um, sprang dann in das Gehölz und stand nach wenigen Augenblicken vor ihm, der aufgesprungen war und sie in die Arme schloß.

»Setzen wir uns«, sagte Leda.

»Wenn ich nur wüßte, wo und wie.«

Leda zeigte auf den Boden.

»Das würde Ihrem Kleid nicht sehr zuträglich sein.«

»Das ist mir gleichgültig«, sagte Leda und ließ sich auf dem ausgedörrten Boden nieder, auf dem nur wenig vertrocknetes Laub lag. Er setzte sich neben sie. Er wollte sie an sich ziehen, aber sie wollte nicht. Er nahm sofort wieder eine möglichst konventionelle Haltung an.

»Ich muß mit Ihnen sprechen, ungestört,« sagte Leda mit sehr ernstem Gesicht, »und ich glaube, hier kann ich das.«

»Wie Sie befehlen.«

Sie sah ihn groß an, schlug aber sofort wieder die Augen nieder.

»Sie haben, wie es scheint, eine Frage an mich,« suchte ihr Friedrich Franz zu Hilfe zu kommen, »und es scheint Ihnen nicht ganz leicht zu werden, diese Frage zu stellen.«

Eine leichte Röte trat in die Wangen des schönen Mädchens.

»Soll ich Ihnen Antwort geben, noch bevor Sie gefragt haben?«

»Nein, nein, Sie irren sich, die Frage, die ich stellen möchte, dürfte Sie überraschen, und ich möchte doch nicht, daß Sie mich mißverstehen.«

Friedrich Franz schwieg. Er hatte angenommen, sie erwartete eine Liebeserklärung von ihm, einen Antrag oder dergleichen. Das schien aber nicht der Fall zu sein.

»Also fragen Sie!« bat er leise.

Wieder sah ihn Leda groß an. »Sie sind in einer besonderen Mission hier?«

Friedrich Franz war ehrlich erstaunt und überrascht. Wohinaus sollte das? Hatte sie von irgend jemandem den Auftrag, ihn auszufragen, auszuforschen?

»Darf ich fragen, warum Sie das auf einmal interessiert?«

»Darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben.«

Er wurde blaß und biß sich die Lippen. Also doch! Man benutzte Leda, um ihn auszuhorchen, um ihm politisch Schlingen zu legen. Man wußte also, daß Leda Einfluß auf ihn hatte, oder nahm das wenigstens an, als selbstverständlich an. Also hatte ihm Leda wohl auch nur deshalb schöne Augen gemacht, und er wäre um ein Haar in die Falle gegangen.

»Herr von Henningen war ja wohl Ihr Vorgänger?« fragte Leda und sah vor sich hin.

»Das brauche ich wohl nicht zu leugnen«, sagte er mit Bitterkeit.

»Kennen Sie Herrn von Henningen persönlich?«

Was sie ihm wieder für schöne Augen machen konnte ... Wie häßlich war das ... Aber er nahm sich zusammen und erwiderte: »Ich kenne ihn sehr gut ...«

»Er ist Politiker?«

»Durch und durch.«

»Und Sie?«

Er stutzte. Wie ängstlich diese Frage aus ihrem Munde kam. Merkte sie, daß er sie durchschaute, daß sie das Spiel verloren hatte?

»Natürlich! Was denn sonst? Weshalb wäre ich sonst wohl hier?« antwortete er schroff und hart.

Sie seufzte schwer und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Sie scheint sich wenigstens noch schämen zu können, dachte er mit einer kleinen Genugtuung ... Wie widerwärtig das alles war.

Langsam lösten sich ihre Hände wieder. Sie stemmte sie rechts und links in das dürre Laub. Auch ihr Gesicht war blaß geworden, totenbleich.

»Jetzt verstehe ich, warum Sie mir die Kur machten«, sagte sie leise.

»Bei mir hatte das nicht das geringste mit der Politik zu tun, das kann ich Ihnen versichern.

Leda lachte schmerzhaft auf. »Oh, das kenne ich, darüber brauchen wir uns nicht einen Augenblick zu unterhalten.«

Sie ist Mazedonierin, ging es Friedrich Franz durch den Kopf. Sie brauchte nur ihren Vater oder ihren Onkel zu fragen, wenn sie ein ehrliches Spiel spielte. Daß sie ihn fragte, bewies, daß sie von anderer, nicht von mazedonischer Seite angestiftet war, ihn auszuhorchen. Das war nicht nur häßlich, das grenzte für eine Mazedonierin schon fast an Verrat.

Also auch er ist Politiker, auch er, wie alle Männer hier, und deshalb machen ihm Mama und Papa den Hof, sie wollen ihn für ihre Politik einfangen und benutzen mich als Köder.

Wieder lachte sie schmerzhaft auf und preßte die Hand auf das Herz, das so weh tat.

»Sie haben sich, wie es scheint, zuviel zugemutet, bei der Hitze hierherzukommen«, bemerkte Friedrich Franz trocken. »Hätte ich eine Ahnung gehabt, weshalb Sie mich hierherbaten, hätte ich Ihnen die Mühe ersparen können.«

Nun ist alles aus, dachte er. Warum stehe ich nicht auf und gehe fort? Aber er blieb auf dem Boden sitzen, und auch Leda erhob sich nicht.

Nun ist alles aus, dachte auch sie und hoffte doch immer noch. Aber worauf?

Ich Dummkopf, wie habe ich mich übertölpeln lassen! Wie konnte ich auch nur für einen Augenblick denken, daß es in diesem Lande noch irgend etwas anderes gibt als Politik und politische Erwägungen.

Beide schwiegen immer noch.

