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Eveline Ali Bey war die lange Zar-Befreier-Straße bis zum Borisgarten an der Seite des Leutnants Gonthard spazierengegangen. Nun drehte sie wieder um.
»Machen wir die Tour noch einmal, wenn Sie nichts dagegen haben. Der Tag ist so schön, daß es schade wäre, jetzt schon wieder nach Hause zu gehen.«
Leutnant Gonthard war durchaus einverstanden.
Purpurn stand die Sonne am Horizont, purpurn leuchteten die ihr zugewandten Fensterscheiben. Die riesige Kuppel der Kathedrale Cyrill und Methodi funkelte im tiefsten Rot, was sich ganz unwirklich abhob von dem wolkenlosen türkisblauen Himmel über ihr. Die Silhouette der zum Greifen nahen Witoscha glühte zum einen Teil rosig; und soweit sie von der Sonne abgewandt war, zeichnete sie sich schwarz gegen den türkisblauen Himmel ab. Hunderte von Menschen gingen spazieren und atmeten mit Wonne die windstille erquickende Luft. Aber unter all diesen Menschen war immer noch nicht der, um derentwillen Eveline hier mit Leutnant Gonthard spazierenging. Zu ärgerlich!
Aber er wird schon kommen, nur nicht die Geduld verlieren, sagte sie sich. Jawasch, jawasch, heißt es bei den Türken. Er müßte nicht der Schwerennöter sein, als den ich ihn kenne, wenn er heute nicht spazierenginge, wo es von jungen Mädchen wimmelt.
»Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, Herr Leutnant. Da Sie ja immer wieder den Studentinnen unter den Hut schauen, ein Geheimnis, das Ihren Wünschen entgegenkommt.«
»Aber mein gnädiges Fräulein, ich verstehe durchaus nicht.«
Eveline lachte. »Ich erweise damit vielleicht auch den Studentinnen einen Dienst. Denn Sie und Ihre Kameraden scheinen sich da noch nicht recht auszukennen. Sehen Sie, da kommt wieder ein Trupp. Was haben sie alle unter dem linken Arm?«
»Bücher«, sagte der Leutnant, und man sah ihm deutlich an, daß er durchaus nicht wußte, wohinaus das wollte.
»Haben Sie gute Augen, Herr Leutnant?«
»Augen wie ein Luchs, mein gnädiges Fräulein.«
»Können Sie wohl erkennen, was für ein Buch das ist, welches die junge Dame, die am meisten rechts von den vieren, die auf uns zukommen, zu oberst auf dem Arme trägt?«
»Das könnte eine französische Grammatik sein, mein gnädiges Fräulein, wenigstens glaube ich erkannt zu haben, daß Grammaire oder so was auf dem Deckel stand.«
»Sie sind ein gelehriger Schüler, Herr Leutnant. Und nun will ich Ihnen das Geheimnis verraten: Eine Studentin, die ihre Bücher so trägt, daß ein französisches Buch zu oberst liegt, so daß man es als solches erkennen kann, will damit sagen: Mein Herz ist frei, ich suche einen Freund. Haben Sie verstanden, Herr Leutnant?«
Leutnant Gonthard machte große Augen. Dann sah er etwas mißtrauisch auf Eveline: »Treiben Sie auch keinen schlechten Scherz mit mir?«
»Gewiß nicht, Herr Leutnant.«
»Das ist ja großartig!« entfuhr es seinen Lippen.
Eveline lachte. »Das finde ich auch, und deshalb habe ich mir erlaubt, Sie darauf aufmerksam zu machen.«
Wieder kamen ihnen einige Studentinnen entgegen.
»Die haben schon alle Freunde«, sagte der Leutnant enttäuscht.
»Oder sie wollen überhaupt keinen, das kommt auch vor, Herr Leutnant.«
»Hoffentlich nur höchst selten, mein gnädiges Fräulein.«
Boris Makarow kam ihnen entgegen und trat zu den beiden. Zu dritt gingen sie weiter.
