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Als habe Gott ihren Ruf gehört und sende ihr Trost und Hülfe, so war Wendula zu Muthe, als sie sich von Vater Reimer's Armen umschlossen und warm an sein Herz gedrückt fühlte. Sein zürnender Vorwurf schreckte sie nicht, sie wies ihn im Augenblick nicht einmal zurück, sie sagte nur:
»Ich bat Gott, mir zu helfen, und da schickte er Euch, nun helft mir, rathet mir, vor Allem bringt mich fort, denn fort muß ich, der morgende Tag darf mich hier nicht mehr finden.«
Er sah sie kopfschüttelnd an.
»Ist's deshalb, weil sie von Dir sagen, Du habest das Feuer in der Försterei angesteckt?« fragte er. »Ich bin ein paar Tage nicht daheim gewesen und habe jetzt eben erst von dem Spectakel gehört. Die abscheulichen Weiber, oder vielmehr die abscheuliche alte Hexe, denn die hat's doch wohl aufgebracht! Beruhige Dich aber, Kind, es glaubt es Niemand. Ich wollte heut noch nach der Försterei zu Dir gehen, da sah ich Dich aber vorhin auf dem Wege hierher. Ich rief Dich an, aber Du hörtest mich nicht, obgleich ich Dir so nah war, daß ich Dein blasses, verstörtes Gesicht deutlich sehen konnte. Da ahnte mir gleich nichts Gutes, aber das hätte ich doch nicht von Dir gedacht. Mir zitterten die Kniee, als ich Dich hier stehen sah, schon hinunter gebogen zum Wasser, eine Secunde noch – und die wahnsinnige That war geschehen. Macht denn der Tod die Verleumdung gut, giebt's kein anderes Mittel gegen Leid und Trübsal?«
»Ich wollte nicht in's Wasser springen, bei Gott nicht!« sagte Wendula feierlich, »es war nur ein Abschiednehmen. Ich bin sehr unglücklich, Vater Reimer, sehr unglücklich und verlassen, und ein erstickender Schmerz preßt mir die Brust zusammen. Mir ist, als wären sie Alle noch einmal gestorben, die ich lieb gehabt, und das eigene Herz mit. Welch armes Leben führt man aber ohne das Herz!«
»Du bist krank, Kind,« sagte Vater Reimer mitleidig, »komm mit, ich werde Dich auf die See hinausfahren. Das wird Dir wohlthun. Ich habe es lange nicht gethan, das hat Dir gefehlt. Komm zum Strande, unterwegs sagst Du mir, was sie Dir gethan haben.«
Wendula schüttelte den Kopf.
»Du brauchst es auch nicht zu sagen,« fuhr er fort, »ganz wie Du willst, aber komm mit!«
Sie folgte ihm. Auf dem nächsten Wege gingen sie zum Strande hinunter, er machte seinen Kahn los, hob sie hinein und stieß ab.
Die Nacht war mild und klar, die Luft nach dem heißen Tage von erquickender Frische, jeder Athemzug brachte Leben. Mond und Sterne schienen und spiegelten sich funkelnd im wellenlosen Meer, es war so recht eine Nacht für der Meerjungfrauen fabelhaftes Leben und überirdischen Gesang, es war eine Nacht, gleich schön zum Leben wie zum Sterben.
Der Kahn schwamm weit, weit hinaus, das Land entschwand den Blicken. Das Auge sieht nicht weit in der Nacht – irdische Grenzen verschwimmen dem Blick, am sichersten sieht es zu dem unbegrenzten Himmel auf, denn dort allein glänzt Licht durch die Dunkelheit.
Vater Reimer warf die Netze nicht aus. Er wollte ja nicht Gefangene machen, sondern vielmehr eine gefangene Seele befreien. Die arme gefangene Seele kämpfte auch tapfer gegen die Bande, aber sie ließen sich so leicht nicht lösen, wenn auch der Kampf kein verzweiflungsvoller war.
