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Als am nächsten Morgen Georg in die Försterei kam, brachte ihm Wendula mit klopfendem Herzen das verlangte Glas Milch.
Frau Wallner stand in der Thür des Hauses, den Blick forschend auf Wendula gerichtet. Es war etwas in dem Gesicht der alten Frau, was Georg auffiel. Eine Mischung von feindlicher Neugier, lauernder Schadenfreude, Empfindungen, denen der taubengleiche, sanfte Blick seltsam widersprach. Ohne Wendula anzusehen, sagte Georg halblaut zu ihr:
»Von zehn Uhr Abends an bin ich da, wo wir uns gestern trafen. Kannst Du kommen? Sei aber vorsichtig, Frau Wallner beobachtet uns.«
Sie nickte nur und ging schweigend in's Haus zurück.
»Was hat er mit Dir gesprochen?« fragte Frau Wallner.
»Ach nichts,« entgegnete sie gleichgültig, »er sagte nur etwas über den Wald, der schön sei, was weiß ich, ich habe nicht weiter darauf gehört«.
»Wenn er Dir gesagt hätte, daß Du schön seist, wäre es Dir wohl lieber gewesen, he?« höhnte die Alte und ging mit spöttischem Auflachen in die Stube. Dort unterbrach sie eine Unterhaltung zwischen Mann und Frau, die stürmisch zu werden drohte. Leider wirkte ihre Dazwischenkunft nie vermittelnd und versöhnend, sie goß also auch diesmal nur Oel in's Feuer.
Friedrich hatte seiner Frau soeben mitgetheilt, daß sich ihm eine Aussicht auf eine viel bessere Försterstelle eröffnet, daß er schon lange Hoffnung darauf gehabt, es aber nicht eher habe sagen wollen, als bis jeder Zweifel an der Erfüllung seiner Wünsche geschwunden sein würde. Bis zu diesem Punkt seiner Erzählung gekommen, war er von Rosetten unterbrochen worden.
»Es ist ja recht freundlich von Dir, daß Du es mir jetzt wenigstens sagst,« bemerkte sie empfindlich, »es ist wirklich viel, daß Du Dich dazu entschließest; einmal freilich muß ich es erfahren, aber wenigstens so spät als möglich. Ich hätte mich doch nun schon wochenlang auf die Erlösung aus diesen elenden, beschränkten Verhältnissen freuen können, aber das mißgönnst Du mir. Alles Unangenehme muß ich mit Dir theilen, aber Deine Freude behältst Du für Dich.«
»Die Sache war ungewiß, sollte ich Dir eine vergebliche Freude machen? Gewiß, ich wollte Dich nur vor einer Täuschung bewahren,« entgegnete Friedrich sanft.
»Ja, das kenne ich schon, Gründe hast Du immer für Alles, was Du thust,« wandte Rosette ein, »verlange nur nicht, daß ich immer daran glaube. Es ist nur Deine Trägheit, die Dich schweigen ließ. Du scheust es, den Mund aufzumachen.«
»Das ist wahr,« sagte Friedrich, »aber nicht aus Trägheit, sondern aus Furcht vor Streit.«
»Ja, warum mußt Du denn immer streiten?« fuhr Rosette fort. »Wenn Du nichts Anderes kannst, da ist freilich das Schweigen besser, obgleich ich manchmal denke, Du wirst einmal gerade solch' langweiliger alter Mann werden, wie mein Vater war, der gute, liebe, alte Vater, Gott verzeih mir's, er war wenigstens die Fügsamkeit und Güte selbst.«
In dem Augenblick trat Frau Wallner ein.
»Höre nur die schönen Neuigkeiten, Mutter,« rief Rosette ihr entgegen. »Friedrich überrascht uns mit der Nachricht einer bessern Anstellung. Die Vorfreude hat er uns nicht gegönnt, und dafür zanke ich ihn eben aus. Nun, mache nur nicht solch' trübes Gesicht, Friedrich, es ist ja schon gut, man muß Dich einmal nehmen wie Du bist. Nun krame nur Deine Neuigkeiten aus.«
»Ich habe nicht nur mein, sondern auch das Geheimniß Deiner Freundin bewahren müssen, liebe Rosette,« begann Friedrich, »denn sie ist es, der wir diese glückliche Gestaltung unserer Zukunft zu danken haben.«
Nun erzählte er, wie Dorn vor einiger Zeit an ihn geschrieben und ihm den Vorschlag gemacht habe, die Oberaufsicht und Verwaltung der zu seinen Gütern gehörigen weitläufigen Forsten zu übernehmen. Damals war der Proceß noch nicht entschieden gewesen, und wenn auch der für Dorn günstige Ausgang demselben so wenig zweifelhaft war, daß er sich nicht scheute, darauf hin schon seine Anordnungen zu treffen, so schien es ihm doch gerathen, diese bis zur wirklichen Entscheidung geheim zu halten. Jetzt hatte er aber neuerdings an Friedrich geschrieben, ihm die für ihn günstig ausgefallene Entscheidung mitgetheilt und ihn ersucht, ihn auf einer Reise nach Polen zu begleiten, um sich das künftige Feld seiner Wirksamkeit anzusehen, ehe er seinen Entschluß faßte.
Er verhieß ihm keineswegs ein Utopien, sondern bemühte sich gerade, ihm auch die Schattenseite seiner neuen Bestimmung in vollem Lichte zu zeigen, die in dem verwilderten Zustande der lange vernachlässigten Reviere, in dem Widerwillen der Bevölkerung gegen deutsche Herrschaft und der tiefen Einsamkeit seines künftigen Wohnortes bestand.
»Ich kann Ihnen für's Erste nicht viel andern Umgang versprechen, als meine Frau und mich,« so schloß der Brief. »Ihr künftiges Haus liegt, wenn auch mitten im Walde, doch nicht so weit von dem einsamen Schlößchen entfernt, in dem wir unsere Residenz aufzuschlagen gedenken, daß wir nicht gute Nachbarschaft halten könnten und Adele nicht die beste Gelegenheit hätte, ihren früheren freundschaftlichen Verkehr mit Ihrer Frau auf's Neue anzuknüpfen.«
Dann folgten einige scherzhafte Anspielungen auf die Wildniß, in die sie gemeinschaftlich Cultur hineinbringen wollten, einige Bemerkungen über die Ergiebigkeit des dortigen Wildstandes und die Freuden der Jagd &c.
Rosette hörte sprachlos der Vorlesung des Briefes zu, Frau Wallner sah ihren Schwiegersohn an, als sei sie in voller Bereitschaft, ihm die Krallen zu zeigen, aber er, zu sehr von seinen Zukunftsideen eingenommen, um auf die drohenden Vorzeichen des Sturmes zu achten, fuhr ruhig in seinem Bericht fort.
Er theilte ihnen mit, daß er sich von seinem jetzigen Herrn bereits Urlaub verschafft habe und noch am heutigen Vormittag nach Stettin fahren würde, um von dort in Gemeinschaft mit Herrn Dorn die Weiterreise anzutreten, er nannte ihnen den Betrag seiner künftigen Einnahme, die seine jetzige um das Dreifache überstieg, er malte das Zusammenleben Rosettens mit ihrer Freundin, seinen Verkehr mit Dorn, den daraus für sie erwachsenden Genuß in lebhaften Farben aus. Er sprach seine Freude über die Verbesserung seiner Lage aus und deutete in warmherzigen und zarten Worten an, daß mit dem Verschwinden so mancher kleinlichen Sorge des häuslichen Lebens vielleicht auch die Mißhelligkeiten zu vermeiden sein würden, die so oft ihren Frieden gestört hätten. Er sprach mit Thränen in den Augen davon, daß er nun seinen Kindern eine bessere Erziehung geben könne, daß Wendula nicht mehr nöthig haben würde, sich so vielfachen anstrengenden Dienstleistungen zu unterziehen, daß die Sorge um das tägliche Brod sie Alle nicht mehr wie eine Last drücken würde, die ihnen das freie Aufathmen erschwere, wie sie nun froh und glücklich mit einander sein und in sorgloser Freude ihr Leben genießen wollten.
»Ich glaube wirklich, jetzt sind Sie verrückt geworden,« unterbrach Frau Wallner den Erguß seiner Freude.
»In die polnischen Wälder gehe ich nicht,« schluchzte Rosette, »was helfen mir die paar hundert Thaler mehr, was helfen mir alle Schätze der Welt, wenn ich in einer Wildniß wohne, wenn ich mich in einem Lande aufhalten soll, wo nie Ruhe und Frieden herrscht, wo alle Augenblicke Revolutionen ausbrechen und die Deutschen in steter Gefahr sind, todtgeschlagen zu werden –«
»Wo man sich von den Wölfen und Bären verschlingen lassen muß,« fiel Frau Wallner ein. »Nein, wir gehen alle Beide nicht nach Polen, wir nicht und auch die Kinder nicht, wir betteln lieber!«
»Meine Frau wird mit mir gehen,« erklärte Friedrich aufgebracht durch den unsinnigen Widerstand, »was Sie betrifft, so kann ich Sie nicht hindern hier zu bleiben, ja, ich hatte sogar schon daran gedacht,« fuhr er, sich bezwingend und in sanfterem Tone fort, »daß Sie in Ihrem Alter vielleicht die Beschwerlichkeiten des Umzuges, den Wechsel des Klimas scheuen könnten und daß wir in dem Fall ja jetzt in der glücklichen Lage sind, für Sie sorgen zu können, gleichviel wo Sie Ihr Alter hinzubringen gedenken.«
»Ei, wie gut Sie sind, wie fein Sie mir zu verstehen geben, daß Sie mich nicht mehr brauchen,« höhnte Frau Wallner. »Setzt mir den Stuhl vor die Thür, als wäre ich die erste beste Magd und nicht die, der er sein ganzes Glück zu danken hat. Wozu sollen wir denn auf einmal fortziehen? Seien Sie doch zufrieden mit dem, was Sie haben! Bleibe in der Heimath und nähre Dich redlich, heißt es.«
»Nein, da hört doch Alles auf!« sagte Friedrich. »Wer hat mir denn von früh bis spät in den Ohren gelegen, daß ich mich um eine bessere Stelle bemühen soll?«
»Das ist aber keine bessere, das ist eine schlechtere, viel schlechtere Stelle!« schluchzte Rosette.
