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Georg hatte sich, wie schon gesagt, sehr gefreut, seinen Freund nicht daheim zu treffen, als er von seiner Waldpromenade zurückkehrte. Es war das erste Mal, daß er sich nicht nach Mittheilung sehnte, ja daß ihm zu Muthe war, als habe das Leben ihm ein Geheimniß anvertraut, das nur Einer bewahren, ein Räthsel, das nur Einer lösen dürfe, das nicht die Berührung einer andern Hand als der seinen, nicht der Blick eines andern Auges, als den des seinigen vertragen konnte, ohne den Zauber des Glückes einzubüßen.
Er wußte eigentlich gar nicht, wie ihm zu Muthe war, aber er forschte auch nicht darnach. Ob des Mädchens Schönheit so berauschend auf ihn gewirkt, ob ihr unbefangenes, offenes Wesen, ob der Wechsel von kindlicher Anmuth und kindischem Trotz, von warmem Gefühl und schroffer Härte sie so interessant gemacht, ob ihr trauriges Schicksal sein Mitgefühl erregt, oder ob gar ihr Name und die sich an denselben knüpfenden Vermuthungen seine Theilnahme und Wißbegier erregt hatten, was fragte er darnach, was ging ihn das Alles an! Er dachte an keine Einzelnheit der heutigen Begegnung, es war nicht dieser und nicht jener Zug, der ihn beschäftigte, ja, er würde es vielleicht eben so schwer gefunden haben, sich oder Anderen ein zusammenhängendes Bild des kleinen Erlebnisses zu entwerfen, als es schwer ist, die Eindrücke eines Traumes zu motiviren.
Er hatte sich an das offene Fenster gesetzt; über Wald und See hinaus schweifte der Blick, die herrliche Aussicht, von der das Haus seinen Namen entlehnt, gedankenlos anstarrend. Ihm zeigte Wald und See nur ein Bild: ein schönes kindliches Mädchenhaupt. Es tauchte auf und nieder im Schaum der Wogen, es lauschte aus dem grünen Waldesdunkel hervor, die Wolken bildeten seine Züge nach, der Sonnenschein verklärte es; es schwamm oben im Himmelsblau, und dann drängte es sich wieder so in seine Nähe, daß ihn die Sehnsucht überkam, es an's Herz, an die Lippen zu drücken. So träumte er fort, bis Victor kam.
In demselben Augenblick, als jener eintrat und er in das lachende, sorglose Gesicht desselben sah, fühlte er mit vollkommener Deutlichkeit, daß er von Wendula kein Wort erzählen könne.
Victor machte ihm das Schweigen leicht; er war zu erfüllt von seinem eigenen Abenteuer, um etwas Anderes als eine flüchtige Frage nach dem Erfolg von Georg's Forschungen zu haben oder gar einen Verdacht in die einsilbige, abweisende Antwort desselben zu setzen. Er lachte nur über die, wie es ihm schien, enttäuschte Miene desselben und sagte dann:
»Du hast gesucht, und ich habe gefunden, das heißt, ich habe nicht gerade das Backfischchen gefunden, dem die Fußstapfen, die für einen erwachsenen Menschen viel zu klein, also unnatürlich und unschön wären, zugehören, aber viel, viel Besseres habe ich gefunden. Deine Schwester Flora, die ganz die Alte ist, und ihren Mann, den ich nie wieder erkannt haben würde, so sehr gleicht er einem glücklichen Menschen, und zwei seltsam ungeschickte und doch anziehende Exemplare von Töchtern, denen nichts als Gutherzigkeit, Liebe und Zufriedenheit aus den treuherzigen Augen lacht, und einen Teckel, der Hannibal heißt und so zur Familie gehört und in sie hineinpaßt, daß man nicht weiß, hat diese seine Züge und Gestalt oder er die ihrigen angenommen. Mit denen traf ich bei den Fußstapfen zusammen und habe mit ihnen auf den Dünen im Sande gesessen, habe aus einer dickbäuchigen, kurzbeinigen Kaffeemaschine ein Täßchen, wie sie sagen, nach dem andern getrunken, habe die altbackenste Prosa plaudern hören und es ist mir so behaglich dabei zu Muthe gewesen, als säße ich an einem rauhen Winterabend in Schlafrock und Pantoffeln am lodernden Kamin, hörte die Funken knistern, sähe die Kohlen verglühen und kümmerte mich um gar nichts auf der Welt, als um die Melodien, die mir dabei im Kopf herumsummen.«
Georg sprang bei dem Bericht des Freundes wie elektrisirt auf.
»Es hat mich eine geheimnißvolle Macht hierhergezogen, es ist doch eine Offenbarung in den Fußstapfen,« sagte er, »ich habe es gewußt, geahnt. Den ganzen Morgen ist mir zu Muthe gewesen, als lebte ich in einer Märchenwelt –«
»Aber ich bringe Dir ja gerade etwas Wirkliches, Träumer!« lachte Victor, »etwas sehr Wirkliches, nicht eine Märchengestalt ist darunter, nicht eine unirdische Erscheinung. Gottlob, selbst die schöne Miß gehört in's Leben, in's volle, wirkliche Leben!«
»Die schöne Miß?« – Georg sah ihn freundlich an.
Victor nannte Miß Grandison und erklärte ihm mit einem Gesicht, durch dessen Ernsthaftigkeit tausend Schelmereien blitzten, ihre Stellung zur Familie und wie sie dieselbe der Empfehlung Flora Eisenhart's zu verdanken habe.
»Sie ist die intimste Freundin Deiner Braut,« setzte er hinzu.
»Flora Eisenhart ist nicht meine Braut,« entgegnete Georg ernsthaft, nahm seinen Strohhut, und seinen Arm durch den Victor's ziehend, sagte er:
»Komm, laß uns zu meinen Verwandten gehen! Ich muß Flora wiedersehen.«
Mit unbeschreiblicher Freude wurde er von dieser begrüßt, mit einer solchen Herzlichkeit von seinem Schwager empfangen, nachdem ein Blick in des jungen Mannes Gesicht ihn wohl davon überzeugt hatte, daß keine einzige der schroffen und lieblosen Empfindungen der stolzen Frau, die ihn so tief beleidigt hatte, in einer Seele Raum haben könnten, die ihre innere Schönheit klar und treu auf einem so offenen, die Wahrheit sprechenden Antlitz wiederspiegelte. Nicht einen Augenblick standen sich Bruder und Schwester fremd gegenüber, und der durch Frau Artefeld's Verfahren und durch die Jahre zerrissene Zusammenhang wurde augenblicklich wieder angeknüpft.