»Sehen Sie die hübsche Schwarzhaarige, Herr Leutnant, mit der Grammaire?«
Sie schüttelte ihm die Hand. »Na also, Herr Leutnant, viel Glück.«
Ehe Gonthard sich dessen versah, hatte Eveline ihn stehenlassen und ging allein mit Boris Makarow weiter.
Einen Augenblick lang wollte sich Gonthard ärgern, dann aber zog er es doch vor, der »Grammaire« zu folgen.
»Wie ich mich freue, Sie endlich einmal allein zu sprechen«, sagte Boris und machte seine feurigsten Augen.
»Das hätten Sie schon etwas früher haben können, Gospodin Makarow. Ich gehe hier schon bald eine Stunde lang spazieren.«
»Hätte ich eine Ahnung gehabt.«
Eveline lachte. »Ein Mann wie Sie sollte derlei immer haben.«
»Sie quälen mich, Eveline.«
»Womit, wenn ich fragen darf?«
»Sie weichen mir aus, Sie mißverstehen mich absichtlich, Sie machen sich lustig über mich!«
»Und Sie übertreiben, Gospodin Makarow, und beleidigen mich dadurch.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Man soll für kleine Gefühle nicht stärkere Worte gebrauchen, als ihnen zukommen. Durch Ihre gar zu großen Worte wollen Sie einen Eindruck bei mir hervorrufen, der falsch ist, und das mag ich nicht.«
»Ich versichere Ihnen ...«
»Das kann jeder sagen.«
»Ich bin bereit, Ihnen zu beweisen ...«
»Wie wollen Sie das wohl anfangen, Gospodin?«
»Bestimmen Sie!«
»Ich bin ein leidlich vernünftiger Mensch, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, ich bin für jeden Spaß zu haben, wenn es sich wirklich um einen Spaß handelt, ich kann sogar, was Ihnen vielleicht neu und verwunderlich erscheint, ernste Dinge ernst nehmen, aber ich mag es nicht, wenn man mehr oder weniger gute Scherze in ernste Worte kleidet, die ihnen nicht zukommen. Da ich aber auch ein höflicher Mensch bin, sagte ich eben nur, Gospodin: Sie übertreiben. Ich hätte mich auch weniger höflich ausdrücken können und dann ebenfalls recht gehabt.«
»Und doch meine ich es ernst, Eveline, wenn ich sage, Sie quälen mich!«
Eveline zeigte ein spöttisches Gesicht. »Sie verwechseln sich selbst mit ihrer Eitelkeit, Gospodin. Verzeihen Sie das höfliche Wort. Oder sind beide schon so völlig eins miteinander geworden, daß nichts mehr sie scheiden kann?«
»Ihre Worte sind mir zu scharf und zu spitz, sie stechen, aber ich verstehe Sie immer noch nicht.«
Sie sah ihn groß an.
»Nein, Eveline, ich verstehe Sie nicht!«
Sie lächelte leise vor sich hin. »Ich habe gewiß nichts gegen einen Flirt, Herr Leutnant, auch nicht gegen einen Flirt mit mir. Aber dann muß der Flirt auch nicht mehr beanspruchen, als er verlangen kann.«
»Wer sagt Ihnen, Eveline, daß es sich um einen Flirt handelt?«
»Meine Augen, Gospodin, und meine Erfahrung.« Sie lachte leise. »Oder glauben Sie im Ernst, Sie seien mein erster Flirt?«
»Schon wieder machen Sie sich lustig über mich.«
»Weil ich Ihnen die Wahrheit sage? Das scheint Ihnen selten zu passieren, Gospodin!«
»So geht das nicht weiter, Eveline!«
»Sprechen Sie nicht so laut, bitte, es ist nicht nötig, daß jeder Mann auf der Straße Sie versteht.«
Boris biß sich auf die Lippen und sah sie wild an.
»Ich habe schon bösere Gesichter gesehen, Gospodin, das nützt Ihnen gar nichts.«
»Was habe ich Ihnen denn getan, daß Sie mich so mißhandeln«, zischte er.