Dem armen Mädchen kam jetzt die körperliche Abspannung zu Hülfe, die nach der entsetzlichen Aufregung der vergangenen Tage nicht fehlen konnte. Sie war sterbensmüde und das Meer eine milde Wärterin, es schaukelte sanft den kleinen Kahn. Die Sterne flimmerten vor Wendula's Augen, die Nachtluft wehte ihr narkotische Düfte zu, sie sehnte sich zu schlafen, aber noch war die innere Aufregung zu groß, noch taumelten die Gedanken zu wild durcheinander.
Sie fing an, sich im Geist ein Gebet vorzusagen, das ihre Mutter unzählige Male mit ihr gebetet, aber sie kam nicht über den Anfang fort, die Mutter fehlte, den zerrissenen Zusammenhang zu ergänzen.
Da fing der alte Mann an, mit leiser Stimme ein frommes Lied zu singen. Wendula kannte es wohl. Sie hatte es oft von ihm singen hören, wenn sie ihn, als sie ein Kind war, auf seinen nächtlichen Meeresfahrten begleitete.
Die Erinnerung an eine glückliche Kindheit ist aber ein heller Stern im Leben, der nie untergeht, der das Tageslicht überstrahlt und in die tiefste Nacht hineinblickt mit unaussprechlich heller, lachender und rührender Schönheit. In ein Kinderherz schreibt das Leben seine Eindrücke mit unverlöschlichen Zügen.
Noch so lange übersehen, noch so oft durch die Gegenwart übertüncht, zu verlöschen sind sie nicht. Ein Lichtstrahl, der darauffällt, zeigt, daß sie leben, und wie auch der Contrast des Damals mit dem Jetzt die Seele zerreißen möchte, immer haftet ein Reiz an der Erinnerung, der die Disharmonie auflöst und stille Wehmuth an die Stelle wilden Schmerzes setzt.
Wendula zerfloß in Thränen, als die zitternde, leise Stimme des alten Mannes, so rührend in ihrer Schwäche, durch die stille Nacht klang und wohlbekannte, nur lange nicht gehörte Worte in ihr Ohr drangen, an ihr Herz schlugen.
Herr Gott, Herr Gott, hoch über'm Meer,
Der Du befiehlst dem Sternenheer,
Der Du beschützest Meer und Land,
Den Sturm bezwingst mit starker Hand,
Und dem kein Menschenherz zu klein
Für Deines Blickes Sonnenschein,
Wer Dich nur suchet allezeit,
Wird finden Dich in Freud' und Leid,
Du schließest müde Augen zu,
Wiegst Herzensstürme ein in Ruh',
Für Deine Macht ist nichts zu schwer,
Herr Gott, Herr Gott, hoch über'm Meer!
Der letzte Schatten von Groll in des Mädchens Herzen schmolz dahin mit den verhallenden Tönen, nur der Schmerz blieb zurück, ein stiller, wortloser Schmerz.
Sie hatte ihn ja nicht verloren, den Tröster, den Helfer in jeder Noth, den Vater der Waisen, die Wonne glücklicher, die Zuflucht brechender Herzen. Sie wußte ja, alle die Millionen leuchtender Sterne gehörten ihm, jeder Wassertropfen im Meer fand Gnade vor seinen Augen, spiegelte einen kleinen Theil seiner Schöpfung wieder, und auch sie war sein Geschöpf, war, wenn auch vater- und mutterlos, von der Welt verleumdet und von der Liebe verrathen, doch auch sein Kind und von ihm nicht verlassen.
Wendula weinte eine Weile still fort. O solche Thränen, im Verborgenen geweint, nur von Freundes oder von Gottes Auge gesehen, welch ein Segen, welch eine Wohlthat sind sie für das beladene Herz, welch ein Schatz für die Seele, ein Schatz, der gewahrt und gehütet werden muß, soll er seine machtvolle Zauberkraft behalten und wirklich ein Quell des Trostes bleiben, anstatt zum Symbol unwürdiger Schwäche herabzusinken!