Georg erinnerte sich noch des letzten Märchens, das Flora ihm erzählt, er wußte noch Tag und Stunde, er nannte Beides, dann verstummten sie, und Thränen traten in Flora's Augen, denn jenes letzte Märchen hatte Flora dem kleinen Georg an dem Morgen seines fünften Geburtstages erzählt, und dann war jene sturmvolle Zeit, reich an Schmerz und Trübsal, gekommen, die Flora für immer aus dem Vaterhause entfernt und wenigstens äußerlich allen Denen entfremdet hatte, die mit demselben zusammenhingen.
Seit Elisabeth's Tode hatte sie nur durch Erkundigung bei Fremden oberflächliche Kenntniß von dem Ergehen Derer erhalten, von denen weder ihre Gedanken noch ihr Herz sich losmachen konnten. Sie hatte es anfänglich versucht, in einen schriftlichen Verkehr mit ihrer Stiefmutter zu treten.
»Wozu,« hatte die schroffe Frau gemeint, »wozu soll es dienen, daß wir uns schreiben? Du bist die Tochter Deines Vaters, Du bist seinem schädlichen Einfluß zu lange ausgesetzt gewesen, Du wirst mir zugeben, daß er mir unrecht gethan hat, wir Beide können einander nicht wohlthun.«
»Aber Georg,« hatte Flora eingewendet, »ist er nicht auch der Sohn meines Vaters?«
»Leider,« war die harte Antwort gewesen, »leider kann ich ihn von der Schuld nicht befreien, und nur die schlimmsten Folgen derselben dadurch verhüten, daß ich das Andenken seines Vaters aus seinem Geist verwische. Er ist noch jung genug dazu.«
In diesem Sinne waren Flora's Briefe beantwortet worden. Sie gab nicht gleich den Versuch auf, das Herz ihrer Mutter milder zu stimmen, aber nach den ersten Proben dieser Correspondenz untersagte ihr Richter dieselbe. Er wollte nicht immer wieder die schöne Seelenstimmung seiner Frau erschüttert und getrübt sehen, er versprach sich nicht den mindesten Erfolg von Flora's liebevollen Versuchen.
»Ueberlaß Deine Sache dem Himmel,« sagte er, »will er Dir das Herz des kleinen Jungen behüten und erhalten, wird es ohnedem geschehen. Deine Briefe werden nichts ändern, Du kannst ihn doch nicht irre an der Mutter machen wollen?«
»Soll er seinen eigenen Vater mißachten, soll er ihn im glücklichsten Fall vergessen lernen?« hatte Flora eingewendet, aber wieder nur den Bescheid erhalten: »Ueberlaß das Alles dem Himmel!«
Sie war dem Rathschlag gefolgt und hatte sich von da an, wenn auch mit schwerem Herzen, in die Nothwendigkeit ergeben, denen fern zu bleiben, mit denen sie gleichwohl durch heilige Bande verbunden war. Nur auf Umwegen, durch die Vermittelung alter Bekannten, hatte sie von Zeit zu Zeit die oberflächlichen Nachrichten erhalten, die Andere als die Betheiligten selbst zu geben im Stande sind. Sie theilte in ihrem Herzen alle die Sorgen der Mutter um Georg's Leben, sie hörte von der tiefen Zurückgezogenheit, in der derselbe erzogen, von dem Mißtrauen, mit dem er vor jedem Zusammenhang mit Anderen bewahrt wurde, sie konnte sich das Uebrige denken, und wenn auch die Berichte, die sie empfing, voll waren von Georg's Lob, sein freundliches, sanftes Herz priesen, so gab sie ihn doch gewissermaßen verloren und sah in dieser Sanftmuth und Freundlichkeit nichts Naturwüchsiges, sondern eher eine verweichlichende Folge des Druckes, der auf ihm lastete.
Ihr Interesse für den armen Jungen, wie sie ihn nannte, wurde dadurch nur erhöht, aber es wurde ihm immer weniger Nahrung geboten.
Man weiß ja, wie es in der Welt zugeht. Selbst der Zusammenhang zwischen intimen Freunden wird loser, wenn nicht ein öfteres Wiedersehen das alte Band wieder festknüpft. Man hört nicht auf, einander zu lieben, an einander zu denken, aber man hört auf, mit einander zu leben, und auch die schriftlichen Mittheilungen werden seltener und schlafen oft ganz ein, weil eben die Zusammengehörigkeit im Kleinen ein Ende hat, das tägliche Leben aus tausend Kleinigkeiten zusammengesetzt ist und das dadurch erzielte Resultat oft so wenig erkennbar über uns kommt, daß es Dem vollständig verborgen bleibt, der nicht auf demselben Wege zu demselben gelangt. So werden sich Freunde, Verwandte trotz aller Liebe für einander fremd, und führt das Leben sie unerwartet zusammen, müssen sie erst die alte Bekanntschaft erneuern, wenn sie nicht die Gabe besitzen, Zusammenhang zwischen dem Früheren und dem Jetzt instinctmäßig herauszufinden, auch ohne den vermittelnden Uebergang zu kennen.
So versiegte allmählich auch für Flora die Quelle, aus der sie Nachrichten von den Ihrigen schöpfte, immer mehr, und sie mußte sich zuletzt mit dem begnügen, was ihr Mann gelegentlich durch seine Geschäftsverbindungen erfuhr. Das lautete nun sehr widersprechend. Darnach war Georg bald ganz gesund und wurde nur durch seine Mutter verzärtelt und verwöhnt, bald wurden seinem Leben wieder die engsten Grenzen gesteckt, bald pries man ihn all' der Vorzüge seines äußeren Lebens halber glücklich, bald wurde er seiner Abhängigkeit wegen bedauert. Der Eine stellte seine Liebenswürdigkeit hoch, sah in ihr einen Beweis von der Unantastbarkeit seiner Herzensgüte, ja, leitete sie aus einer jeden schädlichen Einfluß besiegenden Charakterfestigkeit ab, während der Andere in derselben nur schwachherzige Passivität sah.