»Sie sind im Begriff, mir unrecht zu tun, Gospodin. Oder vielmehr, Sie tun es schon eine ganze Weile. Sie haben sich dazu herbeigelassen, mit mir zu flirten und bilden sich nun ein, ich müßte das tragisch nehmen und mich von Ihnen tyrannisieren lassen. Einen solchen Flirt liebe ich nicht, Gospodin. Also seien Sie wieder nett und angenehm und machen Sie keine Ansprüche, die Ihnen nicht zukommen.«
»Ich will nicht, ich kann nicht ...«
Sie reichte ihm die Hand. »Überlegen Sie sich die Sache, wenn Sie Lust dazu haben; oder noch besser, geben wir den Flirt wieder auf, Herr Leutnant, da er uns beiden lästig wird. Dort kommt Herr von Kaufmann, mit dem ich auch noch ein Wort zu reden habe.«
Sie ließ Boris stehen und ging rasch weiter. Sie sah Friedrich Franz so erwartungsvoll an, daß er zu ihr trat.
Sie reichte ihm die Hand zum Kuß. »Sie tun mir leid, Herr von Kaufmann. Bei diesem herrlichen Wetter sehen Sie drein wie eine Woche Regenwetter. Begleiten Sie mich ein wenig zurück zum Borispark, wenn Sie nichts Besseres vorhaben. Vielleicht gelingt es mir, Sie ein wenig aufzuheitern.«
»Zu gütig, mein gnädiges Fräulein.« Er schloß sich ihr an.
»Das klang wenig ermutigend. Um so netter ist es, daß Sie mich nicht im Stich lassen.«
»Fürchten Sie sich etwa, wo alles voll Menschen ist?«
»Eben der Menschen wegen, Herr von Kaufmann. Zuerst sahen sie mich mit dem Leutnant Gonthard, dann ging ich einige Schritte mit Boris Makarow, und nun komme ich mit Ihnen daher.«
»Sie meinen, ich bin ungefährlich und mache das wieder gut, was Sie in den Augen der vielen Menschen bisher durch meine beiden Vorgänger ein wenig ...«
»Sprechen Sie es nur aus, Herr von Kaufmann.«
»Ein wenig diskreditiert hat.«
»So ungefähr verhält es sich, Herr von Kaufmann.«
Er mußte unwillkürlich lachen.
»Sehen Sie, nun geht es Ihnen schon etwas besser.«
»Da haben Sie wirklich recht, gnädiges Fräulein.« Sie war wirklich eine amüsante und gescheite Person.
»Das freut mich aufrichtig.«
»Womit habe ich Ihre Teilnahme verdient, mein gnädiges Fräulein.«
»Menschen, die sich mit Politik abgeben müssen, tun mir immer leid, besonders wenn sie darüber vergessen, wie wunderschön es heute ist, fast unheimlich schön.«
Er seufzte: »Müssen, jawohl müssen, müssen und eigentlich gar nicht mögen, das ist das Fatale.«
Eveline horchte auf und musterte ihn von der Seite. Er schien es mit seinem Seufzer wirklich ehrlich zu meinen.
»Warum müssen Sie eigentlich, Herr von Kaufmann, wenn Sie gar nicht mögen?«
»Weil ich Narr nicht ahnte, was ich auf mich nahm, als ich mich nach hier meldete, weil ich Narr annahm, ich könne wieder heraus aus der Sache, wenn ich genug davon habe.«
»Und warum sollten Sie das nicht können, Herr von Kaufmann?«
»Ich kann doch nicht einfach fortlaufen, ausreißen wie ein Schuljunge.«
Eveline lächelte. »Aber mir scheint fast, am liebsten täten Sie es doch.«
»Es geht leider nicht.«
»Machen Ihnen die Mazedonier soviel Plage?«
»Nein, mein gnädiges Fräulein, mißverstehen Sie mich nicht, das ist durchaus nicht der Fall.«
»Wenn ich auch bei einer mazedonischen Familie wohne, ich würde Sie nicht verraten.«
»Ich versichere Ihnen, es hat mit den Mazedoniern nichts zu tun.«
»Vielleicht mit einer Mazedonierin?« fragte Eveline schalkhaft.
