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Zwanzigstes Kapitel.

In der Post lebte Fränz mit ihrer Mutter still und einsam. Frühmorgens gingen sie täglich nach der Kirche, wo die Mutter immer so zerknirscht betete, dann ging es jedesmal hinaus nach dem Gefängnis, um von dem alten Kübler zu erfahren, wie sich der Vater befinde; er gab in der Regel einförmig guten Bescheid, nahm bisweilen auch Geschenke an, ließ sich aber nicht herbei, Diethelm irgend eine Nachricht zu bringen, und so waren Mutter und Tochter von ihm wie durch Meere geschieden. Von dem einzigen Ausgange abgesehen, lebten sie selber wie in Gefangenschaft, die Mutter saß in der Mitte der Stube und spann, obgleich sie immer klagte, daß ihre Spinnfinger wie abgestorben seien. Sie hatte nicht Lust, bei der Arbeit manchmal hinauszusehen nach den Vorübergehenden, sie kannte niemand und wollte niemand kennen, und oft, wenn sie eine volle Spindel abstellte, klagte sie über die schöne Aussteuer der Fränz und über die Tausende von selbstgesponnenen Spindeln, die da mit verbrannt seien. Fränz saß am Fenster und stickte für den Vater sehr bunte Pantoffeln, sie hatte das in der Hauptstadt trefflich gelernt; oft schaute sie aber auch hinaus auf die Straße und machte allerlei Bemerkungen über die Vorübergehenden. Die Mutter verwies ihr das immer mit steter Wiederholung:

»Wir haben gar nichts zu spötteln über andere Menschen, wir müssen froh sein, wenn man nicht mit Fingern auf uns weist.« Nun verschwieg Fränz meistens ihre Bemerkungen, sie hatte, wie sie glaubte, die unsäglichste Geduld mit ihrer Mutter, die gar keine Zerstreuung wollte und so gewiß als das Tischgebet jedesmal, wenn man sich zum Essen setzte, sagte:

»Ach Gott, jetzt muß der Vater allein essen, ich weiß, daß ihm kein Bissen schmeckt, er hat nie was allein essen mögen, ohne dabei zu reden, und wenn er heim kommen ist und ich ihm Essen hingestellt hab', hab' ich mich immer zu ihm setzen müssen, und beim Tisch hab' ich nie aufstehen dürfen, und wenn was gefehlt hat, hat er immer gesagt: lieber kein Salz auf dem Tisch, als daß du mir fehlst. Ach Gott! Wir haben doch so gut mit einander gelebt, und wenn's auch manchmal ein bißle uneben gangen ist, es gibt doch kein' bessere Ehe auf der Welt, und alle Adern hätt' sich eins fürs andere aufschneiden lassen.«

Fränz hörte das immer geduldig an, und ermahnte nur die Mutter, das Essen nicht kalt werden zu lassen.

Fränz trauerte auch aufrichtig um das Schicksal des Vaters, aber sie konnte diese immerwährende Trauer nicht aushalten und sehnte sich nach Zerstreuung, sie wollte von keinem Zweifel mehr wissen, daß dem Vater etwas geschehen könne, und sprach oft davon, daß sie gar nicht mehr in das Dorf zurückkehren wollten; wenn der Vater frei sei, müsse er mit ihnen in der Stadt bleiben. Martha wollte nichts davon hören, und Fränz suchte ihr alle Schauer zu erregen, die man erleben müsse, wenn man in einem Hause wohne, wo früher ein Mensch verbrannt sei.

»Wo nur der Paßauf hin ist?« fragte Martha ablenkend, und Fränz erwiderte:

»Ihr könnet Euch darauf verlassen, der ist mit dem alten Schäferle, wie er zum Verhör in der Stadt gewesen ist.«

»Hast du den Munde in der Hauptstadt nicht gesehen?« fragte die Mutter wieder.