Unzählige Male hatte Flora den Gedanken gefaßt, ihm einmal selbst zu schreiben und ihn an die geschwisterlichen Bande zu mahnen, ihr Mann hatte sie aber vor den Conflicten gewarnt, die daraus entstehen könnten, ja, bei Frau Artefeld's eigenthümlichem Wesen fast unvermeidlich waren, und sie mußte die Wahrheit seiner Behauptungen einsehen.
So ließ sie denn auch allmählich in ihren Forschungen und Erkundigungen nach, und die letzten Jahre waren vergangen, ohne ihr die mindeste Kunde von Georg zu bringen. Welche Freude, welche Seligkeit für sie, ihn auf einmal vor sich stehen zu sehen, in den weichen, hübschen Zügen des jungen Mannes das ehemalige Kindergesicht, in seiner warmen Herzlichkeit das frühere anschmiegende Wesen wiederzufinden.
»Mir ist, als hätten wir Beide geträumt,« sagte sie, »als wärst Du noch der kleine Knabe, als sähe ich Dich am Boden sitzen und mit der Handelsflotte spielen und sie dann plötzlich wild durcheinander werfen, wenn Schwester Flora kam und Du nach der Abwechselung eines Märchens verlangtest.«
»Ja, die Handelsflotte,« sagte Georg lächelnd, »ich liebte sie eigentlich gar nicht, und es wurde mir oft recht schwer, damit zu spielen, aber die Mutter hat recht gehabt, mich daran zu gewöhnen. Gewohnheit und Nothwendigkeit macht uns Manches lieb, wozu die Natur uns die Neigung versagte.«
»So bist Du also zufrieden mit Deinem Beruf?« fragte Flora.
»Ja,« sagte er fest. »Ich weiß nicht, ob ich ihn gewählt haben würde, ich habe zu vielen anderen Dingen vorzugsweise Neigung, aber gerade deshalb ist es vielleicht gut, daß mir das Schicksal diesen Beruf bestimmt zugewiesen hat. Ich meine, ich bin so vor Zersplitterung bewahrt. Aus einem Guß Kaufmann, wie die Mutter, werde ich nicht sein, ich habe auch Manches vom Vater: seine Liebe zum Lebensgenuß, seinen Sinn für alles Schöne, sein leichtes Blut –«
Flora sah den Redenden erstaunt an. Er sprach so harmlos, es war unmöglich, daß sich eine andere Meinung hinter seinen Worten verbarg. Die Mutter hatte also nicht das Andenken des Vaters vor dem eigenen Kinde in den Staub gezogen.
»Erinnerst Du Dich noch des Vaters?« fragte sie gepreßt.
»O, sehr gut,« entgegnete er lebhaft. »Weißt Du, Flora, ich habe überhaupt nichts vergessen. Der Vater hat sich nicht viel mit mir abgegeben, ich war noch zu klein damals, aber ich habe ihn immer nur freundlich und vergnügt gesehen, und die letzte Erinnerung, die ich an ihn habe, ist ja die an ein Vergnügen, das er mir machen wollte. Daß er da krank war, daß daher seine Aufregung kam, die ich für Lustigkeit hielt, und daß er deshalb auch das wilde Pferd nicht zügeln konnte, habe ich erst später erfahren.«
»Hat die Mutter es Dir gesagt?« fragte Flora leise.
»Nein,« sagte er, »die Mutter spricht nie vom Vater, es ist ihr zu schmerzlich. Ich weiß noch, wie todtenblaß sie wurde, als ich in meiner Krankheit nach ihm zu fragen anfing, und wie sie mir sagte, ich solle ihn vergessen und nicht mehr von ihm sprechen, wenn ich sie nicht unter die Erde bringen wollte. Damals wußte ich nicht warum. Später, als ich vernünftiger wurde, sah ich wohl, daß sich der tiefste Schmerz hinter dem harten Gebot, meinen Vater zu vergessen, versteckte, und ich handelte dann dem wahren Sinn ihrer Worte gemäß, das heißt, ich fragte sie nie nach dem Vater, aber ich vergaß ihn so wenig, wie sie es konnte. Ich dachte immer, es kommt wohl einmal eine Zeit, in der sie es vermag, über ihn zu sprechen, inzwischen ging ich zu Gebhard, wenn ich gern etwas über den Vater wissen wollte.«
»Und er lobte den Vater, der gute Gebhard?« sagte Flora mit Thränen in den Augen.
»Natürlich,« entgegnete Georg, »wie sollte er anders, der Vater war ja so gut. Die Mutter ist es auch, Flora,« fügte er auf einmal in bedeutungsvollem Tone hinzu, Flora mit bittenden Blicken ansehend. »Sie wird nur so leicht mißverstanden,« fuhr er fort, als Flora nicht antwortete, »und weil sie ihr Herz nicht auf der Zunge trägt, glauben so Manche, sie habe keins. Du denkst das nicht, nicht wahr, Flora?«
»Nein,« sagte sie gepreßt, »ich zweifle nicht, daß sie ein Herz hat, ich besitze nur das Senkblei nicht, das in die Tiefe desselben reicht.«
»Das Senkblei ist die Liebe, die solltest Du nicht haben?« sagte Georg. »Dann müßtest Du ganz anders sein, als ich gedacht habe, meine theure Flora, Nein, nein,« fuhr er fort, »laß mich glauben, daß nur ein Mißverständniß Euch trennt. Ich habe es immer geglaubt und des Augenblickes geharrt, wo es sich würde lösen lassen, man muß bei der Mutter nur die Zeit abwarten. Sie ist nicht weich wie die meisten Frauen. Sie sagt selbst, sie hat schweren Verhältnissen Stand halten müssen, das hat ihr die harte Außenseite gegeben, hindurch schlagen können wir nicht, weder Du noch ich können es.«
»Nein, das kann nur Gott,« dachte Flora, sprach es aber nicht aus, sondern drückte Georg nur stumm die Hand.