»Auch das nicht«, erwiderte er und verschloß sein Gesicht.
»Ich habe Sie immer für einen Berufspolitiker gehalten, einen, dem das Spaß macht, wie hier zulande allen Leuten.«
»Sehe ich wirklich so aus, mein gnädiges Fräulein?«
»Das hat doch nichts mit dem Aussehen zu tun.«
»Ich beschäftige mich eigentlich jetzt zum erstenmal mit Politik. Das hat der Krieg so mit sich gebracht. Wenn er vorbei ist, gehe ich wieder nach Afrika oder kaufe mir ein Gütchen, aber mit Politik will ich nichts mehr zu tun haben, nie wieder!«
»Da sind wir ja sozusagen Gesinnungsgenossen, das freut mich!«
Sie waren bis zur Krakrastraße gelangt, und er hielt an.
Die Sonne war bis auf ein Stück, so groß wie eine Zungenspitze verschwunden. Die Fenster waren schwarz, die Luft violett.
»Wollen Sie nicht noch die paar Schritte mitgehen, Herr von Kaufmann?«
»Ich möchte mich empfehlen, mein gnädiges Fräulein.«
»Auf Wiedersehen, Herr von Kaufmann.«
Die Zar-Befreier-Straße entleerte sich. Nach rechts und links strömten die Menschen ab zu ihren Häusern, um zu Abend zu essen.
Immer noch war es durchaus windstill, kein Blatt regte sich, kein Tier gab einen Laut von sich. Das fiel Friedrich Franz besonders auf, als er kurz vor der Sobranje an einer kleinen Herde von Eseln und Ziegen vorbeikam, die in dem dürftigen Wäldchen grasten, das sich hier befand. Sonst schrien die Esel doch immer gegen Abend. Er blieb beobachtend bei den Tieren stehen. Sie benahmen sich anders als sonst, schien ihm. Sie fraßen nur wenig und mit großen Unterbrechungen. Sie hoben immer wieder die Köpfe, schnupperten in die Luft und lauschten. Unwillkürlich horchte er auch. Ihm war, als hielte die ganze Natur den Atem an und lauschte. Es lag etwas Beklemmendes in der Luft, das ihn als Jäger und Afrikaner verwunderte. Er erinnerte sich nicht, dergleichen empfunden zu haben wie in diesem Augenblick.
Er beschleunigte seine Schritte. Plötzlich war ihm, als zittere der Boden unter seinen Füßen. Er hielt an. Es mußte eine Täuschung gewesen sein. Er ging weiter.
Aus dem Hotel kamen einige Bulgaren mit merkwürdig blassen Gesichtern und scheuen Augen. Sie begaben sich in den Stadtgarten und ließen sich dort auf eine Bank nieder.
Was ist denn los mit mir? dachte Friedrich Franz und schüttelte über sich selbst den Kopf. So kurios war ihm noch nie zumute gewesen.
Er atmete auf, als er in den Saal trat, in dem die Kellner mit ihren Schüsseln hin und her eilten, um zu Abend zu servieren. Nun setzte auch die Tafelmusik ein. Mir scheint, ich bekomme Nerven, dachte Friedrich Franz und ließ sich an dem kleinen Tischchen nieder, das für ihn reserviert war, wenn er einmal im Hotel zu Abend aß, was nicht allzuhäufig vorkam.
Er tranchierte gerade ein Hühnerbein, da war es, als ob eine Riesenfaust das Haus in die Höhe hob, um es dann wieder auf die Erde zu hauen. Zehn-, zwölfmal mit einer Riesenkraft und einer Riesenschnelligkeit. Das Haus stöhnte wie ein verwundetes Tier, die Gläser fielen klirrend zu Boden, von der Decke lösten sich ganze Fetzen und krachten zur Erde. Menschen schrien und rannten durcheinander, um das Freie zu gewinnen. Es grollte und rollte und knisterte, und das elektrische Licht erlosch.