»Ich bitte Dich, sei vernünftig!« bat Friedrich.
»Ich will nicht vernünftig sein, wenigstens nicht das, was Du so nennst,« schmollte diese.
»Beruhige Dich, mein Kind,« strebte Frau Wallner die Weinende zu trösten. »Es giebt noch Gerechtigkeit im Himmels und auf Erden. Es kann Dich Keiner zwingen, Dich von Deinem Manne den Wölfen vorwerfen zu lassen. Er mag die Achseln zucken so viel er will, Jemand zwingen, in die polnischen Wälder zu ziehen, ist so gut als ihn den Wölfen vorwerfen. Das habe ich als Kind schon gewußt, daß sie dort in Schaaren herumlaufen, daß man sie kaum von den Hunden unterscheiden kann. Und ist es damals so gewesen, wird es heut nicht anders sein.«
»Weiß Gott, mich hat nur der Wunsch geleitet, Rosetten, Ihnen, den Kindern, Wendula bessere Tage zu schaffen,« sagte Friedrich.
»Nun, siehst Du, Friedrich, wenn Du nur an uns dabei denkst, dann gieb die Sache auf,« bat Rosette aufspringend und ihrem Manne um den Hals fallend. »Wenn es auch keinen Wolf mehr dort giebt, ich langweile mich zu Tode in der Einsamkeit.«
»Sich langweilen, wenn man sein Haus, seine Kinder hat?« sagte er vorwurfsvoll, »und denkst Du denn nicht an Adele? Sie muß es doch auch in der Einsamkeit aushalten, sie freut sich sogar darauf.«
»Sie wird nicht lange dableiben,« entgegnete Rosette, »und dann hat sie ihren Mann, der sie unterhält. Du bist aber so stumm wie ein Fisch, Du sprichst kaum zwei Worte am Tage!«
»Weil Ihr aus jedem meiner Worte einen Zank macht,« gab er ihr zurück.
»Genug, es hilft kein Bitten, wir müssen nach Polen,« sagte Rosette.
»Nein, wir müssen nicht, gieb nicht nach,« flüsterte Frau Wallner Rosetten zu.
Diese hatte sich auf's Sopha geworfen, den Kopf in die Kissen gedrückt und weinte. Friedrich nahm keine Notiz davon, sondern packte sein kleines Felleisen, die vorwurfsvollen, anklagenden Blicke, mit denen Frau Wallner sein Thun begleitete, eben so wenig beachtend.
Als er fertig war, sich den Mantelsack umgeschnallt und die Mütze in die Hand genommen hatte, näherte er sich Rosetten, sie zum Abschied zu umarmen; sie stieß ihn von sich und erhob den Kopf nicht von ihrem Kissen, ebenso wies Frau Wallner mit einer würdevollen Handbewegung seinen Abschiedsgruß zurück. Er seufzte, wandte sich aber dann zu den Kindern, sie hingen sich an ihn, er liebkoste sie und fragte dann nach Wendula. Die kleine Bertha lief sie zu holen.
»Lebe wohl, mein Kind,« sagte Friedrich, als Wendula eintrat und mit erstauntem Blick seine Anstalten sah, »lebe wohl, ich verreise, auf wie lange weiß ich nicht, und komme dann zurück Euch zu holen. Ich werde Förster auf Herrn Dorn's polnischen Gütern und denke Euch Allen eine sorgenfreie Lage zu bereiten. Ich hoffe, Du gehst mit mir, meine besseren Tage zu theilen, wie Du die schlimmen getheilt hast.«
Wendula war im Augenblick nicht fähig, ihrer Ueberraschung Worte zu geben, eben so wenig vermochte sie es, diesen nah bevorstehenden Umzug in Beziehung auf ihr eigenes Schicksal zu betrachten oder gar dem Onkel zu sagen, wie weit ab künftig ihr Lebensziel von dem seinigen liege. Sie drückte ihm nur stumm die Hand und sah ihn sinnig an.
»Gottlob, Du fürchtest Dich also nicht vor Polen, Du schlägst die Nachricht von meinem Glückswechsel nicht mit einer Fluth von Thränen und Vorwürfen zu Boden. Du bist wahrhaftig die einzige Vernünftige im ganzen Hause. Lebe wohl, mein Kind, sieh wie Du hier in dem Sturm, den ich zurücklasse, zurechtkommst. Sieh, daß Du Rosetten zur Vernunft bringst, die Alte gebe ich auf,« flüsterte er ihr zu, küßte sie herzlich und ging fort.
Wendula begleitete ihn noch ein Stück des Weges und ließ sich von ihm das Nähere erzählen. Es drängte sie, ihm ihr Herz zu öffnen, aber nein, das Geheimniß war so süß, ihr Glück so neu, jedes Wort kam ihr wie Entweihung vor. Sie schwieg also, aber sie war so heiter, sah so hoffnungsvoll, so glücklich aus –
»Gott sei Dank, es freut sich doch Einer über mein günstiges Geschick,« dachte Friedrich.
In dem Hause, das er verlassen, walteten böse Geister.
Rosette weinte noch, die Alte schimpfte und brummte.
»Sie ist die einzige Vernünftige, hast Du's gehört?« sagte sie zu Rosetten. »Behalten wir sie noch lange, so wird sie bald die Einzige sein, die im Hause noch etwas sagen darf. Ihr glattes Gesicht und ihr falsches Wesen haben es ihm angethan. Sie muß fort, die Schlange, die sich nicht begnügt, junge Laffen in ihr Garn zu locken, nein, die auch ihre Künste anwendet, die Herrschaft im Hause zu erhalten. Sie muß fort, wir wollen ihr gut aufpassen, und wehe ihr, wenn wir ihr auf die Sprünge kommen!«
Wendula bekam weder an dem Tage noch an den folgenden ein freundliches Gesicht zu sehen, ja, ihre Versuche, sich Rosetten zu nähern, um den Auftrag Friedrichs zu erfüllen, wurden in schroffster Weise zurückgewiesen. Es that ihr um Friedrich's willen leid, sie selbst konnte jetzt durch nichts gekränkt werden. Sie trug freudigen Muthes die Last, die Geschäfte des Tages, die Plackereien der Kinder, die Anfeindungen der Frauen. Sie hörte kaum auf die feindseligen Reden der Alten, sie fühlte die Streiche nicht, die Rosette in eifersüchtiger Laune nach ihr führte – folgten doch einem jeden solchen an Unmuth und Verdruß reichen Tage ein paar Stunden voll Frieden und Glück, denn jeden Abend, so wie Frau Wallner die Fensterläden schloß, verließ Wendula ihre Kammer im Schuppen und eilte in den Wald, wo Georg ihrer dann schon in dem nächsten Gange harrte. Hand in Hand eilten sie dann hinauf auf die Anhöhe, wo sie zuerst das Geständniß seiner Liebe empfangen, und dort saßen sie bei einander Stunde auf Stunde und tauschten die Schätze ihrer jungen, unschuldigen Herzen, die Fülle an Liebe, den Reichthum an Hoffnungen mit einander aus, schworen sich immer wieder Treue in Ewigkeit und besiegelten den Schwur mit flammendem Kuß.
Von seiner Mutter, von Wendula's Vater, von Georg's Wunsch, Beide in Zusammenhang zu bringen, war nicht mehr die Rede, sie sprachen auch nicht von der Zukunft, nicht von einem Ziel ihrer Liebe, nicht von künftiger Vereinigung. Waren das Alles Dinge, an die Georg im Lauf des Tages wohl oft mit innerer Sorge, mit bangem Herzklopfen dachte, in Wendula's Gegenwart fühlte er die Gewißheit, daß ihr Herz sein war, daß nichts sie von ihm trennen könne, daß seine Liebe stark genug sei, über alle Hindernisse zu siegen. Sie lebten für den Augenblick. Was er ihnen brachte, gab ihrem Leben Inhalt und Bedeutung. Sie hatte die Tage ihrer Kindheit, er sein ganzes bisheriges Leben ein glückliches genannt, sie nannte es noch so, aber gegen die Fülle ihres jetzigen Glückes bedeutete es nicht mehr, als ein blitzender, krystallheller Tropfen gegen den unerschöpflichen Fluthenreichthum des Meeres.
Es war ein Glück, klar und rein wie der ungetrübte Himmel eines Frühlingstages, durchweht von Blüthenduft, zauberhaft schön, Alles überwältigend, jeden Mißton des Tages auslöschend, kindlich empfunden, harmonisch in sich, lieblich und traumreich.
Aber das Leben, das kein Idyll ist und kein Gedicht, sondern eine tiefe, ernste, an wechselnden Begebenheiten reiche Geschichte, giebt einem solchen Glück nur die Berechtigung kurzer Dauer. Auch hier war es nach Tagen zu zählen.
An einem der nächsten Morgen ging der kleinen Gesellschaft, die sich immer in den Dünen zum Kaffee zu versammeln pflegte, Alles quer. Der Spiritus brannte nicht, und es wies sich aus, daß die kleine Aufwärterin eine Flasche mit Wasser statt mit der brennbaren Flüssigkeit in den Frühstückskorb gepackt hatte. Victor stürzte dienstfertig in das erste beste, dem Strande zunächst gelegene Haus, den Schaden zu verbessern, aber leider wurde die Flamme unnütz entzündet, denn als der Kaffee allen Anzeichen nach fertig war und man ihn in die bereit stehenden Tassen gießen wollte, kam eben wieder nur das unschuldige Element klaren Wassers zum Vorschein. Lorchens flammendes Erröthen verrieth die Schuldige, und Röschen, der Schlaukopf, ergründete gleich die Veranlassung der Schuld in einem dreißig Seiten langen Briefe des Candidaten, der an dem Morgen angekommen, die Meldung von dem glücklichen Erfolg einer Probepredigt und somit die Hoffnung auf endliche Belohnung zehnjähriger Treue gebracht hatte. Sah doch Lorchen ganz vergnügt aus, da konnte man ihr die kleine Vergeßlichkeit wohl verzeihen, wenn auch die freudige Theilnahme an ihrem Glück nicht so weit ging, auf dass Wohl der künftigen Pastorin in heißem Wasser, statt in Kaffee zu trinken.