»Es ist so unnatürlich, daß Mutter und Tochter, daß Bruder und Schwester getrennt sind,« fuhr Georg fort, »der Gedanke, daß es anders sein müsse, hat mich nie verlassen, jetzt, nun ich Dich wiedersehe, fühle ich es tiefer denn je, daß es so nicht bleiben kann. Nicht umsonst sind wir Beide hier zusammengetroffen. Ich habe Dich wiedergefunden für die Mutter, wollte Gott, ich fände auch Richard wieder.«
Sie hatten Beide das Gespräch leise geführt, aber es war nicht die Zeit, in der Herr Richter seine Cigarre zu rauchen und zu schweigen pflegte, Flora brach also das Gespräch, das sie mit Georg isolirte, ab. Die Unterhaltung wurde allgemein und in ungenirtester Weise geführt. Die jungen Männer mußten zu Tische bleiben. Es dauerte nicht lange, so war Georg schon Herrn Richter's Goldsöhnchen, sein Herzensjungchen. Röschen und Lorchen boten ihm das Du an und plauderten so vertraut mit ihrem trautsten Georg, als hätten sie von Kindheit an mit einander verkehrt, und auch Hannibal schien die Verwandtschaft heraus zu schnüffeln und setzte den Liebkosungen Georg's kein abweisendes Knurren entgegen. Nur die Miß war zurückhaltend und fremd, aber ihr Auge ruhte viel und forschend auf Georg, und es spiegelte sich unwillkürlich ein Gefühl des Wohlgefallens darin.
»Das sind liebe Leute,« sagte Georg aus vollem Herzen, als er sich mit Victor verabschiedet hatte, »ich bin herzensfroh, daß ich sie hier gefunden. Wir bleiben jetzt hier, nicht wahr? Wir gehen nicht nach Misdroy.«
Victor stutzte. Er hatte an demselben Morgen noch gemeint, er müsse gehen, aber Georg's Entschluß warf sein Bedenken um.
»Kannst Du's vor Deiner Mutter verantworten?« fragte er, »wirst Du ihr schreiben, wen Du hier getroffen?«
»Natürlich,« entgegnete Georg, »denn es erklärt, warum ich, ihren Wünschen zuwider, längere Zeit hier verweile. Uebrigens ist ihre Sorge unnütz,« setzte er hinzu, »noch hat kein Mensch mich auf meinen Namen angesehen, es knüpft sich für Keinen eine Erinnerung an denselben.«
»Es hat wohl kaum Einer gewußt, daß die unglückliche Frau,« deren Schicksal sich hier so schmerzlich erfüllte, Deinen Namen getragen,« entgegnete Viktor. »Zudem bin ich überzeugt, wer noch an die traurige Begebenheit denkt, thut es mit mitleidigem Herzen.«
»Die arme Mutter hat doch entsetzlich viel Unglück gehabt,« sagte Georg sinnend.
Sie waren vor der Thür ihrer Wohnung angekommen.
»Ich möchte noch in den Wald gehen,« fuhr er zögernd fort.
»Ich gehe nicht mit,« entgegnete Victor, »ich spare meine Kräfte zur Strandpromenade mit Richters, wie wir es versprochen haben.«
»Bis dahin bin ich zurück, und müde werde ich in dieser himmlischen Luft nicht,« sagte Georg.
Er wendete sich zum Gehen. Victor hielt ihn auf.
»Du hast noch kein Wort über Miß Grandison gesagt,« bemerkte er.
»Ich weiß nichts über sie zu sagen,« entgegnete Georg, »sie sah mich, wahrscheinlich in meiner Cousine Interesse, so vielfach und so neugierig an, daß mir alle Lust zu näherer Bekanntschaft verging.«
»Neugierig?« wiederholte Victor, »sage lieber forschend.«
»Meinetwegen: auch forschend,« erwiderte Georg, »jedenfalls hatte ich Lust, ein recht widerwärtiges Gesicht zu machen, um die überseeische Cousine von mir abzuschrecken.«
»Kann sie dafür, daß Du Flora heirathen sollst? Ich versichere Dir, sie ist ein höchst pikantes, reizendes Mädchen, und für den, der sich mehr aus Geist macht als aus Schönheit, ist sie sogar schön.«
»Mag sein, aber laß mich gehen jetzt, über alles Reizvolle, alles Pikante, alle Schönheit geht mir hier Eins: meine Waldschönheit.«
Er eilte fort.
»Schwärme nur im Walde, Du Kindskopf,« rief Victor ihm nach, »es wird die Zeit schon kommen, wo Du in anderer Weise schwärmen wirst!«
»Für die Miß Grandison nicht, sei unbesorgt,« lachte Georg und eilte fort.
Es zog ihn nach der Försterei. Die Kaffeezeit war zwar vorüber, aber er fand doch noch eine ziemliche Anzahl von Gästen da, die sich theils zu so später Stunde an dem beliebten würzigen Trank erquickten, theils auch sich damit begnügten, auf irgend einem schattigen Plätzchen der Ruhe zu pflegen und Kräfte zu einer weiteren Promenade zu sammeln.
Georg wählte sich einen von der Gesellschaft etwas entfernten Platz, von dem aus er das ganze Treiben überschauen konnte. Die beobachtende Rolle sagte ihm jedoch wenig zu. Er war im Augenblick zu sehr von einem Gedanken, einem Bilde erfüllt, um an der Beobachtung geselligen Treibens viel Gefallen zu finden. Das bunte Durcheinandergehen und Schwatzen verdroß ihn, selbst das laute Spiel der Kinder, das sonst immer einen fröhlichen Zuschauer an ihm fand, war ihm störend und entweihte ihm den Wald, dessen holde Priesterin zu der Schmach der Dienstbarkeit verurtheilt war. Er sah ordentlich mit einem Gefühl des Zornes die schöne Wendula unter den Gästen umherwandeln, hier Kaffeegeschirr bringen, dort es wegtragen, Stühle herbeiholen, Hüte und Schirme abnehmen und zur Aufbewahrung in's Zimmer tragen. Sie that das Alles mit einer fast majestätischen Ruhe, einem durch kein aufmunterndes Wort oder wohlgefälligen Blick zu verscheuchenden Ernst.