Nur wenige Sekunden konnte es gedauert haben.
Auch Friedrich Franz befand sich auf der Straße, ohne zu wissen, wie er eigentlich dorthin gekommen war.
Auf der Straße wimmelte es von Menschen. Schreiende Kinder, hysterisch weinende Weiber, zitternde Männer.
Alle Lichter in der ganzen Stadt waren erloschen. Pechschwarz war die Nacht. Es standen zwar Sterne am Himmel, aber sie schienen alle Leuchtkraft verloren zu haben.
Und immer noch diese atemlose Stille in der Natur, so daß das Weinen und Schreien der Menschen noch gräßlicher klang.
»Noch einige Sekunden länger, dann war die ganze Stadt ein Trümmerhaufen«, sagte einer leise mit zitternder Stimme.
Die Bulgaren, die vorhin in den Stadtgarten gegangen waren, standen nun mit blassen Gesichtern und scheuen Augen am Gitter. Sie hatten das erste leise Zittern des Bodens vor dreiviertel Stunden gefühlt und waren ins Freie geeilt, denn der zweite Stoß würde schlimmer sein, das war immer so.
Mein Gott, ich wußte gar nicht, daß es in Sofia auch Erdbeben gibt, dachte Friedrich Franz, der noch ganz schwach in den Kniekehlen war.
Nun schwirrten die Gerüchte von allen Seiten. Dort war ein altes Haus eingestürzt und sollte drei Menschen erschlagen haben. Die Kranken aus den Lazaretten waren aus den Fenstern gesprungen und hatten sich dabei die Füße oder Arme gebrochen.
Mein Gott, es wird doch Leda nichts geschehen sein? schoß es Friedrich Franz durch den Kopf, und ohne lange zu überlegen, setzte er sich nach der Zar-Befreier-Straße in Bewegung.
»Nicht an den Häusern entlang gehen, mitten auf der Straße gehen!« brüllte ein Gendarm.
Wenn es nur nicht so dunkel gewesen wäre. Man sah kaum die Hand vor den Augen.
Friedrich Franz wäre fast über einen Säulenstumpf zu Fall gekommen, der mitten auf der Straße lag. Die Riesenfaust hatte die Säule vom Giebel des bulgarischen Offizierskasinos heruntergehauen.
Und merkwürdig, Friedrich Franz war es immer wieder, als winde sich der Boden unter seinen Füßen. Er mußte von Zeit zu Zeit stehenbleiben, um nicht zu taumeln wie ein Betrunkener. Aber wenn er dann anhielt, merkte er, daß sich der Boden gar nicht bewegte.
Er glaubte, sehr schnell zu gehen, kam in Wahrheit aber nur langsam vorwärts.
Trommler erschienen, trommelten und riefen dann in die Nacht, alle Menschen hatten die Häuser zu verlassen und die Nacht im Freien zu kampieren.
Wenn die Riesenfaust sich wieder rührt, dann gnade Gott, Sofia, dachte Friedrich Franz und eilte weiter.
In dem kümmerlichen Wäldchen in der Nähe der Sobranje standen die Esel und Ziegen lautlos und unbeweglich als schwarze Schatten. Kein Blatt, kein Zweig bewegte sich an den Bäumen. Das Auge hatte sich schon ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt. Nun waren auch die Menschen stumm geworden. Man hörte kein Weinen und Schreien mehr.
Es war Friedrich Franz, als schritte er durch eine ganz fremde, eine unwirkliche Welt. Ganz Sofia hielt den Atem an und lauschte mit Leib und Seele in allen Fasern, ob die Riesenfaust sich wieder rühre.