»Was machen wir nun?« sagte« Herr Richter, »mein Taßchen Kaffee muß ich haben, Kinderchens. Lieber will ich das Mittagessen entbehren.«
Ja, sein Taßchen Kaffee mußte er haben, darüber waren sie Alle einig, und so wurde Flora's Vorschlag, rasch nach der Försterei zu gehen und einmal dort, statt in den Dünen zu frühstücken, angenommen.
»Das ist herrlich!« jubelte die Miß, »so bekomme ich auch einmal das schöne Pflegekind der Förstersleute zu sehen, von der alle Welt spricht.«
»Wir sind ja neulich erst dagewesen, ich habe keine Schönheit dort bemerkt,« sagte Herr Richter.
»Das Mädchen war fortgeschickt,« erklärte Flora.
Victor erkundigte sich nach ihr und brachte den Bescheid zurück.
»Ja, ja, ich weiß,« entgegnete die Miß, »ich wäre auch gern einmal wieder hingegangen, aber Ihr seid ja so schwerfällige Leute, Ihr habt Euch an diesen Weg gewöhnt, und darum wird er immer wieder eingeschlagen.«
»Nicht doch,« flüsterte Röschen ihr zu, »wir vermeiden blos die Försterei, weil dort gerade so ein Plätzchen ist unter einer Buche, wie das Grab von unserm Bruder, da wollten wir die trautste Mutter nicht hinführen. Sie soll froh sein, nicht weinen.«
»Gut, gut,« gab die Miß zu, obgleich ihr die Aehnlichkeit der Buche vor dem Försterhause mit der Trauerweide, die des kleinen Philipp Grab schmückte, nicht ganz einleuchtend war, »aber nun gehen wir ja heut doch hin.«
»Ja, heut schlägt es Mutterchen selbst vor,« erklärte Röschen.
Man machte sich auf den Weg. Wie immer ging Victor neben Miß Ellen. »Haben Sie das schöne Mädchen in der Försterei schon einmal gesehen?« fragte diese den jungen Mann.
»Nein,« sagte dieser abweisend, »ich habe keine Sympathie für renommirte Schönheiten, am wenigsten für schöne Schenkmädchen. Ich erinnere mich wohl, von dem Mädchen gehört zu haben, aber ich achtete wenig darauf und vergaß es bald wieder.«
»Sie waren ja auch im Schlepptau unseres Familienschiffes,« versetzte Ellen, »und segelten unsern Cours mit, der nicht nach der Försterei ging. Vielleicht weiß Georg besser mit der Waldschönheit Bescheid.«
»Nicht doch,« sagte Victor fast erschrocken. Ellen's Bemerkung fiel ihm auf's Herz.
Seit jenem Morgen, wo Georg ihm das halbe Geständniß gemacht, war nicht mehr von dem Gegenstand die Rede gewesen. Victor hatte unbedingt Zutrauen zu dem Freunde, und er zweifelte nicht an der Wahrheit seiner Betheuerung, daß kein verabredetes Stelldichein ihn in den Wald rief, daß er die Stunden dort in Einsamkeit zubringe. Er strebte eine Weile vergebens, den Gegenstand der romantischen Schwärmerei Georg's zu errathen.
Er hatte nirgends einen Anhalt zu Vermuthungen, selbst von dem Gedanken, daß Ellen es sein könne, kam er schnell wieder zurück. Sie war so unbeschreiblich unbefangen in seiner Gegenwart, so harmlos fröhlich, wenn er fort war. Nicht ein Schimmer von Sehnsucht lag in ihrem Blick, war er fern, kein anderes als ihr gewohntes Lächeln begrüßte ihn, wenn er kam, und auch er blieb immer in derselben fremden Entfernung von ihr. Das freilich konnte Maske sein!
»Miß Ellen,« sagte Victor auf einmal, denn er hatte sich daran gewöhnt, sie so zu nennen. »Halten Sie es für möglich, daß Georg Sie lieben könnte?«
Sie lachte.
»Ich bin eitel genug, die Möglichkeit zu einer solchen Verirrung im Allgemeinen nicht abzuleugnen,« erklärte sie, »aber in diesem besondern Fall muß ich meiner Eitelkeit den Stoß versetzen und erklären, daß ich nicht die mindeste Macht auf das kindliche, unberührte Herz meines Vetters ausübe.«
»Unberührt ist sein Herz nicht,« sagte Victor, »aber, wenn Sie es nicht sind, so weiß ich wahrhaftig nicht, wem die verschwiegene Huldigung gilt, wer das Traumbild ist, das ihm in den Stunden einsamer Waldschwärmerei vorschwebt.«
»Ich bin es nicht,« entgegnete Ellen. »Glauben Sie mir, unser Mädcheninstinct findet auch eine verschwiegene Huldigung heraus, gleichviel ob sie uns mit Freude oder Widerwillen erfüllt, ob sie unsere Sympathie erregt oder nicht. Man sieht in der Beziehung eher einmal zu viel als zu wenig, je nach dem Grade der Eigenliebe, die auf unser Theil gekommen ist, und der meine ist nicht ganz unbedeutend. Georg hat aber noch weniger Sympathie für mich als Hannibal, der mich wenigstens anknurrt und somit doch zeigt, daß meine Person irgend einen Eindruck auf ihn gemacht hat. Für Georg bin ich Nichts, und sein glücklicher Instinct bewahrt ihn vor dem Korbe, den ich schon im Geist und ganz nach amerikanischem Maßstab in kolossalen Dimensionen im Voraus für ihn geflochten –«
»Und ihm gegeben hätte?« forschte Victor.
»Gewiß und von Herzen gern, und wenn ich die vermeintlichen Millionen, die mein guter Vater einst für mich zu erwerben hoffte, hätte mit hineinlegen müssen. Georg ist aber klüger als ich dachte und liebt mich nicht.«
»Gottlob!« sagte Victor.«
Sie hatten die Försterei erreicht. Georg ahnte nichts von dem Ueberfall. Er lag unter seinem Baum, demselben, unter dessen schützenden Zweigen Röschens Phantasie das Grab ihres Bruders erblickte, er hatte sein Buch in der Hand, und obgleich er nicht darin las und die Augen über die Blätter hinaussahen, war er doch so tief in Gedanken versunken, daß er den Ueberfall erst merkte, als Röschen ihn lachend rief.
Er erschrak. Sehr recht war es ihm nicht, so überrascht worden zu sein. Im ersten Augenblick machte er fast ein finsteres Gesicht, im zweiten dachte er mit Befriedigung daran, daß Wendula nicht in der Försterei war, daß er sie heut gerade, wie es öfter geschehen, mit einem Briefe auf die Post geschickt, natürlich mit einem Briefe an sie selbst, den sie dann nicht auf die Post trug, sondern mit dem sie irgend einem versteckten Plätzchen des Waldes zueilte, dort alle die interessanten und neuen Dinge zu lesen, die Georg ihr Abends zu sagen vergessen hatte, oder wenigstens nicht gründlich genug gesagt hatte. Er freute sich ihrer Abwesenheit, hoffte, sie würde nicht eher wiederkommen, als bis die lärmende kleine Gesellschaft den Platz verlassen, hoffte und erflehte es vom Himmel, als er sah, daß es keineswegs auf einen Spaziergang, sondern auf ein Frühstück und also auf einen längeren Aufenthalt abgesehen war. Er war sehr, sehr unruhig darüber, gab sich aber Mühe, die innere Unruhe zu verbergen und so unbefangen als möglich an der allgemeinen Fröhlichkeit Theil zu nehmen.
Fröhlich waren sie aber Alle, fröhlich und frisch wie der Morgen, Jeder in seiner Weise. Flora's Augen glänzten, sie schien die Aehnlichkeit des romantischen Platzes, dessen kühle Schatten nur durch einzelne Streiflichter des Morgensonnenscheins unterbrochen wurden, der diese gleichsam vergoldete, mit dem tief melancholischen Ruheplätzchen ihres verstorbenen Lieblings nicht herauszufinden, zu Röschens großer Beruhigung, die ja nun auch keinen Grund hatte, die Stirn in sorgenvolle Falten zu ziehen. Teckel senior schäkerte mit Teckel junior und warf unverdrossen immer wieder das Steinchen in die Luft, das jener ihm in schwer verständlicher Freude apportirte. Lorchen aß Semmel über Semmel in der glücklichen Vorempfindung einer ihr jetzt in der Nähe winkenden Häuslichkeit, wo sie die Semmel nicht nur essen, sondern sie backen, für ihren Pastor backen konnte. Victor trällerte eine lustige Melodie nach der andern, Reminiscenzen einer fröhlichen Carnevalszeit, und die Miß ergriff sogar in ihrem fröhlichen Uebermuth das schwerfällige Röschen und tanzte mit ihr auf dem Rasen herum, was ungefähr so aussah, als triebe ein graziöses Windspiel Kurzweil mit einem Kameel. An das schöne Mädchen, dessenwegen man gekommen, hatte, nach der ersten flüchtigen Frage nach ihr, Keiner mehr gedacht, da erschien Wendula und blieb verwundert über das fröhliche Treiben, das ihren Einsiedler umgab, in der Ferne stehen.
Georg hatte sie augenblicklich gesehen, sein Blick flog zu ihr, ein Lächeln, das ihr ganzes Gesicht verklärte, erwiderte seinen stummen Gruß. Sein zweiter Blick beschwor sie zu gehen, aber da war sie schon von der Miß bemerkt worden.