»Freilich,« erzählte Fränz, »er ist, wenn er nicht auf die Wacht gemußt hat, jeden Tag und jeden Tag in den Rautenkranz kommen, er thut noch immer so narret mit mir.«

Martha erzählte nun, daß der Vater ihr den Munde zum Mann bestimmt habe, aber Fränz wehrte sich dagegen, daß sie das »Opferlamm« sein solle; wenn sie einen Mann nehme, so nehme sie ihn für sich und für niemand anders. Sie ließ sich nicht dazu herbei, zu erklären, was sie mit dem Opferlamm gemeint habe, sie behauptete, das sei nur Redensart, in ihr aber erwachte wieder der Gedanke, den sie auf der ganzen Herreise gehabt, daß ihr Vater doch schuldig sei und daß es nur gelte, sich hinaus zu reden. An jenem letzten Tage in der Stadt hatte die Eröffnung Mundes, obgleich er sie so klug zu verhüllen trachtete, einen gewaltigen Eindruck auf Fränz gemacht. Sie kannte durch ihre öftere Begleitung die Verhältnisse des Vaters besser als irgend jemand, sie wußte, daß er tief in Verlegenheiten steckte, auch klagte ihr der Vater öfters; sie gedachte während der Fahrt jenes Augenblickes, da der Vater auf dem Markte niedergefallen war, als ihm der Kaufmann Gäbler sagte, daß er mit der Feuerschau käme, sie hatte den Vater dann auf der kalten Herberge beobachtet, wie er mehrmals die Farbe wechselte und dann wie besessen davon jagte, und jetzt war es ihr deutlich, warum der Vater so klagend davon sprach, daß er Armut nicht überleben würde, als die Deichsel gebrochen war; und als der Vater sie zum letztenmal in der Hauptstadt besucht, war er wieder voll Jammer und Klage gewesen. Darum glaubte Fränz schon auf dem Wege an die Schuld des Vaters, und als sie nachträglich erfuhr, daß er ihr den Munde zum Manne bestimmt hatte, kam kein Zweifel mehr auf. An einen vom Vater begangenen Mord dachte sie nicht, wohl aber, daß er mit Medard gemeinsam Feuer angelegt und daß Medard dabei verunglückt war.

Von allen Menschen auf Erden hatte Diethelms einziges Kind allein eine gegründete Ueberzeugung von dessen Schuld und erklärte sich ihren Zusammenhang, und Fränz allein war als durchaus unbeteiligt nie verhört worden.

Auf jener Nacht und Tag währenden Heimfahrt war eine große Wandlung mit Fränz vorgegangen, sie sah sich schon verstoßen und verhöhnt von aller Welt und war tief traurig und voll Demut gegen jedermann und empfing darum überall eine Behandlung voll Teilnahme und Rücksicht, die sie wieder mild stimmte. Als sie die Mutter sah, warf sie sich ihr mit Inbrunst entgegen, das war das einzige Herz auf der Welt, das sie nicht von sich stieß, und die in Trotz und Rechthaberei verhüllte Kindesliebe brach gleichzeitig mit der demütigen Milde gegen alle Menschen auf, zwei Lilien gleich, in einer Wetternacht aufgebrochen.

Als sie nun aber hörte, daß der Vater für unschuldig galt, und daß es nur darauf ankam, diese Geltung aufrecht zu erhalten, verwelkten die in Schmerz erblühten Blumenkelche wieder. Wer weiß, in Schmach und Not wäre Fränz vielleicht eine Heldin an Duldung geworden; jetzt war sie wieder in der Welt voll Lug und Trug, wo alles darauf ankam, sich in seiner Rolle zu behaupten, und Fränz wurde wieder die hoffärtige, alle Welt verhöhnende Tochter Diethelms; nur eine gewisse Umflorung, die aus dem Kummer um das noch nicht entschiedene Schicksal des Vaters entsprang, dazu eine Nachwirkung von jener immer mehr verklingenden Trauerstimmung, verhinderte, daß nicht mit einem Wort der leibhafte Nückel wieder da war.

Fränz ertrug den Schmerz um die sich in die Länge ziehende Gefangenschaft des Vaters leichter als die Mutter, weil sie ihn für schuldig hielt; von einem Morde an Medard ahnte sie nichts, und für einen Brandstifter gehalten worden zu sein, dachte sie, ist am Ende keine Schande, wenn man nur freigesprochen ist.