Stumm, wie erstorben lag die Krakrastraße. Die Leute hatten sich in die Gärten hinter den Häusern geflüchtet. Nur ab und zu ächzte leise ein Haus. Hier war eine ganze Gartenmauer eingestürzt. Das Haus dort stand wie verbogen da. Kreuz und quer zogen sich lange Risse durch die Wand.
Plötzlich leuchtete der Himmel über dem fernen Rilogebirge grell und hell auf, und wieder grollte und rollte es, und der Boden schlug kleine Wellen, wie Friedrich Franz deutlich sehen konnte. Aber es dauerte glücklicherweise kaum eine Sekunde.
Es kann eine angenehme Nacht werden, wenn das so weitergeht, dachte Friedrich Franz und setzte sich wieder in Bewegung. Ihm war, als müsse er erst von neuem gehen lernen.
Das Haus in der Schipkastraße, dem er zustrebte, lag dunkel, wie erstorben. Aber in dem kleinen Garten, der zu dem Hause gehörte, brannte eine Wachskerze. Ihr Licht stach kerzengerade in die Höhe, so ruhig war die Luft.
Friedrich Franz schlich sich auf den Zehen näher. Er erkannte die Serafinows und Eveline. Sie hatten es sich in Liegestühlen so bequem wie möglich gemacht und sahen vor sich hin, ohne ein Wort zu sprechen. Gott sei Dank, ein Unglück war also nicht geschehen.
Er kehrte wieder um nach der Stadt. Die Menschen, die keine Gärten besaßen, hatten sich Bettzeug aller Art auf die Straße geholt und nächtigten so. Stumm waren sie immer noch, und man mußte achtgeben, daß man nicht auf einen ausgestreckten Arm oder auf ein Bein trat.
Für Diebe wäre eine gute Zeit gewesen, aber nicht einmal sie trauten sich jetzt wohl in die Häuser.
»Sind Sie's wirklich, Herr von Kaufmann? Ja, ja, wir leben auf einem Vulkan hier, in des Wortes wörtlichster Bedeutung. Wer hätte das vor zwei Stunden wohl gedacht.«
Oberleutnant von Hungen und Leutnant Peters, die Unzertrennlichen, waren es.
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Uns den Schaden ein wenig besehen, soweit das in der Finsternis möglich ist. Kommen Sie mit?«
Friedrich Franz schloß sich den beiden an.
»Ein Glück noch, daß der alarmierende Stoß so früh am Abend, nicht mitten in der Nacht kam. Da hätte es noch viel schlimmer werden können bei der allgemeinen Verwirrung.«
»Weiß man schon etwas Bestimmtes über den Schaden?«, fragte Friedrich Franz.
»Das wird man wohl erst morgen feststellen können. Im ›Deutschen Haus‹ ist jedenfalls trotz seiner sechs Stockwerke nichts weiter passiert, als daß wir tüchtig durcheinandergerüttelt wurden. Es ist ja auch ein neuer solider Betonbau. Nur eine Ordonnanz, die von den letzten Kämpfen im Westen sowieso schon mit den Nerven herunter war, ist vor Angst aus dem ersten Stock auf die Straße gesprungen und hat beide Beine gebrochen.«
»Wohin man sieht, das reine Feldlager«, meinte Leutnant Peters.
»Und wie ruhig die Leute schon wieder sind«, sagte von Hungen. »Dabei kann es jeden Augenblick wieder losgehen. Der ›Laubfrosch‹ von der Wetterwarte telegraphierte, es handle sich um ein tektonisches Beben, dessen Ende nicht abzusehen sei. Sofia ist ja auf lauter Gebirgsschutt aufgebaut, das verschiebt sich halt von Zeit zu Zeit. Ungemütlich, höchst ungemütlich. Da ist es hoch oben in der Luft doch viel behaglicher.«
»Ja, die Leute haben immer ein wenig Mitleid mit uns, wenn wir fliegen«, sagte Peters lächelnd. »Jetzt werden sie uns beneiden und finden, in der Luft sei es doch sicherer als auf der alten, sogenannten festen Erde.«
Sie kamen zur Maria-Luise-Straße und bogen in eine der ärmlichen Seitenstraßen ein. Hier sah es allerdings bitterböse aus. Einige Lehmhäuser waren völlig zusammengefallen. Andere drohten jeden Augenblick mit dem Einsturz. Aus manchen Wänden warm ganze Teile einfach herausgebrochen wie aus einem alten bröckeligen Kuchen. Menschen waren nicht zu sehen. Sie hatten sich offenbar auf das freie Feld begeben mit ihren wenigen Habseligkeiten.
