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Es gibt ein altes Kinderspiel, das überall und zu allen Zeiten unter den verschiedensten Namen verbreitet ist; man wirft einen flachen Kiesel oder einen Scherben wagrecht über die Oberfläche eines Wassers, daß der Stein das Wasser nur berührend oft und oft weiter hüpft, bis er endlich untersinkt. Das nennt man hierzulande: Bräutle lösen, und man hat dafür die Deutung, daß es sinnbildlich die feine, nicht so leicht zu erhaschende, hüpfende und tänzelnde Art der Braut darstelle, die lange neckisch sich verhält, bis sie doch endlich, dem Naturgesetz folgend, vom Strom des Lebens bewältigt wird. Mag dies die entsprechende Deutung sein oder nicht, gewiß ist, daß Knaben und Mädchen mancherlei Scherz damit treiben; Bläsi, der am Weiher bei der Hanfbreche mit andern Kindern dies Spiel oft trieb, verstand es, den Stein am meisten auffliegen zu machen, und Cyprians Erdmute, die die Kinder ihm als Braut zugeteilt, mußte oft hören, daß sie lange tanzen müsse. In der That behandelte Bläsi sein Geschwisterkind mit brüderlicher Aufmerksamkeit und hatte nichts dagegen, wenn man sie seine Braut nannte.
Jetzt, da die Väter so feindselig geworden, war das anders.
Es ist eine seltsame, aber vielfach bewährte Erfahrung, daß die Kinder verfeindeter Verwandter den Familienzwist in eigentümlicher Weise aufnehmen und leicht auf die Spielplätze übertragen. Der kleinen zehnjährigen Erdmute, die ein derbes braunes Kind mit den dunklen Augen des Vaters war, hatte man das Haus des Ohms Gottfried strenge verboten, sie durfte es nicht mehr betreten und niemand aus demselben grüßen, ja, sie hörte Tag und Nacht die häßlichsten Worte über den Oheim und wußte nicht anders, als er wolle ihren Vater an den Galgen bringe
Eine ältere Magd im Hause, die noch bei der verstorbenen Mutter gedient hatte, Traudle (Gertraude) genannt, suchte ihr zu erklären, was eigentlich vorging; aber das Kind begriff natürlich nur die Feindseligkeit im allgemeinen und liebte über alles seinen Vater, der jederzeit so gut und liebreich war, und jetzt war noch dazu, ohne daß Erdmute den Zeitpunkt merkte, auch die Mutter mild und sanft gegen sie, sie kleidete sie immer besonders sauber an und hieß sie manchmal: »liebs Erdele.«
Wenn Erdmute an dem Hause des Oheims vorüberging, schaute sie zur Erde und schüttelte zornig mit dem Kopfe, als wollte sie damit sagen: ich grüße euch doch nicht. Stundenlang saß sie mit ihrem Strickzeug auf der Steinbank vor dem Hause und schaute nur manchmal hinab nach dem Hause des Oheims, und dann stieß sie mit der Faust vor sich hin und verzog das Gesicht zu eigentümlichem Trotz, und ihr ganzes Wesen sprach: warum seid ihr so bös? Das ganze Haus erschien ihr so stachelig, starr und finster wie die Eisengitter vor den Fenstern, die auch so trotzig auf die Straße schauten. Des Nachbars Klaus, ein lahmer Knabe, der an Krücken ging, saß oft bei Erdmute und wußte ihr viel zu erzählen, wie tückisch der Bläsi sei, denn so klein der Klaus war, gab ihm doch seine Eifersucht auf Bläsi manchen großen Gedanken ein.
Bläsi ging an Erdmute vorüber, als ob sie nicht da wäre. Er hatte ihr einmal heimlich Kirschen geschenkt, sie aber warf sie auf die Straße, daß die Gänse sie aufschnabelten. Bei den Spielen zog sich Bläsi oder Erdmute alsbald zurück, wenn eines sah, das das andre unter den Teilnehmenden war. Den Cyprian haßte Bläsi so sehr, daß er einmal wochenlang einen Stein bei sich trug, um ihn dem Cyprian an den Kopf zu werfen, wenn er ihn schlagen wolle.