Seit mehreren Tagen hatte Fränz jedesmal um Mittag gesagt: »Jetzt ist halb eins,« und wenn die Mutter fragte: »Warum?« antwortete sie lächelnd: »Weil der Amtsverweser da über den Markt herkommt, er ist ein saubers Bürschle, er speist unten an der Tafel.« Die Mutter ermahnte sie, vom Fenster wegzugehen, sie müsse sich ja schämen, wenn er sie sähe; Fränz aber behauptete, daß das gar nicht der Fall sei, und bald bemerkte der Amtsverweser, welche Augen nach ihm ausschauten, und es entstand ein regelmäßiges und immer entschiedeneres Grüßen herauf und herab am Mittag. Die Mutter ward auch bald neugierig, den Mann zu sehen, den sie seit jenem schrecklichen Abend nicht mehr erblickt hatte, und von da an hatte Fränz gewonnen Spiel; sie ließ nicht ab und hatte dabei willfährige Hilfe an der Frau Postmeisterin, bis die Mutter sich entschloß, mit ihr an der Tafel zu speisen. Martha gab endlich nach, besonders als ihr Fränz immer eindringlicher vorhielt, wie gut das für den Vater wäre, wenn man mit dem Amtsverweser bekannt sei, und wie man auch gesprächlich manches von ihm erfahren könne über den Stand der Untersuchung. Das leuchtete ein. Anfangs stand Martha oft viele Tage mit trockenem Munde auf, sie konnte keinen Bissen hinabbringen, wenn sie den »Herrn« ansah, der ihr so schweres Herzeleid angethan und der ihren Mann auf zeitlebens ins Zuchthaus bringen konnte. Es war ihr immer, als säße sie mit einem Henker am Tisch, und sie begriff gar nicht, wie er so ruhig Speise und Trank zum Mund führte, während er auf die Fragen seiner Tischnachbarn erzählte, daß heute der und jener eingebracht oder daß dieser und jener ins Zuchthaus abgeführt worden sei. Martha sah dann oft nach seinen Händen, ob die nicht vom Blute rauchten. Nach solchen Tagen hatte Fränz immer einen schweren Stand, denn die Mutter wollte durchaus nicht mehr an die öffentliche Tafel. Nun aber hieß es, das könnte dem Vater schaden, wenn man jetzt zeige, daß man sich schäme, die Mutter verstand sich mit schwerem Herzen dazu, und Fränz hatte oft aufrichtiges Mitleid mit ihr, wenn ihr der Gang zu Tisch so peinvoll wurde; aber sie beredete sich, es sei nötig, daß sich die Mutter wieder an die Menschen gewöhne, und sie vermochte die Postmeisterin, sich mit an den Tisch zu setzen und die Mutter beständig im Gespräch zu erhalten. Der Amtsverweser lehnte auch fortan jede bezügliche Frage seiner Nachbarn ab, und man war fast heiter. Die Mutter lebte sichtlich wieder auf. Fränz war in der Wohnstube der Postmeisterin bald mit dem Amtsverweser bekannt geworden, und dieser teilte ihr freiwillig, aber unter dem Siegel der Verschwiegenheit, frohe Kunde über den Vater mit. Martha fand ihn nun gar nicht mehr henkergleich, sondern grundmäßig gut, man sähe es ihm ja an den Augen an; sie segnete ihm jeden Bissen und jeden Trunk, den er zum Mund führte. Von nun an kam der Amtsverweser jeden Tag später als gewöhnlich in die Kanzlei, denn er trank seinen Kaffee und rauchte seine Cigarre in der Wohnstube der Postmeisterin und unterhielt sich eifrig mit Fränz, die redegewandt und schelmisch war und der die verhüllende Trauer noch einen besonderen Reiz verlieh. Dennoch kam es nicht weiter als zu einer gewissen gefallsamen Annäherung zwischen Fränz und dem Amtsverweser, denn beide hüteten sich in Betracht der Umstände vor jeder ausgesprochenen Zuneigung. Was Wunder, daß unter solchen Verhältnissen die Untersuchung gegen Diethelm nur mangelhaft geführt wurde, zumal keine rechten Beweise vorlagen. Der Verweis, den der Amtsverweser darob von dem neubestallten Richter erhielt, nützte nicht mehr viel, und der Richter versuchte nun selbst, den rechten Haken zu finden.

In der Wohnstube der Postmeisterin war große Trauer, als der Amtsverweser seine Versetzung nach einem vielbesuchten Badeort ankündigte. Als er bald Abschied nahm, reichte ihm Fränz mit einem vielsagenden Blick die Hand; der Amtsverweser bot nun auch Martha die Abschiedshand, sie reichte sie und spürte dabei mächtig ein Jucken in der Hand, über das sie seit Wochen schon oft geklagt hatte.