»Angenehm, daß es wenigstens nicht regnet«, sagte Friedrich Franz.
Er verabschiedete sich und kehrte zum Hotel zurück.
Die Hotelgäste und das Hotelpersonal biwakierten im Stadtgarten. Der Wirt riet Friedrich Franz dringend ab, jetzt in das Haus zu gehen. Er sah grün aus vor Angst.
Aber Friedrich Franz wollte sich davon überzeugen, wie es in seinem Zimmer aussah, und ließ sich nicht zurückhalten.
Auf den Treppen und Gängen lag dicker Staub. Der Mörtel war zumeist von den Decken und Wänden gefallen. Die Wände zeigten breite Spalte, durch die man mit dem Arm durchgreifen konnte.
Friedrich Franz ließ seine elektrische Taschenlaterne nach allen Seiten spielen. Böse sah es hier aus, sehr böse. Wenn es noch einmal einen ähnlichen Stoß gab, dann war das Hotel erledigt, dann konnte man sehen, wo man unterkam. Keine Kleinigkeit, wo es ohnedies schon seit langem in Sofia an Wohnungen fehlte. Seit den Balkankriegen hatte ja nichts gebaut werden können.
Wenn man die Decke da nicht bald stützte, fiel sie ein ... Die Tür zu seinem Zimmer stand sperrangelweit offen. Er wollte sie schließen, aber es gelang nicht. Es hatte sich alles verbogen. Das Bett war mit Kalk und Staub und einigen Ziegelsteinen bedeckt. Die Wände zeigten breite Risse, der Zimmerboden war eine schiefe Ebene geworden. Das Zimmer lag in dem ältesten Teile des Hauses, der besonders arg mitgenommen war. Hier konnte er jedenfalls nicht sobald wieder nächtigen.
Friedrich Franz begab sich auch in den Stadtgarten. Er fand noch ein freies Plätzchen auf einer Bank. Da ließ er sich nieder, um hier die Nacht zu verbringen, wie so viele andere ringsum. An Schlafen war ja doch nicht zu denken, schlafen konnten nur die Kinder, die Erwachsenen lagen wach oder halbwach herum und warteten. Ein großes Glück, daß die Nacht warm war.
Noch zweimal in dieser Nacht verspürte man leichte Stöße, und immer noch rührte und regte sich außerdem nichts in der Natur. Die Sonne ging auf und sah in ganz Sofia übermüdete, übernächtige Gesichter. Sonst pflegten die Hähne um diese Zeit zu krähen. Da es deren sehr viele gab, ein Mordsspektakel, der Friedrich Franz gar oft schon in aller Frühe geweckt hatte. Heute krähte kein Hahn. Selbst den Hähnen schien der Schreck immer noch in den Gliedern zu stecken.
Die Leute gähnten, rieben sich schlaftrunken die Augen und die schmerzenden Glieder, die Kinder begannen nach Milch und Essen zu weinen, die Mütter schlichen ängstlich in die Häuser und kehrten mit Brot und Milch zurück. Aus dürren Zweigen und dem ausgetrockneten Laub wurden überall kleine Feuer angezündet gegen den Morgenfrost. Aber immer noch wagte sich niemand in die Häuser zurück.
Es verbreitete sich das Gerücht, die Wetterwarte habe für 11 Uhr einen neuen schweren Stoß vorausgesagt. Die Frauen begannen wieder leise vor sich hin zu weinen.