So war der Familienzwist bis tief in die Kinder gedrungen.
Mit den abfallenden Blättern kam auch ein großer Stempelbogen ins Dorf, der das letzte Erkenntnis in dem Rechtsstreite zwischen Cyprian und Gottfried brachte: es lautete zu Gunsten des letzteren. Die Versteigerung wurde nun anberaumt, aber die Hollmaringer sind stolze, wohlhäbige Bauern, sie lassen es nicht leicht dazu kommen, daß sich ein Fremder durch Güterankauf bei ihnen ansäßig mache, sie sind froh, wenn einmal ein Acker bei ihnen käuflich wird, um das eigene Gut zu vergrößern oder ein Kind dadurch im Ort zu behalten. Es fehlt daher in Hollmaringen meist an fremden Käufern, und die Helfershelfer, die Cyprian aufgestellt hatte, brachten nur wenig zu stande; man ließ ihnen einige Güter zuschlagen, vollkommen sicher, daß sie sie bald wieder verkaufen müßten. Das Haus und den größten Teil der Güter erwarb Gottfried unter dem Namen eines Scheinkäufers, und Cyprian war aufs neue ergrimmt, als er dies merkte. Obgleich er die Sitte des Dorfes kannte und dabei einen erklecklichen Kaufpreis erzielte, glaubte er sich doch übervorteilt, und bei dem Weine, der damals noch während der Güterversteigerung getrunken wurde, machte er seinem Groll auf das ganze Dorf und vor allem auf Gottfried Luft. Man ließ ihn schimpfen, wie er wollte, er war nicht mehr ebenbürtig, und man verzieh ihm leicht seinen Unmut darüber. Ein namhafter Teil des Kaufschillings blieb als unantastbare Hypothek zur Sicherung des Muttergutes für Erdmute stehen. Um den nicht aus der Fassung zu bringenden Gottfried zu kränken, kündigte Cyprian an, daß er tags darauf mit dem Hausrat auch einen vollständigen Hochzeitsanzug, und zwar den seiner verstorbenen Frau, verkaufe. Alles sah auf Gottfried, und nur die gedungenen Steigerer Cyprians tranken noch von seinem Weine, alle andern gingen still ohne den üblichen Johannistrunk davon.
Am andern Tag, bei der Versteigerung des Hausrats, war Gottfried fast das einzige Mannsbild unter den versammelten Frauen, und erst gegen das Ende wurde in der That der Ehrenschmuck der Verstorbenen zum Ausgebot gebracht. Man sah und hörte Gottfried nicht an, was in ihm vorging, als er ein Stück des Gewandes nach dem andern zu hohem Preise erwarb. Er machte sein Anbot immer mit gleicher ruhiger Stimme. Es war noch ein Gewand aus der ehrenfesten Bauernzeit, das sich schon auf das zweite Geschlecht vererbt hatte. Der kleine runde Strohhut mit gewässerten schwarzen Knüpfbändern mit roten Wollrosen verziert, die roten Zopfbänder, die schwarzsamtne, auf dem Rücken weit ausgeschnittene Jacke, der sogenannte Schoben, das Scharlachmieder mit den silbernen Nesteln und Kettchen, der aus Silberdraht und Felbelschnüren gedrehte Gürtel, ein besonderer, nur an Ehrentagen getragener Schmuck, der blaue faltige Rock mit den verschiedenfarbigen Einfassungen, die feine weiße Schürze, die roten Strümpfe und Stöckleschuhe, alles das erwarb Gottfried eines nach dem andern und legte es wieder mit Andacht in die kenntlichen Falten, da es der Ausrufer auseinandergerissen hatte. Er sprach kein übriges Wort und nur den jedesmaligen Kaufpreis. Als aber jetzt wieder ein Stück Hausrat an die Reihe kam, gebot er Stille und fragte den Ausrufer:
»Ist die siebenfache Granatenschnur mit dem Schwedendukaten nicht auch dabei?«
»Den Halsschmuck hab' ich,« lachte Cyprian, »ich hab' mir ihn durch die Gurgel laufen lassen.«
Gottfried knüpfte still das Erstandene in ein weißes Tuch und ging damit fort.