Georg war immer zu Muthe, als müsse er aufspringen und ihr die Last abnehmen. Er hätte ihr die Hände unter die Füße legen mögen und mußte es statt dessen mit ansehen, wie sie Mägdedienste verrichtete.
Ein helles, aber augenblicklich wieder entschwindendes Aufleuchten ihrer Augen, als er an ihr vorüber seinem Platz zugeschritten war, hatte ihm wohl gezeigt, daß sie ihn bemerkt, aber sie hielt sich ihm fern, auch ihr Auge suchte ihn nicht wieder.
Es war ihm zuletzt so unerträglich, sie in dieser Stellung zu sehen, daß er, mit dem Ellbogen auf dem Tisch ruhend, den Kopf in die Hand stützte und die Augen halb schloß.
Da unterbrach plötzlich der tiefe Ton ihrer Stimme das ihn umgebende Geräusch und verscheuchte mit einem Zauberschlage all' den ihm widerwärtigen Lärm schallender Kinderstimmen, lauten Gelächters und bunten Geschwätzes. Wie erlöst kam er sich vor, und doch war es nur eine ganz triviale Frage, die sein Ohr traf.
Wendula war von Frau Wallner geschickt worden, sich zu erkundigen, ob der junge Herr nicht Kaffee oder was er sonst befehle.
Georg dankte für Alles.
»Man wird Sie nicht gern kommen sehen, wenn Ihr Besuch nur dem Walde gilt, nicht dem Kaffee der Frau Försterin,« sagte sie. »Ich muß alle die Menschen da bedienen, Ihnen brächte ich gern etwas. Es sind Erdbeeren da, frisch gepflückte.«
»Hast Du sie gepflückt?«
Sie bejahte.
»So bringe sie mir!« bat er.
Sie machte ein sehr freundliches Gesicht, ging aber dann mit demselben ruhigen, gleichmäßigen, jedoch nicht langsamen Schritt, das Verlangte zu holen.
Ihm schien eine Ewigkeit bis zu ihrer Wiederkehr zu verstreichen. Er stützte den Kopf wieder in die Hand und schloß die Augen; der Wald war ja doch dunkel ohne sie, und ohne den zauberischen Ton ihrer Stimme, der das Geplauder um ihn her bannte, berührte ihn dasselbe wieder mißtönend wie wüster Lärm.
Er athmete aus, als sie die Früchte brachte, die sie zierlich auf grüne Blätter gelegt und Waldblumen dazwischen gesteckt hatte. Georg sah es augenblicklich, daß der Strauß fehlte, den sie vorhin am Busen gehabt. Ein lächelnder Blick dankte ihr.
»Sind immer so viel Menschen bei Euch?« fragte er.
»Nachmittags, ja,« entgegnete sie, »aber des Morgens ist es meist ganz einsam hier. Nur mitunter kommt einmal Jemand her, hier zu lesen oder Briefe zu schreiben, oder auch zu zeichnen, oder auch nur sich an einem Glase frischer Milch zu erquicken. Des Morgens ist es viel schöner hier als jetzt.«
»Gut, das nächste Mal komme ich des Morgens,« sagte Georg bedeutungsvoll.
Wendula's Augen sandten ihm einen Strahl hell aufblitzender Freude zu, dann wendete sie sich rasch fort und wieder zu den anderen Gästen.
Von da an brachte er jeden Morgen in der Försterei zu. Er lag dort im Grase unter einem Baume, ein Buch in der Hand, über dessen Blätter seine Augen meist hinschweiften, um in dem Buch zu lesen, das aufgeschlagen vor ihm lag, ein Buch, dessen Inhalt kein Menschenauge und kein Menschenverstand jemals in seiner ganzen Tiefe zu erfassen vermag, in dem das Herz aber jederzeit den lebendigsten Aufruf der Freude, eine Quelle süßesten Trostes, eine Fülle herrlicher Verheißungen finden wird. Georg las von seinen Blättern nichts als Jubellieder. In Kinderandacht stimmte er ein, aber die Andacht verirrte sich zu ihr, die in Waldesfrische und Einsamkeit geboren und emporgewachsen, jetzt durch ein kaum geahntes, unwiderstehliches Gefühl die Weihe unsterblichen Lebens, unsterblicher Schönheit empfing.
Andacht gebührt nur dem Höchsten, die Andacht, die dem irdischen Geschöpf huldigt, ist Liebe, aber echte Liebe hat weder Anfang noch Ende. Sie kommt von Gott und ist ewig wie alles Gottgeschaffene.
Noch gab Georg sich nicht Rechenschaft von seinen Empfindungen, er that auch nichts. sie zu nähren. Selten einmal sprach er mehr als ein paar Worte mit Wendula, aber noch genügten diese den Beiden, noch war ein rasch gewechselter freundlicher Blick, ein flüchtiger, aber warmer Gruß hinreichend, sie und ihn herzensfroh für den ganzen Tag zu stimmen. Sie waren auch nie allein, und unter dem Bann von Frau Wallner's beobachtenden Blicken war Wendula nicht das harmlose, unbefangene Kind, das so zutraulich dem ihr Herz geöffnet, der verständnißreich dasselbe zu finden gewußt hatte. Da war sie ernst und zurückweisend, da hatte sie den ernsten Zug um den Mund, der ihrer kindlichen Jugend Hohn sprach, hatte sie die düster zusammengezogenen Brauen, die ihre Schönheit verdunkelten. Der Sonnenstrahl, der Beides verscheuchte und der ihr nur aus dem Antlitz weniger Menschen entgegenleuchtete, klärte wohl auch das Gewölk auf, wenn Georg kam, aber nur für Momente, nur wenn sie ihn kommen sah, oder wenn sie ihm den geforderten Morgentrank gebracht und eine Secunde vor ihm stehen konnte, ohne daß Frau Wallner's Auge sich dazwischendrängte.
Es fiel Victor nicht auf, daß Georg es vorzog, jeden Morgen mit seinem Buch oder seiner Schreibmappe in den Wald zu eilen, statt ihn nach den Dünen zu begleiten, um dort in Gesellschaft mit Hannibal, der Kaffeemaschine und Papa Teckel, wie Victor Herrn Richter scherzend nannte, zu warten, bis die Damen aus dem Bade kamen. Ohne die Gegenwart der Miß Grandison hätte er selbst es wohl schwerlich gethan, denn weder Herrn Richter's noch seiner Frau schlichte, liebenswürdige Einfachheit, noch die curiose, täppische Unterhaltung der beiden Mädchen würden es ohne diesen Magnet vermocht haben, Victor so dauernd an ihre Gesellschaft zu fesseln.