»Da ist sie!« sagte Ellen und ließ Röschen so plötzlich los, daß diese trotz der scheinbar so sichern Stütze ihres Piedestals doch beinah das Gleichgewicht verloren hätte.
»Da ist sie!« wiederholte Ellen, wandte sich dann an Victor und sagte: »Sie Barbar, von dieser Waldnymphe, von diesem von der Natur in begeisterter Stimmung geschaffenen Meisterwerk der Schöpfung sprachen Sie in herabsetzendem Tone, nennen sie die renommirte Schönheit eines Schenkmädchens? Wo haben Sie denn Ihre Augen?«
»In meinem Herzen,« antwortete Victor schnell. »Sie wissen übrigens,« fuhr er fort, »daß ich das Mädchen nie sah, ich habe also auch nicht meinen Mangel an Geschmack, sondern nur meinen Mangel an Neugier zu vertheidigen.«
»Ihr Freund ist viel klüger als Sie,« sagte Ellen und eilte zu Wendula, die sich anfänglich Sträubende mit Gewalt in ihren Kreis ziehend.
Victor warf einen raschen Blick auf Georg, dann auf Wendula.
»Kommen Sie doch einmal hierher, liebes Kind,« sagte er zu Wendula, »treten Sie hier auf den Weg, bitte, nicht auf den Rasen, gehen Sie nur ein paar Schritt, so –«
Sie folgte mechanisch.
»Wahrhaftig, da sind sie, die Fußstapfen im Sande!« rief er, halb belustigt, halb erschrocken. »Und Du hast mir kein Wort davon gesagt,« wandte er sich vorwurfsvoll an Georg.
Dieser machte eine verlegene Miene und maß dann mit einem schnellen Blick seine Umgebung. Seiner Schwester Flora, Victor's Augen ruhten sorgenvoll auf ihm, Miß Ellen sah ihn mit lachender Herausforderung an. Er war auf einmal der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, wenn auch, außer Victor, Keiner recht begriff, um was es sich handle. Alle sahen mit aufrichtigem Wohlgefallen auf das schöne, erröthende Mädchen, das so plötzlich Mittelpunkt ihres Kreises geworden, und Röschen, in naiver Unwissenheit über die mangelnden Reize ihrer eigenen Person, amüsirte sich damit, ihre breiten kurzen Füße neben den zierlichen Fußstapfen Wendula's in den Sand zu drücken.
Da sagte Georg in erkünstelt leichtem Tone:
»Habe ich es Dir denn damals nicht erzählt, daß ich den Fußstapfen nachging bis zum Walde, wo sie sich verloren, und daß ich dann den ersten besten Weg einschlug, den, auf den die Sonne am hellsten schien, und so dem jungen Mädchen begegnete, das mir den Weg in die Försterei wies? Habe ich es Dir nicht erzählt, nun, so kommt es daher, daß wir an dem Tage so unverhofft mit meinen lieben Verwandten zusammentrafen und darüber den Scherz mit den Fußstapfen vergaßen.«
»Sehen Sie doch, wie hübsch das ist!« sagte Ellen, »wie romantisch! Der Sonnenstrahl führte Sie in den Wald, und da fanden Sie das schöne Mädchen.«
Georg konnte nicht antworten. Ihm war schon oft der Gedanke gekommen, daß ein himmlisches Licht ihn an dem Morgen geleitet, aber solche Gedanken, die an ein tiefes Geheimniß des Herzens rühren, spricht man nicht aus, man gesteht sie sich selbst kaum ein, in Furcht und Zagen, die eigenen Wünsche mit dem Willen Gottes zu verwechseln, in ehrfurchtsvoller Scheu vor der Anmaßung, sich als Gegenstand besonderer Führung zu betrachten.
Und doch, welcher Trost, welche Freude, welche Zuversicht liegt in dem Gedanken, in jedem Augenblick, in großen und kleinen Dingen unter der unmittelbaren Führung des Himmels zu stehen.
Beneidenswerth, wer diese Ueberzeugung hegt, ohne sich deshalb als Spielball der Vorsehung oder als besonderer Liebling derselben zu betrachten! Der Glaube an diese unmittelbare Führung beschränkt unsere Freiheit nicht, sie lehrt uns nur richtige Anwendung derselben. Denn viele Wege liegen vor uns und am hellsten beleuchtet scheint uns der, den wir am liebsten wandeln. Ob das Licht aber Gottes Sonne ist, ob wir es entzündet an der brennenden Fackel sehnsüchtiger Wünsche, entscheidet erst über den richtigen Weg, und wir haben volle Freiheit, den Unterschied herauszufinden und der Entscheidung zu folgen.
Miß Ellen kam Georg's Schweigen zu Hülfe. Sie zwang mit allerliebster Freundlichkeit die sich sträubende Wendula unter ihnen Platz zu nehmen und hatte das Mädchen bald so zutraulich gemacht, daß es sich harmlos und fröhlich dem Eindruck des Augenblickes hingab. Ja, als Ellen ihr glücklich abgefragt, wo sie her sei und daß ihr Vater Förster auf dem Fangel gewesen, also in seinem Hause einst ihre intimste Freundin, Flora Eisenhart, ein Obdach gefunden, als sie sich im Walde verirrt, da wurde nun vollends das junge Mädchen Gegenstand allgemeiner Theilnahme, denn jeder Einzelne der Richter'schen Familie fühlte sich veranlaßt, sie bewundernd anzusehen und den Dank, den nie Jemand von ihnen beanspruchen konnte und der ihr ja gar nicht zukam, doch auf sie zu übertragen.
Sie waren Alle so freundlich gegen sie, Flora in ihrer stillen mütterlichen, Herr Richter in seiner gutherzig wohlwollenden Weise. Victor und Ellen wußten ihr manches gedankenreiche Wort, das weit über die Bildung ihres Standes ging, zu entlocken, und Röschen und Lorchen klopften und streichelten an ihr herum und machten so seelensgute und dumme Gesichter, daß sie lachen mußte und sich doch durch die zudringliche Zärtlichkeit warm berührt fühlte.
Nur Georg blieb zerstreut und nahm mit sichtlicher Ueberwindung an der allgemeinen Heiterkeit Theil. Er war wie auf der Folter, jede Frage, die an Wendula gerichtet wurde, berührte ihn peinlich, er zitterte, daß nächstens einmal Einer nach ihrem Namen fragen würde, und fürchtete sich vor den Mienen des Erstaunens, den Forschungen müßiger Neugier. Es verletzte ihn Alles, was sein Geheimniß antastete. Und doch kämpfte mit dieser Verstimmung ein Gefühl unsaglicher Freude, denn er sah ja die unwillkürliche Huldigung, die ihr Jeder darbrachte, er sah sein Kleinod zwar aus tiefer, schöner Verborgenheit an das Licht des Tages gezogen, aber es überstrahlte auch dies. Die Dunkelheit war keine Folie gewesen, deren es bedurft hatte, um zu glänzen.
Die Kaffeegäste des Försterhauses hätten sie nur jetzt sehen, sollen, die finstere, abweisende Schönheit!
Georg gewann es kaum über sich, den Blick von ihr abzuwenden, er hörte mit Entzücken zu, wie ruhig und unbefangen, ja wie geistvoll sie auf die tausend und aber tausend Fragen antwortete, die an sie gerichtet wurden, und doch nichts von alledem mittheilte, was sie ihm schon bei jenem ersten Zusammentreffen erzählt hatte. Er sah Freude und Glück in Wendula's Augen strahlen, und sie doch jene zarte Zurückhaltung bewahren, welche die beste Erziehung oft nicht zu geben vermag, fehlt der Tact des Herzens, der überall die richtige Stellung herausfinden lehrt, gleichviel auf welchen Platz man gestellt wird.
Aber nicht nur bewundernde, sondern auch böse, feindselige Blicke beobachteten das junge Mädchen.
»Wahrhaftig, wahrhaftig, die Sache wird mir bedenklich,« sagte drinnen im Zimmer Frau Wallner zu Rosetten, »da hat er seine ganze Sippschaft mitgebracht, und sie sitzt mitten darunter und geberdet sich, als ob sie eine Dame wäre!«
»Mutter, sie ist eine,« meinte Rosette, »sie gehört so wenig hierher wie ich.«
»Hättest Du nur den Friedrich nicht geheirathet,« brummte Frau Wallner fort.
»Dann wäre es auch nicht besser,« sagte Rosette, »ja, wahrscheinlich schlimmer. Weiß Gott, wo wir Beide dann wären oder welche schlimmere Heirath ich aus Desperation gemacht hätte. Friedrich ist doch eigentlich ein sehr lieber Mensch!«
»Merkst Du das, nun er fort ist?« spottete Frau Wallner.
»Ach, ich merke es auch, wenn er da ist, oft sogar sehr,« sagte Rosette in leichtsinnigem Tone, aber mit einer Miene, die deutlich verrieth, daß sie viel ernsthafter gestimmt war, als sie zugeben wollte, »wenn er weniger gut wäre, würde ich vielleicht besser sein.«
»Gott erbarm' sich, was thust Du denn Schlimmes?« fuhr die Mutter auf. »Wenn Du aber so sehr entzückt von Deinem Manne bist, nun, so freue Dich doch, daß Du ihn in Polen so ganz ungestört haben kannst. Dorns werden sich hüten, dort zu bleiben, auf Adelens Gesellschaft kannst Du also nicht zählen, und andere Menschen wenden sich nicht dorthin.«
»Wir auch nicht,« behauptete Rosette. »Denkst Du, Friedrich wird die Stelle annehmen, nun ich mich dagegen erklärt habe? Er wird mit Herrn Dorn hinreisen, und dann irgend einen Grund ausfindig machen sie auszuschlagen. Er thut nichts gegen meinen Willen.«
»Nun, das wäre wenigstens vernünftig,« sagte Frau Wallner.