Sie hatte nicht weinen wollen, aber sie fand mehr Kraft in ihren Thränen als in dem Trotz, der sie zurückdrängt. Sie weinte eine Weile still fort, dann rückte sie näher zu dem alten Manne hin, legte ihre Hand in die seine und erzählte ihm Alles bis auf das Eine, bis auf ihre Vermuthung, daß ihr junges Herz den Todesstreich von der Hand ihrer nächsten Verwandten erhalten, von derselben Hand, die ihren Vater von der Schwelle der Heimath gestoßen. Das war das Geheimniß ihres Vaters, ihr kam es nicht zu, es aus seinem Grabe heraufzubeschwören, sie hätte es nicht gethan, auch wenn sie gewußt, daß diese Mittheilung ihr die Arme der strengen Frau öffnete, die sie jetzt so unbarmherzig dem tiefsten Weh übergeben hatte.
Sie nannte auch den Namen derselben nicht, sie sprach nur von Georg und seiner Mutter. Ihr Vater hatte den Namen verschmäht, über seine Lippen war er nie gekommen, sie konnte die ihren eben so wenig zwingen ihn auszusprechen.
»Ihr seht wohl, Vater Reimer,« endete sie ihre rührende Geschichte, »daß ich nach Häringsdorf nicht zurückkehren darf, daß ich fort muß. Helft mir, rathet mir, was ich thun soll. Ich bin nicht mehr zornig auf Georg, ich glaube doch, daß er mich lieb hat, wenn er es auch vermochte, mein Schicksal so rauhen Händen zu übergeben, wie die seiner Mutter sind. Mag sie verantworten was sie thut, ihre Stunde wird kommen, sie wird! Dann schütze sie Gott vor dem Leid, das sie auf unschuldige Herzen herabbeschworen.«
»Kind,« sagte der alte Mann sehr ernst, »vergiß nicht Eins, vergiß nicht, daß die Menschen irren können und oft das Rechte zu thun glauben, wenn sie das Schlechte wählen. Es trifft vielleicht Vieles zusammen, was die harte Handlung der Frau entschuldigt.«
»Gut, wenn ich das weiß, will ich es ihr vergeben,« sagte Wendula finster.
»Nein, Du mußt es ihr so vergeben, Du mußt es auch um Deinetwillen, eher wirst Du nicht ruhig sein,« behauptete der alte Mann. »Sieh doch um Dich, wovon spricht denn die stille Nacht, die stille See und der strahlende Himmel?«
»Von irdischem Frieden und himmlischem Segen,« sagte Wendula tief ergriffen und brach auf's Neue in Thränen aus.
Als sie sich beruhigt, sagte ihr Vater Reimer, was er sich für sie ausgesonnen. »Ich bringe Dich zu meiner alten Schwester in Putbus, die dort bei ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn lebt. Du weißt ja, ich habe Dir schon von den Leuten erzählt. Es sind liebe Menschen, sie nehmen Dich gern auf. Dann wollen wir weiter sehen. Wenn wir nur recht tief in Noth sind, dann ist meist eine Hülfe nah, das vergiß nicht in Deiner Herzensnoth.«
»Ich habe ja schon Hülfe gefunden,« sagte sie, dankbar ihm die Hand hinreichend.
Im Augenblick war ihr ein noch wohlthätigerer Freund nah, der Schlaf, der mit aller Gewalt sein Recht auf ihre Jugend, ihre Erschöpfung geltend machte. Fast willenlos gab sie ihm nach und ließ das schwere Haupt auf die Schulter Vater Reimer's sinken. Er hob sie von der Bank auf, legte sie auf den Boden des Kahnes, bedeckte sie mit einem Stück Segeltuch, und bald sank sie in den tiefen, festen Schlaf, der allen Kummer vergessen macht und dem gequältesten Herzen die Ruhe und den Frieden wenigstens für Stunden zurückgiebt.
Wie ein treuer Wächter saß der Alte an ihrer Seite. Ihm gingen gar viele Gedanken im Kopf herum, helle Gedanken, wie der sie wohl haben kann, hinter dem ein langes, wechselvolles, dunkles Leben liegt, dessen Anfang und Ende ein Erwachen zum Licht ist, aber der hellste Gedanke war der von einem innigen Blick auf Wendula begleitete: »Gott wird ihr helfen, und in meine Hand hat seine Gnade die Hülfe gelegt.« Er rief sich eine längst vergangene Stunde zurück, ein Todter stand auf vor seinem Geist und wiederholte die Worte, die damals wie ein treu zu bewahrender Schatz in seine Seele niedergelegt worden waren. Es waren wenige Worte. Sie ergänzte die Geschichte, die Robert Arnold oder Richard Artefeld, wie wir ihn jetzt, nun die Versöhnung nahe ist, wieder nennen wollen, ihm einst an der Todtenbahre seiner Frau erzählte.