Es giebt viele Leute, die man unendlich lieb hat, in deren Nähe man sich wohl fühlt und die man doch weder mit dem Bewußtsein aufsucht, daß sie zu unserm Wohlbehagen beitragen, noch es sich vor dem Scheiden klar macht, daß man sie vermissen könnte. Zu diesen gehörten Richters. Jeder Einzelne der Familie war vortrefflich, und die Liebe, mit der sie aneinander hingen, rührend und nachahmungswerth. Genial war Keiner, aber auch nicht geradezu nüchtern, denn wo Liebe der Quell ist, aus dem gemeinsam geschöpft wird, weht immer ein Hauch der Poesie, und die einfachste Familiengeschichte ist oft am meisten von ihr durchglüht. Eine solche einfache, tief zum Herzen sprechende Familiengeschichte lernte aber Jeder kennen, der mit Richters verkehrte.
Wer Sinn hatte für einfache Herzlichkeit, für eine durch nichts zu erschütternde Güte, wer sich genügen ließ an praktischen Weltanschauungen und einem Urtheil des Herzens, der vermißte in Flora's und ihres Mannes Gesellschaft nichts, ja wer eine stets sich gleichbleibende gute Laune zu schätzen wußte und eine Harmlosigkeit des Gemüths, die, wenn die eigene Person auch hundertmal Gelegenheit zum spottenden Lachen giebt, doch so unbefangen mitlacht, daß Spott zum gutmüthigsten Scherz wird, der konnte es begreifen, daß man Röschens und Lorchens Verstand nicht gar zu streng maß, daß man immer ihr Herz gutsagen ließ für den Kopf, daß man die einzelnen Körner im leeren Stroh bereitwillig für volle Aehren nahm.
Die kleine Familie war so recht geschaffen, um in ihrem Kreise auszuruhen, obgleich es ihr an Beweglichkeit nicht fehlte, ja, sie in physischer Beziehung darin fast zu viel leistete.
Röschen besonders hatte Talent zum Badeleben und machte als Schlaukopf der Familie, ein Titel, den ihr ihre erste Kinderfrau gegeben hatte und der traditionell geworden war, ihre Superiorität in sofern geltend, als sie unwillkürlich die Ihrigen in ihre Geschmacksrichtung hineinriß. Sie kannte weder Uebersättigung noch Ermüdung, und da sie es sich in den Kopf gesetzt, daß ihre Mutter der Erheiterung, Lorchen der Zerstreuung, ihr Vater und Hannibal der Bewegung bedurften, so schaffte sie einem jeden, was ihm noth that.
Mancher Gast der an der Table d'hôte speist, spornt seinen Appetit an, den gezahlten Preis so gut als möglich herauszubringen; man hätte ein gleiches Princip, nur in weniger gemeinem Sinne, bei der kleinen Familie voraussetzen können, wenn man sie an der offenen Tafel der Natur schwelgen sah.
Von des Morgens an bis zum späten Abend sah man sie draußen zu Fuß, zu Wagen, zu Kahn, und wenn es ihr nicht gerade in die Suppenschüssel regnete, wurde auch das Mittagsmahl draußen servirt. Dabei genirte Keiner den Andern, jedes Einzelnen Beschäftigung paßte zu denen der Uebrigen, wo Einer eine Lücke ließ, schlüpfte ein Anderer hinein und füllte sie aus. Der Faden der Unterhaltung riß nie ab. Man hätte oft glauben können, sie müßten sich jahrelang nicht gesehen haben, so viel hatten sie immer einander zu erzählen, und besonders Röschen ging der Stoff nie aus. Sie war neugierig wie eine Nachtigall, hörte und sah Alles und erzählte das Gehörte und Gesehene getreulich wieder, war aber durch das glückliche Talent, nur harmlose Dinge zu sehen und zu hören, vor den gefährlichsten Folgen dieser Begabung geschützt.
Mit vollem, warmem Herzen lebte Georg sich in den Kreis dieser Verwandten hinein, mehr vielleicht als Victor, obgleich er ihnen seine Zeit nicht so unausgesetzt widmete, als dieser es that, der in ihnen doch eigentlich nicht viel mehr sah, als eine silberne Fassung für ein Juwel, so strahlend, so hell glänzend, so vom echtesten Werth und unschätzbarer Schönheit, daß es in seinen Augen selbst einer Gesellschaft Samojeden, Lappen oder auch Affen einen Reiz verliehen haben würde.
Daß Miß Grandison kein Magnet für Georg, daß sie zwar von ihren Vorurtheilen zurückgekommen war, aber dennoch kein wärmeres Interesse für ihn fühlte und nichts that, ihn auch nur zu einer freundschaftlichen Annäherung zu ermuthigen, sah er mit unbeschreiblicher Freude, und fühlte sich dadurch von jeder Verpflichtung freigesprochen, auch fernerhin dem Herzen fern zu bleiben, von dessen Besitz das Glück seiner Zukunft abhing.
Er hatte nichts gethan es zu gewinnen, aber noch einmal sich von ihm gewaltsam rauh abwenden, da es sich ihm in so schöner Offenheit, in so unwillkürlicher Wärme zuneigte, es fortgeben, damit es einem Andern aufgezwungen würde, den Weg frei lassen, damit die Willkür Raum gewänne, dem Widerspruch Bahn brechen und Conflicte heraufbeschwören, und das Alles aus falschem Pflichtgefühl, aus verstandesloser, blinder Dankbarkeit, nein, das legte ihm sein Gewissen nicht auf.
Flora hatte sich frei gemacht, sollte er sie behandeln wie eine Geknechtete? Er that es nicht, und er achtete nur ihre Selbstständigkeit, indem er es nicht that und sich dem Einfluß hingab, den ihre bezaubernde Gegenwart auf ihn ausübte.