»Oder unvernünftig,« fuhr Rosette fort.
Frau Wallner sah die Tochter erstaunt an.
»Aus Dir ist nicht klug zu werden,« meinte sie.
Rosette lachte, aber als die Mutter hinausging, Wendula unter einem Vorwand, der ihre dienstbare Stellung so recht in's Licht stellen mußte, hineinzurufen, wurde sie wieder ernst und sagte halblaut:
»Ich fürchte, ich fange jetzt an, aus mir klug zu werden, aber was hilft's, nun hat er die Wendula lieber. Er soll es aber nicht,« fuhr sie, mit dem Fuß auftretend, fort, »er soll es nicht, gleichviel, ob wir nach Polen gehen oder nicht, die Wendula muß fort, muß ihm aus den Augen!« –
Auf dem Heimwege sagte Flora zu ihrem Manne:
»Wollen wir nicht unsere projectirte Fahrt nach Rügen jetzt bald machen, morgen schon?«
»Ja Kindchen, jeden Augenblick, wie und wann Du willst, aber warum so eilig?«
»Ich möchte Georg hier fort haben,« flüsterte ihm Flora zu.
Herr Richter verstand sie nicht gleich, verfehlte aber nicht, seinem Frauchen ein Compliment über ihre Klugheit zu machen, als er ihre Absicht begriffen hatte.
Flora machte denn auch gleich der kleinen Gesellschaft den Vorschlag zu der gemeinschaftlichen Reise, von der schon lange die Rede gewesen war, für die man nur bisher den Zeitpunkt noch nicht bestimmt gehabt hatte.
»Das Wetter ist wundervoll, verspricht auch längere Dauer, mit dem Aufschieben gewinnt man nichts, besondere Vorbereitungen sind nicht zu treffen, ein Jeder von uns ist Herr seines Willens und seiner Zeit,« so motivirte sie ihren Vorschlag, »wir können also, morgen so gut fahren wie jeden andern Tag, und ich wüßte nicht, warum es nicht geschehen sollte.«
Das sah nun auch kein Anderer ein, und der Vorschlag wurde mit so allgemeinem Beifall aufgenommen, daß Georg's Verstummen unbemerkt blieb.
Selbst Victor schien es nicht beachtet zu haben, wenigstens nahm er es mit höchster Verwunderung auf, als Georg ihm, nachdem sie sich von den Anderen getrennt und ihre Wohnung erreicht hatten, ganz ruhig erklärte, daß er die Fahrt nach Putbus nicht mitmachen, sondern in Häringsdorf bleiben würde.
Er zeigte jedoch nur einen Augenblick das verstellte Erstaunen, das vor Georg's ruhigem, sicherm, offenem Blick nicht Stand hielt. Statt dessen ergriff er ihn bei der Hand und sagte bittend:
»Komm mit, Georg, ja was noch mehr ist, wir Beide wollen dann nicht mehr hierher zurückkehren. Das hat auch Flora so gemeint, ich bin dessen sicher, und es ist das Beste für Dich. Geh fort von hier, ehe es zu spät ist.«
»Es ist schon lange zu spät,« sagte Georg fest. »Am ersten Tage, als ich sie sah, hätte ich gehen müssen, aber nein, auch damals war es schon zu spät, denn mit dem ersten Blick auf sie gehörte ihr mein Herz.«
Victor sah den Freund ernsthaft an.
»Georg,« sagte er dann, »junge Leute sind so leichtsinnig in Betreff ihres Herzens, und ärger als der Leichtsinn sündigt oft die Unerfahrenheit, die gedankenlose Hingabe an unsere Wünsche. Das Mädchen ist nicht nur sehr hübsch; jedes Wort, jede Miene zeugt von Bildung, von kindlicher Reinheit und Unschuld. Rege nicht Wünsche in ihr an, die Du nicht erfüllen kannst, laß sie Dir zu gut sein zu vergänglichem Liebesgetändel. Du kannst das Weh nicht verantworten, das Du ihr und Dir zufügst.«
»Sie ist meine Braut, und ich werde sie heirathen,« erklärte Georg fest.
»Heirathen!« fuhr Victor auf, »sie heirathen! Denkst Du denn nicht an Deine Mutter, ja, hast Du denn nicht an sie gedacht, ehe Du dem armen Dinge Dein Wort gabst, das Du doch nun und nimmermehr erfüllen kannst. Verzeih, Georg, Du hast so unbesonnen wie ein Kind gehandelt, und ich mit, daß ich Dich so sorglos Dir selbst überließ, daß ich nicht die Rechte eines älteren Freundes in Anspruch nahm und Dich mehr überwachte. Wo hatte ich nur meinen Kopf, meine Gedanken?«
»Da, wo Du Dein Herz hattest,« wandte Georg lächelnd ein-.
Victor sah den Freund verwundert an und erröthete heftig. Jener fuhr fort:
»An meinem Gefühl für das Mädchen erkannte ich das Deine, Victor. Könntest Du Deine Liebe für sie aufgeben, und wenn hundert Augen Dich bewachten und die halbe Welt sich zwischen sie und Dich drängte, könntest Du es?«
»Ich habe es wenigstens versucht,« sagte Victor unwillkürlich, »nicht weil die halbe Welt, sondern weil Einer dazwischen stand, bei dem ich ein größeres Recht auf sie fürchtete«.
»Versucht, aber nicht vermocht,« unterbrach ihn Georg. »Wozu erst etwas Vergebliches versuchen? Nein, nein, lieber Victor, als Du es unterließest, mich zu überwachen wie ein Kind, handeltest Du wahrlich richtiger, als wenn Du mir auf Schritt und Tritt nachgegangen wärst. Ein Mann ist doch darauf angewiesen, seinen Weg durch das Leben allein zu finden, wie soll ich das, wenn immer Jemand da ist, mir die Hand zu reichen und mich zu führen? Du hattest ganz recht, es nicht zu thun. Eine überwachte Moral ist keine, und was mir das Leben werden soll und ich ihm, das kann ich nur wissen und nur erreichen, wenn ich ihm selbstständig gegenüberstehe.«
»Das dachte ich auch,« entgegnete Victor, »darum ließ ich Dich gehen. Ja, ich hätte Dich auch zur Noth an schlimme Dinge herangehen lassen, denn uns Männern ist's nicht beschieden, das Leben nur von seiner reinsten Seite kennen zu lernen, und ehe ein wirklicher Charakter fertig wird, muß er sich auch in solchem Feuer härten können, das eben nicht als Weihrauchflamme der Moral in die Höhe lodert. Man macht meist erst dumme Streiche, ehe man klug wird, aber dies hier, das wird entweder ein schlechter Streich oder ein dummer, der dumm für's Leben bleibt, das heißt, Dich unglücklich macht, kurz und gut, es ist eine verlorene Sache!«
»Es war doch nicht zu ändern,« unterbrach ihn Georg. »Man kann tausend Dinge mit Vorbedacht thun oder unterlassen, Liebe aber fällt uns wie ein Stern vom Himmel in die Seele, und keine Erdenmacht, kein menschlicher Wille vermag es, ein solches himmlisches Licht auszulöschen.«
»In uns vielleicht nicht, aber mit uns,« sagte Victor, »und ich denke, Du kennst eine so eisenfeste Willenskraft, die sich nicht vor dem Versuch scheuen würde, die harte Hand auf ein solches Licht zu legen und müßte sie Alles vernichten, was ihr dabei im Wege steht. Denke an Deine Mutter, Georg, es würde auch ihr an's Leben gehen, sollten sich die Scenen wiederholen, die einst zwischen Richard und ihr gespielt haben.«
»Sie sollen, sie können sich nicht wiederholen,« versicherte Georg, wenn auch erschüttert, doch mit ruhiger Festigkeit, »ich habe die Mutter lieb, und das hatte Richard nicht.«
»Gut, wenn Du der Liebe zu ihr folgen willst, so komm mit mir. Geh von hier fort und kehre nicht mehr zurück, denn Du mußt dann doch Dein Herz in die Opferflamme werfen, wie damals Deine Violine.«
»Nein,« unterbrach ihn Georg mit Nachdruck, »denn mein Herz und das Wendula's sind eins, und ich habe kein Recht mehr, das meine zu opfern.«
»Wendula!« sagte Victor erstaunt, »Wendula heißt sie, wie kommt sie zu dem Namen?«
»Zu meiner Mutter Namen!« wiederholte Georg. »Begreifst Du es, wie er den Zauber verstärkte, den des Mädchens holde Erscheinung über mich ausübte? Ich hoffte Richard's Tochter in ihr zu finden. Leider bestätigten meine Nachforschungen meine Hoffnungen nicht. Sie trägt den Namen meiner Mutter, sie empfing ihn sogar zum Andenken an diese, aber ihre einfache Geschichte erklärt den Umstand nur zu natürlich.«
Er erzählte nun, was er von Wendula erfahren, er nannte den Namen Ernestine Arnold, er fragte Victor, ob er sich genannter Hausgenossin seiner Mutter erinnere.
Viktor wiederholte den Namen ein paarmal, plötzlich sagte er:
»Jetzt weiß ich's, sie war eine Schutzbefohlene meiner Tante, und ich glaube von dieser gehört zu haben, daß sie einst Dienerin im Hause Deiner Mutter war, als der erste Gemahl derselben noch lebte.«
»Siehst Du, es stimmt Alles,« sagte Georg.
»Nein, es stimmt nicht Alles,« fuhr Victor fort. »Die Frau starb, kurz bevor meine Tante Breslau verließ, um Deiner Schwester zu folgen. Ich erinnere mich lebhaft der tiefen Betrübniß meiner Tante, ich müßte mich sehr irren, wenn ich nicht von ihr gehört hätte, daß mit ihr nun die ganze kleine Familie ausgestorben sei.«
»Bis auf den Sohn wahrscheinlich,« unterbrach ihn Georg.