Vor dem Hause traf er die kleine Erdmute, sie saß auf der Steinbank und weinte.
»Was ist? Hat dir jemand was than?« fragte er, die Hand auf das Haupt des Kindes legend; das Kind antwortete nicht, und er fuhr fort:
»Kann mir's denken, daß dir in dem Durcheinander bang ist; es sieht sich niemand nach dir um. Hast du denn was zu Mittag gegessen?« Das Kind nickte bejahend, und abermals sagte Gottfried:
»Möcht' dir gern noch anders helfen, aber ich kann nicht. Sei nur geduldig und folgsam und halt dich brav, und wenn du groß bist und so brav wie dein' Mutter selig, schau, da drin ist ihr schönstes Gewand, aber brav mußt du sein, und denk, du hast noch einen Abnehmer in der Welt, du verstehst das jetzt noch nicht, aber du wirst's schon kennen lernen. Jetzt heul nicht mehr und laß dir's nicht verbieten, und komm auch noch zu mir, eh du fortgehst. Jetzt heul nicht mehr.«
Gottfried ermahnte das Kind zur Fassung, und ihm selber quollen trotz aller Gegenwehr Thränen aus den Augen, und er trocknete sie mit einem Zipfel der Schürze ab, die aus dem Bündel hervorhing; das Ehrengewand der Seligen saugte seine Thränen auf. Er gewann schnell wieder seinen Halt, denn Traudle kam aus dem Garten herbei, sie gab Erdmute mehrere Zwetschgen, und hier bewährte sich wieder, daß Zukunftsversprechungen bei einem Kinde nichts verschlagen, die gegenwärtigen Zwetschgen wirkten mehr als der versprochene Ehrenschmuck vom Oheim. Erdmute war heiter, und Gottfried sagte Traudle, daß sie jedes Jahr ein Weihnachtsgeschenk von ihm zu erhalten habe, solange sie bei Cyprian bleibe und auf das Kind acht habe. Traudle versprach es, schon um der Verstorbenen willen.
»Ich habe mein Kind meiner Schwester in Lichtenhardt geben müssen,« setzte sie hinzu, »ich will die Erdmute für das meinige ansehen.«
Traudle war eigentlich die Schwägerin Cyprians zu nennen, denn sie war mit ihrem Kinde die Hinterlassene seines Bruders. Dieser, ein weit bekannter, übermütiger Geselle, war bei einer Hochzeit in Isenburg ertrunken. Der Wirt hatte vier überzählige Gläser Glühwein an einen Tisch gebracht, da rief der Bruder Cyprians: »Nur her, sie sind alle mein,« und als er heimwärts ging, verfehlte er den Weg und ertrank. Als die Schwester Gottfrieds heiratete, nahm sie Traudle zu sich ins Haus, und so war sie in demselben verblieben und hatte sogar über Cyprian eine gewisse Gewalt.
Cyprian verbot es streng, daß Erdmute noch im Hause des Oheims Ade sagte, er hatte nichts mehr, womit er Gottfried kränken konnte, als dieses, und er wollte es ausnutzen. Gottfried hatte ihm die Freude des Umzuges durch den Rechtsstreit und durch die Verluste verdorben, er zwang sich nun zu übertriebener Lustigkeit beim Abschied. Als er aber am Hause Gottfrieds vorüberfuhr und auf der Fensterstange vor den Eisengittern den Ehrenschmuck hängen sah, den man lüftete, wurde er plötzlich still und schaute nach den Kindern, die hinter ihm saßen, unter ihnen Erdmute.