Zudem hatte das Schicksal ja mehr zur Beförderung der Pläne Frau Artefeld's gethan als diese selbst. Georg und Flora standen sich gegenüber, und ihn wenigstens hinderte nichts, in voller Unbefangenheit den Einfluß ihrer Nähe zu empfinden, sein Urtheil wurde durch keine vorgefaßte Meinung verblendet. Aber die Herzen, die für einander bestimmt waren, flogen nicht eins dem andern zu, die Hände, die sich für's Leben festhalten sollten, vereinigten sich nur zu kalter, oberflächlicher Begrüßung.
Er jubelte im Stillen über Flora's sich gleichbleibendes Betragen gegen Georg, das Freundlichkeit nicht ausschloß, aber sie nicht mit einem Schimmer von Wärme überhauchte, er begriff Georg nicht, der sich darum wenig zu kümmern schien, er war nicht wenig geneigt, ihn für ein Kind zu halten, das noch nicht wisse, wozu ihm der Himmel das Herz gegeben, oder die Macht der Opposition im menschlichen Geist für eine so vorherrschende zu halten, daß sie uns sogar gegen einen unbekannten Eingriff in unsern Willen unwillkürlich stähle. Er sah und hörte Georg mit den Cousinen plaudern und scherzen, mit der Miß dagegen selten ein Wort wechseln. Er verlor sich mit seiner Schwester in Rückerinnerungen an seine Kindheit, er vertiefte sich mit Herrn Richter in Lobpreisungen häuslichen Glückes, und keine ahnende Stimme flüsterte es ihm zu, daß sie, die sein häusliches Glück erbauen solle, ihm so nahe sei. Die trockensten Gespräche über kaufmännische Geschäfte, über die er von seinem Schwager manche Belehrung empfing, schienen ihm mehr zuzusagen als Miß Grandison's lebensprühende Unterhaltung. Es stieß ihn etwas von ihr zurück, er wußte selbst nicht was.
»Ich glaube, wenn sie meine Cousine wäre wie Lorchen und Röschen, würde ich sie lieb haben,« beantwortete er Victor's Vorwürfe über seine Gleichgültigkeit gegen die Anmuth des Mädchens, »denn es liegt in verwandtschaftlichen Verhältnissen etwas Bindendes, ein Gottesgebot gleichsam. Das Gefühl davon verwischt manche Ungleichartigkeit der Empfindung und stellt Zuneigung über Urtheil. Es vermittelt zugleich die Bekanntschaft. An Fremde trete ich wenigstens nicht leicht heran, wenn sie mir nicht einigermaßen die Hand reichen. Bei Miß Grandison habe ich aber immer das Gefühl, als würde sie eher mit dem Fuß nach mir stoßen, als mir auch nur den kleinen Finger geben.«
Victor lachte.
»So ist es also das und nicht Geschmacklosigkeit,« sagte er. »Wenn ich Dich mit voller Seele Theil nehmen sah, wenn Röschen ihr Potpourri von Conversation ausschüttet oder Lorchen den verborgensten Schrein ihres Herzens öffnet, in dem der Candidat einbalsamirt der Auferweckung harrt, dachte ich wirklich schon, Du wärst solch' prosaischer Spaziergänger im Garten des Lebens, daß Du lieber den Enten im Teich als dem Schwan auf dem Weiher nachzögst.«
»Keinem von beiden, mich muß ein Singvogel locken,« rief Georg mit unwillkürlichem Feuer.
Victor sah ihn erstaunt an, Georg bemerkte es, bekämpfte eine kleine Verlegenheit und sagte dann:
»Dein Vergleich hinkt übrigens. Abgesehen davon, daß Du meinen guten, ehrlichen Cousinen unrecht thust, ist auch Miß Ellen wahrlich kein Schwan, dessen Tod uns erst sein Lied bringt. Sie singt ja in den Tag hinein wie die Lerche.«
»Sie könnte also doch für Dich zum Lockvogel werden,« sagte Victor, »wenn sie – zum Beispiel – Deine Cousine wäre?«
»Ich wünschte, sie wäre es,« entgegnete Georg, »ich würde gern mit ihr bekannt werden und sie lieb haben.«
»Schade, daß sie nicht Cousine Flora ist, dann wäre ja Alles in Ordnung,« meinte Victor.
»Gottlob, daß sie es nicht ist, daß Meere mich von dieser trennen,« fuhr Georg heftig auf. »Ich weiß nicht, warum Du mir immer mit diesem Schreckgespenst drohst, noch ist ja nicht die Rede davon, daß man eine andere Empfindung von mir für Flora verlangt, als die kühle, ruhige, verwandtschaftliche Liebe, so unendlich weit von dem himmelstürmenden Gefühl verschieden, das unser ganzes Wesen durchglühen muß, wenn wir lieben, das aus Allem, selbst aus der Sehnsucht, aus Trennung und Tod ein Glück hervorzuzaubern im Stande ist. Von dem Gefühl rede ich nicht, wenn ich von verwandtschaftlichen Banden spreche. Mögen diese ein Gebot Gottes sein, in jenem empfangen wir eine Offenbarung. Wie der Ruf zur Auferstehung die Todten weckt, sie zur Seligkeit hinüberzuführen, so muß das Herz aus dem Schlaf der Kindheit erwachen, wenn die Liebe dem Schläfer ihr erstes Zauberwort in die ahnungsreiche Seele ruft.«
Mit weit offenen Augen hatte Viktor den begeisterten Worten des Freundes zugehört.
»Hast Du denn diese Offenbarung schon empfangen, oder schwärmst Du schon in der Vorausempfindung derselben?« fragte er. »Ich muß gestehen, ich wähnte Dich noch in dem Schlaf, den Du Kindheit nennst.«
»Im Schlaf hat man aber Träume,« bemerkte Georg.
»Nun, Gott behüt' Dich, wenn Träume schon ein so heißes Empfinden in Dir hervorrufen, wie wird's erst sein, wenn der Flammenstrahl des heiligen Feuers Dein Herz ergreift?«
»Wie anders als schön und herrlich!« entgegnete Georg.
»Die Flamme belebt Erstorbenes, wärmt das Herz, leuchtet dem Geist.«
»Und verzehrt, was sie nicht bändigen kann,« fiel Viktor ein.