»Sie hatte keine eigenen Kinder, sie hatte nur einen Stiefsohn, und daß der bald nach ihrer Verheirathung starb, glaube ich genau zu wissen.«
»Du glaubst,« wiederholte Georg.
»Ja, siehst Du, die Sache interessirte mich damals zu wenig, um mir so genau jede Einzelnheit einzuprägen. Ich kann aber meinem Gedächtniß so ziemlich trauen und denke, ich irre mich nicht.«
»Aber nun die Folgerungen?« fragte Georg.
»Die sind sehr einfach,« entgegnete Victor. »Ist die Ernestine Arnold, die wir meinen, mit Wendula's vermeintlicher Großmutter eine Person, so ließe sich hier sehr leicht eine Spur finden. Sie hinterließ keinen Sohn, ist einer da, so ist es ein untergeschobener. Als Richard das elterliche Haus verließ, kann er bei ihr Zuflucht gesucht und in vollem Maße gefunden haben. Richard war bei den Leuten im Hause sehr beliebt. Die ihn gekannt hatten, sprachen mit Begeisterung von ihm und beklagten sein hartes Schicksal. Meinst Du nicht, daß eine alte Dienerin des Hauses die Anhänglichkeit so weit treiben konnte, dem Flüchtling auch ihren Namen zu geben?«
»Gewiß, gewiß!« bestätigte Georg hochaufathmend und setzte dann kleinlaut hinzu: »Sie ist aber todt, wer wird uns Gewißheit geben?«
»Man müßte an dem Ort, wo sie gelebt, Nachforschungen anstellen,« meinte Victor, »und auch hier bei Denen Erkundigungen einziehen, die in näherem Zusammenhang mit dem Mädchen stehen. Zuerst bei ihren Pflegeeltern.«
»Die Frauen im Hause sind ihr feindlich gesinnt, sie würden sie nicht dort leiden, wüßten sie eine andere Zuflucht für sie,« meinte Georg.
»Aber der Förster?« fuhr Victor fort. »Ist es Dir denn nie eingefallen, Dich bei ihm nach dem Mädchen zu erkundigen?«
»Ich hatte mich mit Wendula's Auskunft begnügt,« entgegnete Georg fast kleinlaut. »Sie war so einfach und natürlich, ich suchte kein weiteres Geheimniß hinter derselben. Ich dachte dann eine ganze Weile gar nicht mehr daran, weil ich überhaupt gar nichts dachte,« setzte er erröthend hinzu, »dann tauchte noch einmal der Wunsch in mir auf, in ihr die Enkelin meiner Mutter zu erkennen, und abermals schlug ihre einfache Erklärung meine Hoffnung zu Boden. Da hatten wir es nun aber Beide schon gesagt, daß wir uns liebten, und da – –«
»Da hörten vollends alle vernünftigen Gedanken in Dir auf,« beendigte Victor den Satz. »Nun gut, nun laß mich für Dich handeln. Zuerst also zum Förster, es ist nicht denkbar, daß er nichts über Wendula's Verhältnisse wissen sollte.«
»Er ist verreist,« sagte Georg.
Victor machte eine ungeduldige Bewegung.
»Hat sie denn keinen andern Freund hier am Ort?« fragte er dann.
»Sie hat mir viel von einem alten Fischer erzählt, der ihres Vaters intimster Freund gewesen,« erwiderte Georg. »Vater Reimer nannte sie ihn.«
»Gut, also zu diesem,« entschied Victor.
Sie erkundigten sich nach dem alten Manne, sie suchten seine Behausung auf, aber auch er war nicht daheim, und man konnte ihnen nicht sagen, wann er zurückkehren würde.
»Gut, er bleibt uns also noch,« sagte Victor.
Gar mancherlei sprachen die beiden Freunde noch über den Gegenstand, und Victor war bemüht, nicht gar zu sanguinische Hoffnungen in Georg's Seele aufkommen zu lassen.
Er warnte ihn auch vor übereilten Mittheilungen, sowohl an Wendula als an seine Mutter, um der Einen nicht vergebliche Hoffnungen zu erregen und der Andern nicht die Möglichkeit zu gewähren, Nachforschungen zu hintertreiben, deren Resultat ihr vielleicht ein unfreundliches sei. Er drückte seine Meinung so schonend als möglich aus, indem er sagte:
»Tritt erst mit einer vollendeten Thatsache vor Deine Mutter hin. Hast Du unwiderlegliche Beweise, daß Wendula ihre Enkelin ist, so führe sie ihr als solche zu und laß dann die Natur sprechen. Denke aber an den lange gehegten und bis jetzt unversöhnten Zorn Deiner Mutter. Ihr Herz ist nicht so weich, ist Familienbanden nicht so zugänglich, um durch den Gedanken gewonnen zu werden, in Wendula möglicher Weise Richard's Tochter zu finden. Ja, in Verbindung mit Deiner Liebe zu dem Mädchen, Deiner Absicht sie zu heirathen, was alle ihre früheren Pläne umstoßen müßte, würde sie eher geneigt sein, in ihr eine Betrügerin zu sehen. Uebereile also nichts, schweige gegen Deine Mutter und gegen Wendula, bis Du genau weißt, daß Du ihnen die Wahrheit sagst.«
Georg versprach Alles, aber weitere Concessionen machte er der Meinung Victor's nicht und blieb bei seinem Entschluß stehen, die kleine Gesellschaft nicht nach Rügen zu begleiten.
»Meine Mutter dringt schon in den letzten Briefen in mich, zurückzukommen,« sagte er, »es würde unkindlich sein, ihrem Wunsch nicht zu willfahren. Ich rang schon seit mehreren Tagen mit dem Entschluß abzureisen, jetzt werde ich mir ein bestimmtes Ziel stecken. Ich warte nur die Rückkehr des Försters ab, um die nöthigen Nachforschungen anzustellen; dann gehe ich zur Mutter, ihr Herz für Wendula zu gewinnen, gleichviel, welche Rechte ich für sie in Anspruch zu nehmen habe.
Diese letzten Tage gönne mir das Zusammensein mit meiner Braut. Niemand ahnt unser Verhältniß Ich halte mich ihr fern, wenn ich in der Försterei bin. Ein Blick, ein zugeflüstertes Wort genügt uns Beiden, bis die herabsinkenden Schatten des Abends uns ein paar ungestörte Stunden gestatten. Sei unbesorgt, der Wald verbirgt, Gott schützt unser Geheimniß, unser Glück. Ich würde unglücklich sein, würde ich noch einmal den sorgenden Blicken Flora's und den neugierigen der leichtsinnigen Miß oder meiner guten, ungeschickten Cousinen ausgesetzt. Mir kann nichts lieber sein, verzeih mir, Victor, als Eure Abreise jetzt. Meinst Du es schlimm mit mir, so bleibe und bewege die Anderen zum Bleiben.«
Was sollte Victor thun? Er sah Georg entschlossen, seine Liebe zu behaupten und jedem Einfluß zu trotzen, der ihn von derselben ablenken wollte. Eine Liebe, die so viele Conflicte im Gefolge haben mußte, zu verhindern, ehe sie Wurzel gefaßt, würde Victor kein Opfer, kein Einschreiten, ja selbst keine Gewaltsamkeit gescheut haben, sie zu entwurzeln reichte seine Kraft nicht aus, ja stimmte auch nicht einmal mit seiner Ueberzeugung überein. Der Mann muß sich sein Schicksal schaffen, und ist der Knabe nicht so erzogen oder beanlagt, daß man ihm getrost sein eigenes Loos anvertrauen kann, so helfen Eltern, Vormünder und Freunde nichts. Vor schlechten Handlungen schützt nur das eigene Gewissen, und werthlos ist eine Moral, die nur durch Mangel an Gelegenheit zum Unrecht vor denselben bewahrt werden kann.
Eine Unbesonnenheit blieb es von Georg, mit einem Mädchen Schwüre der Liebe ausgetauscht zu haben, von denen er wissen konnte, daß seine Mutter sie nun und nimmer anerkennen würde, eine Unbesonnenheit des Herzens, der Jugend – Victor war der Letzte, sie zu richten, sie nicht zu verstehen. Aus unwürdigen Banden hatte er den Freund nicht zu befreien, einmal geknüpfte zu behaupten, heilige Schwüre zur Geltung zu bringen, ein im Jünglingsfeuer gegebenes Manneswort nun auch männlich zu erfüllen, wie hätte er ihn daran verhindern sollen!
»Gott schütze Dich, mein Junge,« sagte er nach einer kleinen Pause, »sei glücklich, aber bedenke bei Allem das Ende. Bewahre Dein Geheimniß, daß es nicht eher vor Deine Mutter kommt, als bis Du ihr genau sagen kannst, welche Ansprüche Wendula an sie hat.«
So reisten denn Richters und die Miß und Victor am nächsten Tage allein nach Rügen ab, und selbst Flora bekam keine andere Erklärung für Georg's Zurückbleiben, als die ihr von Victor zugeflüsterten Worte:
»Es hilft Alles nichts, Georg muß sich zum Sturm vorbereiten, da kann man ihm die sonnenhellen Tage nicht noch verkürzen,« während die Uebrigen sich mit allerlei für solche Gelegenheit üblichen Vorwänden begnügen mußten.
Kaum war übrigens die kleine Gesellschaft fort, als Georg folgenden Brief seiner Mutter erhielt:
Mein Liebling!
In einigen Tagen treffe ich in Stettin ein und hoffe Dich dort zu finden, um in Deiner Begleitung die Fahrt nach Häringsdorf fortzusetzen. Ich bin neugierig, den Ort zu sehen, der trotz aller an ihm haftenden Erinnerungen und meinem Widerwillen, Dich dort zu sehen, Dich so fesseln kann, daß Du die Rückkehr zu Deiner Mutter vergißt; ich bin neugierig auf die Gesellschaft, die einen solchen Sieg über Deine Blödigkeit, Deine einsiedlerischen Gewohnheiten erfochten. Ich habe zudem Dir eine sehr fröhliche Nachricht mitzutheilen und kann mir die Freude nicht versagen, sie Dir selbst zu überbringen. Schriftlich deshalb kein Wort darüber, nur die Weisung, Dich reisefertig zu halten, da ich nur wenige Tage meiner kostbaren Zeit an den Aufenthalt in Häringsdorf wenden kann.