Er nannte ihm den Namen seiner Mutter, er sagte:
»Ich habe mich freilich von Allem losgesagt, worauf ich ein gutes Recht in der Welt hatte, die Liebe meiner Mutter besaß ich nicht, ihren Reichthum wollte ich nicht, ihren Segen konnte und wollte sie mir nicht geben. Wen aber die Mutter nicht segnet, für den ist's so gut, als trüge er ihren Fluch mit sich herum. Gut, ich habe ihn getragen und will ihn mit hinübernehmen, da mag Gott mich davon befreien. Ich bin dann von allen irdischen Ansprüchen und Rechten losgelöst, aber ich weiß nicht, ob ich ein Recht habe, mein einziges Kind, das keinen andern Beschützer hat als mich, so getrennt von allen verwandtschaftlichen Banden, so gleichsam vogelfrei in der Welt zurückzulassen, ob es nicht eine Beschränkung ihrer Freiheit ist, in dieser Weise für sie zu entscheiden. Sie soll es selbst thun, so wie sie reif ist. Ich will sie nicht der reichen Großmutter auf Gnade und Ungnade übergeben, möchte nicht ihre Freiheit für Geld verkaufen. Sie soll erst sehen, wie sie durchkommt. Auf ihrem Haupt ruht der Segen beider Eltern, der wird ihr helfen. Darum noch einmal, sagt es ihr nicht zu früh, wer sie ist und wo sie eine Zuflucht beanspruchen kann. Laßt sie erst das Leben kennen lernen. Laßt sie erst mündig werden, ehe Ihr es ihr sagt, es müßte denn ihr Glück, ihre Existenz auf dem Spiel stehen. Wenn das ist, wenn es so dringend noth thut, so sagt es ihr früher. Wofür sie sich auch entscheidet, mein Segen folgt ihr.«
Vergebens hatte Vater Reimer damals versucht, den Förster zu bewegen, für sich Versöhnung nachzusuchen, selbst sein Kind dem Herzen seiner Mutter anzuempfehlen; weder das Schicksal, noch eigene Erkenntniß hatten es vermocht, diese harte Seite in Richard's Kopf oder Herzen zu durchbrechen, wie hätte das bittende Wort des alten Mannes da etwas vermögen sollen.
»Was todtgeschlagen ist, bleibt todt,« war die einzige Antwort, die er erhielt, »da, wo mein Herz der Mutter gehörte, hat sie es todtgeschlagen, und lebte ich noch tausend Jahre, es bliebe da todt. Es ist ein nicht zu überwindendes Leid, es wirft einen Schatten über das ganze Leben, aber es ist nicht zu ändern.«
So nahm denn Richard den Groll mit in's Grab, und Vater Reimer blieb im Besitz des Geheimnisses zurück. War denn die Zeit der Noth jetzt da? Tausend Stimmen in ihm bejahten die Frage.
Wendula's Armuth, ihre abhängigen Verhältnisse standen ihrem Glück im Wege. Es kostete ihren Verwandten nur ein Wort, ihr einen Namen, es bedurfte nur einer Regung der Güte, ja der Gerechtigkeit, dem an dem Unrecht, dem Trotz des Vaters unschuldigen Mädchen auch einen Antheil an dem Reichthum des Hauses zu gewähren. Damit mußten aber alle Hindernisse schwinden, die ihrer Verbindung mit ihrem Geliebten im Wege standen. Ja, jetzt war der Augenblick, wo sie das Geheimniß ihrer Abkunft erfahren mußte.