»Deshalb geht ihr doch Keiner aus dem Wege, verschließt Keiner sein Herz der Sehnsucht nach ihr,« sagte Georg, nahm seinen Hut und ging fort.
Victor sah ihm kopfschüttelnd nach;
»Wenn ich nicht wüßte, daß es nicht sein kann,« sagte er, mehr laut denkend als mit Bewußtsein sprechend, »würde ich sagen: er ist verliebt. Aber in wen sollte er hier verliebt sein, wenn nicht in sie? Hier ist keine Andere, in die er sich verlieben könnte, und Flora? – – Nein, nein, sich ihr gegenüber so verstellen, das könnte er nicht, wozu auch? – Es ist nichts weiter,« fuhr er in seinen Gedanken fort, »es sind die ersten Träume im Kinderschlaf. Ich habe sie auch gehabt, aber ich gab so vielen hübschen, jungen Mädchen Unterricht, da nahmen sie gleich Gestalt an, und die Phantasie verlor sich nicht in müßige Träumereien. Ich begreife nur nicht, daß er in dieser Stimmung sein und Flora nicht lieben kann. Gottlob aber, daß, er's nicht thut!«
Plötzlich schien ihm ein beruhigender Gedanke zu kommen. Er nahm rasch seinen Hut und eilte Georg nach. Noch vor dem Eingange in den Wald holte er ihn ein.
»Höre Georg,« sagte er, »täuschest Du mich, hast Du Bekanntschaften auf eigene Hand gemacht, stattest Du des Morgens Besuche ab, während ich Dich in tiefer Waldeinsamkeit glaube, ist das Buch in der Tasche nur Sand für meine Augen, und statt zu lesen, vergeht Dir die Zeit in süßem Geplauder? In der Försterei soll ein hübsches Mädchen sein, es fällt mir ein, daß ich neulich davon hörte. Giebst Du Rendezvous?«
»Ich gebe weder Rendezvous, noch vergeht mir die Zeit, wie Du denkst,« entgegnete Georg mit erhöhter Farbe, die aber Victor für ein Zeichen erregten Unwillens nahm. »Ich gebe Dir mein Wort, ich liege stundenlang schweigend, lesend oder schreibend unter einem Baum, es leistet mir Niemand Gesellschaft, ich spreche oft kaum zwei Worte und kaum mehr als ein: guten Tag oder guten Weg, wenn man mir den Kaffee bringt oder ich fortgehe.«
»Ich hätte halb und halb Lust, Dich einmal zu überfallen,« bemerkte Victor.
»Wenn Du es thust, um mich zu überwachen, so reise ich augenblicklich ab,« sagte Georg ruhig. »Ich meine, Du hast nicht nöthig, Mißtrauen in mich zu setzen. Ich kümmere mich nicht um das Ziel Deiner Strandpromenaden, gönne mir meine Waldeinsamkeit.«
Es lag etwas Neckendes in dem Tone, mit dem Georg von seines Freundes Strandpromenaden sprach, Victor war aber befangen und eher geneigt, einen Vorwurf darin zu sehen. Es kam ihm eine neue Idee.
»Ziehst Du Dich von uns zurück,« fragte er sehr ernsthaft, »weil – weil Du glaubst, ich sei zu befreundet mit Miß Grandison, gefällt sie Dir doch und bist Du eifersüchtig, oder willst Du mir nicht in den Weg treten?«
Georg verneinte lachend.
»Wenn es wäre,« sagte Victor, »so kann ich nur sagen, sei kein großmüthiger Thor. Greife unbekümmert über mich hinweg nach dem Preise. Es gehört Dir mehr davon als Du denkst, und was Du erringen kannst, mache ich Dir nicht streitig. Im Ernst,« fuhr er eindringlicher fort, »nimm auf mich keine Rücksicht.«
»Nun gut, wenn wir darin übereinkommen, daß wir gegenseitig keine Rücksicht auf einander nehmen,« scherzte Georg, »so geh Du in die Dünen und laß mich in den Wald, Du gehst zu den Tannen und ich zu den Buchen, laß Dir vorplaudern, stimme fröhlich ein und überlaß mich meinem Schweigen, meinem Träumen. Hindern kannst Du's nicht, warum willst Du mir die unschuldige Freude stören? Ich bin kein Kind und lasse mich nicht bevormunden.«
»Du bist noch ein Kind, und darum will ich Dich gehen lassen, und Gott behüt' Dich,« rief Victor und wendete sich um, dem Strande zuzueilen.
Aber er war doch halb und halb beunruhigt. Er hatte nie eine exaltirte Stimmung an Georg bemerkt, nie einen Hang zu träumerischer Schwärmerei. Ganz grundlos konnte eine solche Veränderung seines Wesens nicht sein, und er wußte keinen Grund dafür als Liebe, denn selbst die Sehnsucht darnach erwacht nicht ohne einen sichtbaren Gegenstand.
Wo war der aber? Ihm fiel das hübsche Mädchen aus der Försterei wieder ein, er dachte auch auf's Neue an Flora und nahm sich vor, sowohl diese als Georg schärfer zu beobachten, auch in den nächsten Tagen, wenn der Eindruck des heutigen Gespräches mehr in Georg vermischt sei, selbst einmal in die Försterei zu gehen, sich die Schönheit anzusehen, von der er bisher hatte sprechen hören, ohne daß sie seine Neugier gereizt noch irgend einen argwöhnischen Gedanken in ihm erweckt hatte.
Seine Gedanken blieben auch mehr an Flora haften. »Ist er so gut geschult, daß er seiner Mutter gehorcht, ohne es nur zu wissen?« fragte er sich. »Und sie? Sie ist dem Bündniß entflohen, ja entflohen, als sie Georg noch nicht kannte. Ob sie es jetzt thun würde?«
Mit umwölkter Stirn und einer leisen Regung von Eifersucht im Herzen erreichte er die kleine Gesellschaft in den Dünen, aber Flora's helles Lächeln und warmer Gruß verscheuchten die Wolken und spotteten eines Gefühls, das ebenso seiner eigenen Gemüthsart als der offenen Seele des Mädchens widersprach, die klar und offen vor ihm lag wie der Himmel, an dessen Dasein man auch nicht zweifelt, wenn man auch einmal geneigt ist, mit trüben Augen hinaufzuschauen.