Wie ein ertappter Sünder kommt er sich vor, dachte Leda. Die Maske habe ich ihm vom Gesicht gerissen. Schreien hätte sie mögen und weinen. Vor Zorn, vor Jammer. Aber dann hätte er ja gesehen, wie es um sie bestellt war, und das durfte nicht sein. Ihr Stolz gab ihr die Kraft, äußerlich ruhig zu bleiben.

Nun denkt sie darüber nach, wie sie mir auf andere Art noch beikommen könnte. Dazu ist es nun zu spät, meine Schöne. Ich bin gewarnt. Das hätte sie schon etwas feiner einfädeln müssen. Eine große Wut stieg in ihm auf, daß ihr eine so plumpe Falle für ihn gerade gut genug gewesen war. Wie niedrig mußte sie ihn eingeschätzt oder wie sehr ihren Einfluß überschätzt haben.

Fast gleichzeitig erhoben sich beide.

Vielleicht tue ich ihr doch Unrecht? Vielleicht weiß sie gar nicht, wie sie mißbraucht werden sollte? – Aber nein, bei einer deutschen jungen Dame wäre das möglich, sogar wahrscheinlich gewesen, aber bei einer Bulgarin? Ausgeschlossen!

Wenn er nur ein einziges Wort sagen wollte, daß er sich nicht nur für Politik interessiert, daß er mir nicht nur deshalb den Hof machte. Er ist doch ein Deutscher. Wenn er nur wollte, hätte er es doch so leicht, mir zu helfen, denn einem Deutschen würde ich vielleicht glauben. Aber er schweigt, er gibt zu, daß er nichts weiter ist als Politiker, und daß er nur deshalb mir den Hof macht.

Keines von beiden konnte sich aber entschließen fortzugehn. Jedes wartete noch auf irgend etwas. Das konnte doch nicht das Ende sein?

»Gehen wir«, sagte Leda endlich matt und müde.

»Sie müssen mir schon gestatten, daß ich Sie noch einige Schritte begleite.«

»Warum nicht, Herr von Kaufmann?«

Er streckte unwillkürlich die Hand aus, um ihr über einen Graben zu helfen, zog die Hand aber eilig wieder zurück. Den Galanten wollte er nun doch lieber nicht mehr spielen. Sonst bildete sie sich womöglich ein, sie hätte immer noch Einfluß auf ihn.

Sie hatte wohl bemerkt, wie er die Hand zurückzog. Er hätte sich unterstehen sollen, ihr die Hand zu bieten. Geschlagen hätte sie diese Hand. Sie fühlte, wie ihr heiße Tränen in die Augen stiegen.

Sie gingen zwar nebeneinander, aber mit einem angemessenen Zwischenraum zwischen sich.

Wie echauffiert er aussieht, gar nicht hübsch! dachte Leda zornig.

Immer noch hat sie dies starke französische Parfüm, das ich nicht ausstehen kann, dachte er wütend.

Aber sie gingen trotzdem weiter nebeneinander.

Was soll ich nur sagen? dachte Leda. Recht was Böses wollte sie sagen, etwas, das ihm weh tun sollte, das ihn im Innersten traf, wie wenn sie ihm einen Dolch ins Herz stieße.

Wenn sie sich einbildet, ich würde mich mit ihr unterhalten, als ob gar nichts geschehen sei, dann irrt sie sich. Soviel Schönheit und soviel Falschheit!

Sie näherten sich dem Ausgang des Borisgartens. An der Brücke lehnte wie immer ein Gendarm.

Am richtigsten wäre es, wir trennten uns jetzt, dachten beide. Nun hat es doch schon gar keinen Sinn mehr, daß wir in der Leute Mäuler kommen.

Aber sie gingen trotzdem zusammen weiter.

Der Gendarm reckte sich und sah verwundert drein. Wer geht denn bei der Hitze um diese Tageszeit spazieren?

Er stand stramm und grüßte. Gospodschiza Serafinow und Gospodin Kaufmann, er kannte sie beide.

Wir sind stumm wie bei einem Begräbnis, dachte Friedrich Franz.

Wenn er doch nur den Mund auftun wollte. Er muß doch merken, daß es mir nicht möglich ist, etwas zu sagen. Das ist ja unerträglich, und rücksichtslos ist es auch von ihm, unglaublich rücksichtslos!

Nun ist es nicht mehr allzu weit bis zur Schipkastraße, ging es ihm durch den Sinn, vielleicht fünf Minuten noch.

In fünf Minuten ist es überstanden, dachte sie.

Nichts Lebendiges war auf der Straße, kein Hund, nicht einmal ein Sperling. Sie kamen an dem Monument vorbei, das einem Minister galt, der an dieser Stelle ermordet worden war.

Diese Straße ist endlos, dachte Friedrich Franz, und bietet noch sehr viel Platz für Denkmäler ermordeter Minister.

Sie näherten sich der Krakrastraße, in die Leda einzubiegen gedachte, denn so kam sie am schnellsten nach Hause.

Beider Herzen klopften, klopften laut und schnell.

Nur nicht jetzt schon auseinandergehn, dachte er verzweifelt und zog das Taschentuch. »Die Hitze ist wirklich fürchterlich!«

Leda nickte. Vielleicht sagt er doch noch etwas, dachte sie und schritt neben ihm weiter an der Krakrastraße vorbei.

Angestrengt lauschten beide aufeinander.

Es ist aus, es ist vorbei, dachte Leda. »Leben Sie wohl, Herr von Kaufmann.«

Er zog den Hut, ohne ihr die Hand zu reichen. »Leben Sie wohl, mein gnädiges Fräulein!«

Sie wandte sich und eilte der Krakrastraße zu.

Er ging gemessenen Schrittes die endlose Zar-Befreier-Straße weiter und wischte sich den Schweiß von der Stirn.


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