Vater Reimer erwartete fast ungeduldig des Mädchens Erwachen. Sie schlief so sanft. Sie merkte es nicht, wie die Sterne allmählich erblaßten, wie die Sonne aus dem Meere emporstieg, Himmel und Wellen weithin in den königlichen Purpur des jungen Tages hüllend. Ein leiser Wind wehte erfrischend, er kühlte Stirn und Wangen der Schlafenden, er küßte ihr Mund und Augenlider, bis sie erwachte.
Sie fühlte sich wunderbar durch den Schlaf gestärkt, noch mehr durch den Anblick der hohen See, den Strahlenglanz des über ihrem Haupt dahinziehenden neuen Morgens. Sie war ernst und traurig, aber die Verzweiflung hatte sie hinter sich gelassen. Sie fühlte die Schwungkraft der Jugend wieder, sie hoffte wieder, nicht auf Liebe, nicht auf Glück, vielleicht auf nichts Irdisches, aber auf den Himmel, der sich in so herrlicher Klarheit über ihr wölbte, zu dem sie in Zuversicht den Blick emporhob.
Die Stimmung blieb in ihr, selbst als Vater Reimer ihr die verhängnißvolle Geschichte, die ja nur zum Theil noch für sie Geheimniß war, erzählt hatte. Sie regte natürlich keine Hoffnung in ihr an, aber sie warf auch keinen neuen Zorn und Groll in die befreite Seele.
Mit gespanntem Interesse und Thränen der Wehmuth in den Augen lauschte sie der Erzählung, die ihr ein Bild von dem Jugendleben des theuren Vaters entwarf, sie empfing sie als ein theures Vermächtniß, und in das Gefühl kindlicher Liebe, mit dem sie aus dem vor ihr ausgebreiteten Bilde weilte, mischte sich kein Gedanke, der, ein Urtheil fordernd, an sie herantrat.
Als Vater Reimer geendet, sagte sie:
»Ich habe Manches von dem, was Ihr mir da erzählt habt, geahnt, Manches gewußt. Die harte Mutter, die meinen Vater verstoßen, ist ja dieselbe, die auch mir jetzt feindlich entgegensteht. Sie weiß es nicht, daß sie zum zweiten Mal ein von der Natur geknüpftes Band zerriß, als sie mich erbarmungslos von Georg trennte, sie wußte es nicht und soll es auch nicht erfahren. Zwischen ihr und mir kann keine Gemeinschaft bestehen. Ich danke meinem Vater für sein Vertrauen, mir ist, als hätte ich eine schöne, schmerzlich selige Stunde an seiner Seite verlebt. Ich danke es ihm, daß er mir Freiheit der Entscheidung läßt, daß er mich nicht von dem Wege verweist, den er gewandelt ist.«
»Den des Zornes, des unversöhnlichen und unversöhnten Zornes?« unterbrach sie Vater Reimer.
»Er zürnt nicht mehr, aber das Grab liegt zwischen ihm und seiner Mutter, und ihre Vereinigung kann erst im Himmel stattfinden. So mag's auch mit ihr und mir sein, an der sie das an meinem Vater begangene Unrecht fortsetzt. Ich will nichts von ihr, und triebe sie auch eine späte Reue, an mir gerecht werden zu wollen. Was sie mir nahm, kann sie mir doch nicht wiedergeben; immer würde sie trennend zwischen meinem und Georg's Herzen stehen.«
»Nicht doch, Kind, er liebt Dich,« strebte Vater Reimer sie zu beruhigen.
»Georg's Liebe hat nicht die erste Prüfung ausgehalten,« sagte sie schmerzlich; »aber schweigen wir davon, ich bitte Euch, wenn Euch an meiner Ruhe gelegen ist, kein Wort mehr darüber.«
Vater Reimer schwieg, aber er faßte im Stillen seinen Entschluß. Er verstand das Mädchen nicht, ja, er sah halb mit Erstaunen, halb mit Freude, wie schnell sie scheinbar des Kummers Herr wurde, der noch vor Kurzem mit lähmender Gewalt auf ihr gelegen, wie sie im Stande war, ihre Aufmerksamkeit den äußeren Gegenständen wieder zuzuwenden.