Fränz war nun selbst damit einverstanden, daß man von der Gasttafel wegblieb, sie war ungewöhnlich viel still und sinnend; sie sang oft still vor sich hin und unterbrach sich dann plötzlich, wenn sie dachte, in welcher Lage sie war. Die Mutter ermahnte sie nun selbst oft, zur Wirtin hinabzugehen, während sie einsam spann.

Eines Tages kam Fränz atemlos in das Zimmer gestürzt.

»Mutter,« schrie sie, »Mutter, er ist da!«

»Wer? Um Gottes willen, der Vater?«

»Ja, der Vater,« keuchte Fränz und wollte sich eben wieder umwenden, um dem Kommenden entgegen zu gehen, als die Mutter mit einem Schrei vom Stuhl auf den Boden fiel. Sie beugte sich über sie, als Diethelm eintrat, und kaum hatte er mit seiner klangvollen Stimme die Worte gesprochen: »Was ist der Mutter?« als die Ohnmächtige die Augen aufschlug und in ein krampfhaftes Weinen und Lachen ausbrach, daß Diethelm mit zitternden Händen dastand und gar nicht wußte, was er thun sollte; er fuhr seiner Frau mit der Hand über das Gesicht, und sie faßte seine Hand und hielt sie fest an den Mund und konnte noch immer nicht sprechen.

»Martha, ich bin frei,« sagte Diethelm, sie aufrichtend, »nimm dich zusammen und sei froh. Es ist ja alles wieder gut.«

Martha hielt immer noch seine Hand fest, und das erste Wort. das sie sprach, war:

»Alles, was ich auf dem Leib trage, schenke ich einer armen Frau, und meinen Mantel auch, und ich will Gutes thun an der ganzen Welt. Komm, Diethelm, komm, weißt, was wir thun wollen? Wir wollen jetzt gleich in die Kirch' gehen, komm, Fränz, komm.«

»Du bist jetzt so schwach, laß es auf ein andermal.«

»Nein, nein, jetzt gleich, ich bin nicht schwach, es hat mich nur so angewandelt. Ich bitt' dich, folg' mir jetzt, ich will dir auch in allem folgen, was du willst.«

Diethelm mußte willfahren und mit seiner Frau in die Kirche gehen. Es schauerte ihn und durchfuhr ihn eiskalt, als er in die hohe Halle eintrat; er warf sich mit seiner Frau vor dem Altar nieder und bat Gott, ihn auf dieser Welt um seiner Frau und seines Kindes willen zu verschonen.

Als sie aus der Kirche traten, wo sich viel Menschen versammelt hatten, schenkte Martha sogleich einer armen alten Frau ihren Mantel und gab nicht nach, daß sie den Mantel nur noch bis zur Post behalten möge. Diese Schenkung, sowie der auffallende Kirchgang überhaupt, verbreitete sich schnell und Diethelm hörte schon auf seinem Heimweg davon reden; viele Menschen, die er starr ansah, zogen den Hut vor ihm ab, und er sah, daß er neue Ehre gewonnen habe, er war entschlossen, sie zu behaupten.

Als sie aus der Kirche zurückgekehrt waren und die Glückwünschenden sich entfernt hatten, saß Diethelm lange am Tisch, auf den er die Arme gestemmt und den Kopf in die Hände gedrückt hatte, und als ihn Martha bei der Hand faßte, schaute er zu ihr auf, und große Thränen rollten über seine Backen. Zum erstenmal in ihrem Leben sah Martha ihren Diethelm weinen, sie schrie laut auf, er aber beruhigte sie, und es war die volle Wahrheit, als er ihr sagte, daß diese Thränen ihn erfrischt und ihm hellen Mut gegeben hätten.

Martha drängte, daß man noch heute heim nach Buchenberg zurückkehre; Diethelm sah sie traurig an, da sie vom Heimkehren sprach, wo waren sie daheim? Er fragte nach seinen Rappen, und als er hörte, daß sie in Buchenberg stünden, blieb er fest dabei, erst morgen abzureisen; er schickte sogleich einen Boten nach seinen Pferden, das war das einzige, was ihm lebendig von seiner früheren Habe verblieben war, und mit ihnen wollte er stolz in Buchenberg einziehen.


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