Hoffentlich wird mir nicht zugemuthet werden, die Folgen der Uebereilung zu tragen, mit der Du verwandtschaftliche Verhältnisse auf's Neue anknüpftest, die doch kaum verdienen, aus dem Staube der Vergessenheit hervorgeholt zu werden. Wäre Deine Stiefschwester allein, so wollte ich mich Dir zu Liebe der peinlichen und schmerzlichen Aufgabe, sie wiederzusehen, unterwerfen, mit ihrem Manne wünsche ich jedoch keinen Verkehr, da ich nicht vermuthen kann, daß es ihr gelungen ist, ihm seine plumpen und unhöflichen Manieren abzugewöhnen und es Leuten von Bildung so zu ermöglichen, seine übrige Albernheit zu ertragen. Da Flora sich nie Mühe gegeben hat, mich mit ihrer Verbindung zu versöhnen, so habe ich auch die Absicht, jede Begegnung mit ihr zu vermeiden, und verpflichte Dich, von meiner erwarteten Ankunft nichts zu verrathen.
Hat Dich Dein gutes Herz der Familie gegenüber zu unangebrachten Aufmerksamkeiten verführt, so denke ich, es wird am besten auf diese Weise in's rechte Geleis gebracht. Mach' Dir keine Sorge deshalb, mein Sohn, überlasse Alles getrost Deiner Mutter, die es am besten versteht, was zu Deiner Wohlfahrt dient, es Dir oft schon bewiesen hat und noch oft zu beweisen gedenkt. Auf Wiedersehen!
Deine treue Mutter
Wendula Artefeld.
Mit einem schmerzlichen Blick und tiefen Seufzer ließ Georg den Brief aus der Hand sinken.
»Meine arme Mutter!« sagte er leise, »was hat man Dir nur gethan, daß Du Dein Herz so vor aller Welt zu verschließen bemüht bist, daß Du es sogar für Deinen Sohn zum Räthsel machst? Es soll Dir aber nichts helfen, hülle es in siebenfache Schleier, mein Auge soll es finden und mein Herz es verstehen.«
Zum ersten Mal trübten Schmerz, Sorge, ja fast ein Gefühl herzbeklemmender Angst die Freude, mit der Georg sonst dem Zusammensein mit Wendula zuzueilen pflegte.
Auch sie kam ihm in aufgeregter Stimmung entgegen.
Sie hatte einen schweren Tag gehabt. Frau Wallner hatte sie mit Vorwürfen über die Unbescheidenheit überhäuft, mit der sie sich den Fremden aufgedrungen, die ja doch nichts weiter beabsichtigten, als Kurzweil mit ihr zu treiben. Georg's Name war in Beziehungen zu ihr genannt worden, welche die reine Seele des Mädchens eben so erschrecken als empören mußten. Zum ersten Mal trat ein niedriger Verdacht an sie heran, zum ersten Mal zeigte man ihr die lieblichsten Schätze des Lebens in dem befleckten Spiegel gemeiner Verleumdung.
Warnung, Rettung vor Gefahr, mütterliche Fürsorge, heilige Pflicht der Nächstenliebe nannte Frau Wallner ihre That, als sie mit unbarmherziger Hand das harmlose Kind dicht an den Rand des Sumpfes stieß, von dessen Dasein es noch nicht einmal die leiseste Ahnung gehabt.
Wendula war außer sich. Scham, Zorn, Empörung stritten in ihr. Georg sollte sein Spiel mit ihr getrieben haben, nichts sollte sie ihm sein als ein willkommener Zeitvertreib für eine langweilige Badesaison, das Vertrauen ihrer Liebe, ihre Zuversicht und Hoffnung auf die Zukunft wurden ein vergänglicher Traum genannt, die Hingabe ihres Herzens brandmarkte man als leichtsinnige Unbedachtsamkeit einer verliebten Thörin.
Als Frau Wallner ihren Sermon anfing, waren es ja nur Vermuthungen, auf welche hin sie das arme Mädchen mit Schmähungen überhäufte, Wendula's flammendes Erröthen, die gewaltsam unterdrückte Heftigkeit, das tiefe Verstummen derselben erhob ihre Vermuthungen aber zur Gewißheit Sie bemühte sich, Wendula zum Eingeständniß ihres Liebesverhältnisses mit Georg zu zwingen.
»Ich habe nicht nöthig, über solche Dinge ein Wort zu sagen,« entgegnete diese trotzig, »tastet etwas mein Herz an, so sind es Ihre giftigen und häßlichen Reden, nicht der unschuldige junge Mensch. Ob und wen ich liebe, geht Niemand etwas an als mich selbst und den lieben Gott, und wenn ich mich zum Spielzeug, zur Kurzweil einer Stunde machen lassen will, so ist es eben auch nur meine Sache.«
Natürlich goß sie durch diese Gegenrede nur Oel in's Feuer, aber ein weiteres Wort war ihr nun auch nicht zu entlocken, selbst durch Rosette nicht, die ein milderes Verständniß für Herzensangelegenheiten hatte, die in Wendula zwar eine Nebenbuhlerin in der Zuneigung ihres Mannes sah und sie deshalb schon seit langer Zeit mit feindseligen Augen betrachtete, aber in Wahrheit doch zu gut von dem Mädchen dachte, um ihr etwas Schlimmeres als eine Unbesonnenheit zuzutrauen.
Auch gegen sie, die nicht das Eingeständniß einer Schuld, sondern Vertrauen forderte, blieb Wendula verschlossen, und sich der Bitterkeit ihrer gereizten Stimmung überlassend, beantwortete sie die freundlicheren Fragen derselben in beleidigendster Weise.
»Ich habe nichts zu sagen und ich will nichts sagen,« eine andere Gegenrede war ihr nicht zu entlocken. »Du meinst es vielleicht nicht so schlecht als Deine Mutter, aber daß Du auch nicht weißt, was Liebe ist, das sehe ich ja alle Tage, und der Onkel empfindet es früh und spät. Wahrhaftig, in diesem Hause von Liebe zu reden, ist, als wollte man Kirchenglocken in einem Irrenhause läuten!«
Natürlich wandte Rosette, die ihre Gutmüthigkeit in so rauher, kränkender Weise abgefertigt sah, sich nun auch von ihr ab und gab sich keine weitere Mühe, den herabwürdigenden Schmähungen und guten Lehren der Mutter Einhalt zu thun.
Nie hatte sich Wendula so nach dem Abend gesehnt, als an dem Tage, nie war sie ihrem Freunde mit so schwerem und doch so liebebereitem Herzen entgegengeeilt. Sie sagte ihm kein Wort von dem Sturm, der über sie hereingebrochen. Als sie neben ihm saß, seine Hand in der ihren, als es ganz still um sie war, nur der Wind leise in den dunkeln Bäumen säuselte, nur Georg's Stimme in ihr Ohr klang, da wußte sie ja, wo sie Ruhe und Sicherheit und Schutz vor dem Sturm finden konnte, wozu denn erst ein Wort darüber sagen, wozu die Verwüstung zeigen, die er angerichtet? Das volle Bewußtsein des Erlebten machte sich erst wieder geltend, als Georg ihr von dem Briefe seiner Mutter erzählte, ihr mittheilte, daß er morgen fort müsse, wenn auch nur auf einen Tag, denn er rechne bestimmt daraus, denselben Tag zurückzukehren und sie Abends wie gewöhnlich zu sehen, als er, daran anknüpfend, davon sprach, wie sein Aufenthalt in Häringsdorf nun seinem Ende entgegengehe, wie er bald werde auf längere Zeit scheiden müssen, aber nicht ohne die Hoffnung baldiger Wiederkehr und dauernder Vereinigung.
Er hatte mit zartester Schonung gesprochen; mit dem vollsten Gefühl, ihr denselben Schmerz zufügen zu müssen, der ihn daniederdrückte, hatte er alle Weichheit und Tiefe seiner Empfindung in seine Stimme und Worte gelegt, um den Inhalt derselben zu mildern und sie damit zu versöhnen. Daß seine Botschaft Freude erregen könne, war ihm wohl nicht eingefallen.
Dennoch war es der Fall. Wendula sah ihn mit strahlenden Augen an.
»Gottlob!« sagte sie, »nun ist Alles gut. Nimm mich mit, Georg! Sie verleumden Dich, Dich und mich, o, Du glaubst nicht, was für schlechte Dinge sie von Dir sagen und wie sie mich heut damit gequält haben. Nimm mich mit Dir, dann wird Keiner mehr sagen, daß Du mit mir gespielt hast und daß Deine Liebe mit Deiner Abreise zu Ende geht«
»Nein, das kann Keiner sagen, ohne auf das schmählichste zu lügen,« unterbrach Georg sie heftig, »und das hast Du doch auch nicht geglaubt?«
»Nein, gewiß nicht,« versicherte sie.
»Und Du wirst es auch nicht glauben, wenn ich Dich auch nicht mitnehmen, Dich nicht gleich zu meiner Mutter führen kann, ja, wenn ich Dir sage, daß die Mutter vorläufig noch nichts von unserer Liebe wissen darf?« fuhr er ängstlich fort.
Sie antwortete nicht, sie preßte seine Hand nur krampfhaft und legte sie dann aufs ihr Herz, dessen stürmischer Schlag mehr sagte als Worte.
»Dein Herz schlägt nicht aus Angst, nicht aus Mißtrauen gegen mich so stürmisch, nicht, meine Wendula?« fragte er.