Sie hatte noch nie eine so weite Fahrt auf der See gemacht, Alles war ihr neu und interessant, ihre erregte Phantasie frischte fast ebenso die gebrochenen Lebensgeister an, als mädchenhafter Stolz sie trieb, die klaffende Herzenswunde, für die sie keine Heilung wollte, für die es keine gab, dem Mitleid und Bedauern zu entziehen. Mit einer Art von Exaltation, die ihren Beschützer, fast sie selbst über ihre eigentliche Empfindung täuschte, gab sie sich dem Eindruck des Augenblickes hin. Es war bei allem Weh dennoch beinah ein wonniges Gefühl, so von den Menschen geschieden, so einsam auf dem stillen Wasser dahinzuschwimmen. Sie sehnte sich nicht nach dem Ufer zurück, sie meinte, es könne für sie nichts Schöneres mehr geben, als immerfort so weiter zu ziehen, von dem Leben und der Welt nichts zu sehen, als mitunter ein kurzes Traumbild von beiden, das irgend ein vorübersegelndes Schiff ihrem nachschauenden Blick für eine Secunde offenbarte.
Auch auf dem stillen Wasser regte sich das Leben des Tages, aber es trat nicht an sie heran, es zog nur an ihr vorüber. Fischerkähne, Dampfer und stolze Segelschiffe, die wie Schwäne mit ausgebreiteten Flügeln dahin durch die Wellen strichen. Wo kamen sie her, wo gingen sie hin, welche geschäftige Welt drängte sich dort auf dem engen Raum zustimmen, welche Hoffnungen, Erwartungen, Wünsche und Pläne schwellten die Herzen der Fahrenden, wie der Wind die Segel? Tausendfältig mochten die Gefühle sein, nach allen Richtungen hin die Gedanken schweifen, aber der Sturm, der die Segel zerreißt und die Masten zerbricht, der ihnen Allen, die das unsichere Meer befahren, das kalte, stille, schöne Grab unten bei den Wundern der Tiefe zeigt, der giebt all' den Gedanken, Gefühlen und Richtungen doch nur ein Ziel. Auf die Kniee wirft er sie Alle hin, die noch vor Kurzem nach so Vielem und so Verschiedenem gestrebt, auf die Kniee vor dem Vater, dessen Eigenthum sie Alle sind. Und da streicht schon die Möve mit ihrem silbernen Fittig über die Wellen, die Möve, die den Sturm vorhersagt. Wo hat sie ihr Nest? Und ist in dem kleinen Nest nicht wieder dieselbe wechselvolle, widerstrebende und doch zu einem Ziel erschaffene Welt zu finden, die in Millionen engen und weiten Kreisen sich um den Mittelpunkt des Alls, um den Vater alles Erschaffenen dreht, von ihm im Auge behalten, von seiner Hand gehütet, von seinem Willen gelenkt?
Der Sonnenstrahl, in dem die Mücken tanzen, beleuchtet unsaglich viel Menschenglück und Weh, und im Sturm, der Schicksale zertrümmert, jauchzt das Meer in ungebändigter, wilder Lust. So ist überall Contrast, Wechsel, Disharmonie und Einklang, und doch ein Grundgedanke in Allem, ein zusammenhaltendes Band, das sich um Alle schlingt und jedes Geschöpf festhält im Namen des Herrn.
Der Erkenntniß kann man spotten, die Wahrheit verleugnen, ihr trotzen, die Augen schließen vor dem Licht, an der Weltordnung selbst ändert man nichts. Sie geht ihren Gang und der Einzelne mit, und nur in welchem Sinn er's thut, bestimmt den Grad seiner Freiheit.
Wendula und Frau Artefeld gehörten zusammen, wie Richard und seine Mutter zusammengehört hatten, und daß sich diese getrennt, Herz und Geist von einander losgerissen, daß sie ihre Freiheit mißbraucht hatten gegen göttliche Ordnung und göttliches Recht, das war die Quelle all' ihres Wehs, und aus dem tief getrübten Born schöpfte das Schicksal die bitteren Tropfen, den Lebenstrank Beider zu vergiften.