»Ich weiß nicht,« sagte sie, »sprich nur weiter, dann werde ich es wissen.«
»Meine Mutter liebt mich,« sagte er offen, »siehst Du, und darauf ist alle meine Hoffnung begründet, denn ihre Pläne führe ich nicht aus und ihre Wünsche erfülle ich nicht, wenn ich Dich ihr als Tochter zuführe. Sie liebt mich, aber sie ist eine scheinbar strenge Frau, von festem Charakter und kräftigem Willen.«
»Ja, sie ist eine Frau, die ihre Söhne verstößt, wenn sie ihr den Willen nicht thun,« unterbrach ihn Wendula, über die nun auf einmal die Erinnerung an alles das hereinbrach, was Georg ihr von derselben und dem Verhältniß zu ihrem ältesten Sohn erzählt, weiß Gott, wie schonend erzählt hatte, aber die Möglichkeit, daß Wendula's Vater der verstoßene Sohn gewesen, brach ihr in der Tochter Augen den Stab.
»Sie ist eine Frau von festem Charakter und kräftigem Willen,« fuhr Georg mit Nachdruck fort, »und sie muß erst sehen, daß mein Glück von ihrer Einwilligung abhängt, ehe sie diese geben wird. Das wird sie mir nicht gleich auf's Wort glauben wollen, aber sie wird es einsehen und mir glauben müssen und ihre Vorurtheile und Absichten deshalb aufgeben. Die verschiedenen Verhältnisse der Welt verleihen dem Einen vor dem Andern ein scheinbares Recht zu verschiedenartigen Ansprüchen, und an dem Grundsatz, noch dazu in engster Weise ihn fast auf Kastengeist zurückführend, hängt meine Mutter. Durch Festhalten ihrer Ansichten ehrt sie die ihres Vaters und seiner Vorfahren, das erklärt Alles. Ihr Verstand ist scharf und klar und nimmt das Recht eines richtigen, auf Erfahrung gestützten Urtheils in Anspruch.
Ich werde mich nur an ihr Herz wenden, werde nur mein Herz sprechen lassen und bin meines Erfolges sicher, so sicher, Wendula, daß ich es Dir hier, angesichts des Himmels, schwöre, feierlich schwöre, daß nur Dir mein Herz gehört, daß nur Du mein Weib wirst, daß ich Dir Treue halten werde, so lange ein Athemzug noch für mein Leben bürgt! Glaubst Du mir, Wendula?«
»Ja,« sagte sie fest.
»Und Du willst Geduld haben und nicht an mir zweifeln und mir Alles überlassen?«
»Ja, das will ich,« versicherte sie.
Er schloß sie fest in seine Arme.
»O Gott, wärst Du doch Richard's Tochter!« brach er auf einmal los, »wie viel leichter ließe sich Alles lösen!«
»Erzähle mir noch einmal von Deinem Bruder, was Du von ihm weißt,« bat sie.
Er that es. Er schilderte seines Bruders Trotz, seiner Mutter Härte so nachsichtig und mild, wie er selbst Beides ansah, er sprach von Mißverständnissen, von Charaktereigenthümlichkeiten, von strengen, nicht von ungerechten Forderungen. Seine Schilderung machte einen tiefen Eindruck auf Wendula, aber nicht zu Gunsten seiner Mutter. Seine milden Worte verhüllten zwar ihr strenges Bild, aber Wendula's Auge sah durch den Schleier hindurch, und ihr Herz wandte sich von seiner Mutter ab und schlug in Sympathie für den, der sich nicht durch goldene Sclavenketten hatte locken lassen, seine Freiheit zu verkaufen.
»Wann hast Du Deinen Bruder zum letzten Mal gesehen?« fragte sie gedankenvoll.
»Es war an meinem Geburtstage,« antwortete er, »am fünfundzwanzigsten October 18.., ich weiß es noch wie heut.«
Wendula's Herz schlug hoch auf. Der eben von Georg genannte Tag, dieselbe Jahreszahl stand von ihres Vaters Hand in seiner Bibel verzeichnet.
Sie schloß einen Augenblick die Augen, sie lehnte ihren Kopf an Georg's Brust, sie wollte nicht, daß er den Kampf, der in ihr tobte, auf ihrem Antlitz lesen sollte.
Es stimmte Alles zusammen, was Georg ihr von Richard erzählt, der Spruch in ihrer Bibel, die Verzeichnung des Tages, an dem einst der verbannte Sohn auf Nimmerwiederkehr die Heimath verlassen.
Auf Nimmerwiederkehr!
Mit einem blitzschnellen Gedanken rief sie sich ihres Vaters Bild, sein ganzes Wesen zurück. Sie dachte an sein reiches, mildes, tieffühlendes Herz, an seine ehrenfeste Gesinnung, an seine Liebe zu den Seinigen, nirgends traf sie auf einen Zug von Kaltsinn, von Leichtfertigkeit, von Härte, nirgends eine Verleugnung natürlicher Gefühle, selbst jetzt, in ihrem angsthaften Suchen nach einem Fehl an ihm, das Thun seiner Mutter zu entschuldigen, blieb er für sie das Urbild menschlicher Vollkommenheit, sprach ihr Urtheil ihn frei und warf alle Schuld auf sie, auf seine, auf Georg's Mutter, von der sie sich im Geist mit immer tieferem Widerwillen abwandte.
Aber Georg lieben und seine Mütter nicht, sein Weib sein wollen und nicht ihre Tochter, wie sollte sie diese Widersprüche vereinigen, wo war ein Ausweg aus diesem Labyrinth?
Eine Hoffnung regte sich in ihr. Gewaltsam hielt sie an derselben fest.
Ihr Vater hatte die Bibel stets bewahrt wie ein heiliges Andenken, kam sie ihm aus seiner Mutter Hause, galt der Spruch ihm, würde er sie nicht ebenso verbrannt haben wie Alles, was mit jener unglückseligen Geschichte zusammenhing?
Nein, nein, ihr Vater war jener Richard nicht, der Spruch in der Bibel hatte nichts zu bedeuten, die Uebereinstimmung des bezeichneten Tages mit jenem im Schuldbuch einer unnatürlichen Mutter schwarz unterstrichenen war ein Zufall.
Die Bibel konnte auch das Geschenk eines Freundes, oder auf irgend eine andere Art das Eigenthum ihres Vaters geworden sein, sie erklärte gar nichts!
Ach, wie unhaltbar Wendula's gewaltsame Auslegung des seltsamen Umstandes, wie in der Luft schwebend ihre Hoffnung war, bewies deutlich die niedergedrückte Miene, mit der sie ihr Haupt von Georg's Brust emporhob, bewies der verzagte Ton, mit dem sie sagte:
»Laß doch die Todten ruhen, Georg. Es könnte todbringend für die Lebenden sein, das mit ihnen gestorbene und begrabene Leid gewaltsam und wider ihren Willen an's Licht zu ziehen. Bedarf es bei Deiner Mutter,« setzte sie dann mit plötzlich erwachtem Stolz hinzu, »absonderlicher Befürwortung, bedarf es nicht vorhandener Verhältnisse oder gar der Entschuldigung, daß mein Vater kein vornehmerer Mann war, so laß mich gehen. Ich meine zwar, daß es gleich ist, ob man durch seine Arbeit Hunderte verdient oder Hunderttausende, wenigstens gleich für den Werth der Menschen, ich meine auch nicht, daß es angesehener macht, unter rauchenden Schornsteinen zu leben als unter grünen Bäumen, aber ich verstehe von den Dingen nichts, und es kann ja eben so gut wahr sein, wie all' das Häßliche und Niedrige, was mir Frau Wallner heut als natürlich und selbstverständlich dargestellt. Laß mich also, wenn's so schwer, ja vielleicht so unmöglich für mich ist, zu dem Herzen Deiner Mutter zu dringen, laß mich wenigstens nicht im Namen meines Vaters an sie herantreten. Der Gedanke an die Möglichkeit dieser Verwandtschaft schließt mein Herz eher zu als auf.«
»Ich komme mit meiner Mutter hierher,« beantwortete Georg Wendula's bittere Rede, »mein erster Gang ist zu Dir. Ich werde Dir offen sagen, wie sie mein Geständniß aufgenommen hat. Ist es unseren Wünschen nicht günstig, so wirst Du mir helfen, ihren Widerspruch zu besiegen. Um die Liebe einer alten Frau zu werben, schadet echtem Stolz nicht, es liegt keine Herabwürdigung in dem Gedanken, ihr für die Erfüllung von Wünschen schon im Voraus dankbar zu sein, weil wir wissen, daß diese Wünsche mit ihren Absichten im Widerspruch stehen. Erschlichener Sieg schändet, ehrlich erkämpfter nicht. Als ich Dir ein Bild meiner Mutter entwarf, ein treues Bild, so wie ich es vor mir sehe und liebe, fürchtete ich nicht, daß Dein Blick die Züge verschärfen und entstellen würde.«
Beschämt, besiegt von seiner sanften Rüge sank Wendula an seine Brust.
»Du bist viel, viel besser als ich,« sagte sie, »handle für mich, führe mich, ich will lieben, wen Du liebst, aber laß die Todten ruhen, laß vergessen sein, was vergangen ist. Du willst Versöhnung stiften und rührst Zwietracht auf. War mein Vater Dein Bruder, so ehre wie ich das Geheimniß, das er mit in's Grab nahm.«
Sie bat mit Thränen in den Augen, mit bebender Stimme.
»Gut denn!« sagte er, »so will ich meine Wünsche, meine Ansprüche auf nichts stützen als auf Dich.«
Sie saßen noch lange beisammen. Es war, als hätten sie einander noch nie so viel zu sagen gehabt, als hätten sie ein Leben nachzuholen oder voraus zu leben. Die Nacht war vorübergezogen über ihrem Gespräch, der Morgen dämmerte, mit Schrecken gewahrte Wendula den ersten Purpurschimmer am fernen Horizont.
»Ist's Feuer?« fragte sie betroffen.
»Nein, es ist der Morgen, der uns leuchtend anbricht,« sagte er zuversichtlich.
»Der uns trennt,« fügte sie niedergeschlagen hinzu.