Auch Wendula griff nach dem Kelch, auch sie strebte mit ihrer ohnmächtigen menschlichen Freiheit gegen göttliche Macht.
Es war nicht in Gottes Namen, daß sie das finstere Vermächtniß ihres Vaters antrat, denn Gott ist die Liebe und »Liebet Euch untereinander« eins seiner vornehmsten Gebote.
Wendula seufzte, als Vater Reimer eins der Dampfschiffe anrief, um seinen Kahn in's Schlepptau nehmen zu lassen, aber sie ergab sich, als er sagte:
»Wir kommen um so schneller zum Ziel.«
Zum Ziel! Was war denn ihr Ziel? – Auf dem Dampfschiff setzte sie sich möglichst nah an das Rad und sah unverwandt in das schäumende, brausende Wasser hinein.
Wie es arbeitete, aufspritzte, zurücksank! Wie sein Strahl in Millionen Tropfen zerstäubt wurde und doch wieder zum Ganzen zurückkehrte und wieder ruhig dahinfluthete, war das Rad, das es gepeitscht und zermalmt, vorüber, ja wie ein heller Streifen Licht den Weg bezeichnete, den das Schiff gezogen!
Wendula sah das Brausen und Schäumen. Sie fragte sich, wozu dies Ringen, Kämpfen, dies sich Zerarbeiten der schönen, klaren, reinen Fluth? Wozu denn nicht stillhalten, wo Widerstand doch nur die eigene Ohnmacht enthüllt und aus dem vergeblichen Kampf ein Schauspiel für Andere macht! Mag es doch kämpfen tief unten, toben und sich widersetzen, der Kampf, der nicht ausgefochten werden kann – bis zum triumphirenden Siegesjauchzen über feindliche Mächte, der muß wenigstens in lautlosem Dulden einen Sieg erfechten über den Schmerz der Niederlage. Noch einmal, was, zerarbeitet sie sich denn so, die Fluth, sie kann ja doch nichts ausrichten, das Rad ist stärker als sie, es geht den Wellen durch's Herz und zerbricht ihre Kraft zu Millionen Thränen. Sie muß es doch dulden, daß über sie hinweg das Schiff seinem Ziel zusteuert. Gott schuf aber das Wasser, und die Menschen bauten das Schiff, das sich die Herrschaft über dasselbe anmaßt. Wie weit reicht denn Menschenwille, was darf er denn Alles zermalmen und vernichten mit seiner Willkür, seinem Uebermuth, seiner Selbstsucht, seinem jämmerlichen Ehrgeiz?
Es war natürlich, daß Wendula noch immer wieder zu finsteren Gedanken zurückkehrte, daß die in ihrem Herzen wogende Fluth schmerzlicher Empfindungen nicht so schnell zur ruhigen Klarheit wurde, daß ihr Geist noch nach dem Lichte rang, das doch auf den Wellen, in die sie träumend hineinschaute, siegend da zurückblieb, wo das Rad des Dampfschiffes die tiefe Furche gerissen.
Als Wendula den Fuß an's Land setzte, war ihr zu Muthe, als läge nun das Weltmeer, oder vielmehr die ganze Welt, Himmel und Erde zwischen ihr und Georg.
Vater Reimer brachte sie gleich zu seinen Verwandten, von denen sie mit der einfachsten Herzlichkeit aufgenommen wurde.
»Habt sie lieb und gebt ihr zu thun,« sagte der alte Mann zu diesen, »damit werdet Ihr Euch einen Gotteslohn verdienen.«
Er selbst blieb nur einen Tag dort, trotz der Bitten seiner Schwester und deren Kinder, trotz Wendula's traurig auf ihn geheftetem Blick, die in ihm ihren letzten Freund auf Erden scheiden sah. Er wollte sie jetzt nicht trösten, er wollte für sie handeln und zwar so rasch als möglich, darum eilte er nach Häringsdorf zurück. Dort angekommen, nahm er sich nicht einmal die Zeit, zu Friedrich zu gehen, er sendete ihm nur einen Boten, ihm sagen zu lassen, daß Wendula am Leben sei, dann schickte er sich an, Frau Artefeld auszusuchen.