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Wer hätte als Kind nicht an seinem Vornamen gelitten, ihn hundertmal sich vor- und eingesprochen, Forderungen an ihn gestellt, ihn mit berühmten Mustern verglichen, ihm zugejubelt oder ihn ungenügend befunden? Wer hätte als Knabe und Jüngling nicht hundertmal in sanftem, kühnem, steilem oder lässigem Bogen mit Schnörkel und seltsam verschlungenem Strich seinen Namen vor sich hingeschrieben, sich mit ihm gestritten und ausgesöhnt, sich ihn eingeprägt und mit ihm abgesondert von den Geschwistern, von der Familie, als Ich, als Ich selbst, als eigenster Besitzer und Mitgiftträger für Zeit und Ewigkeit?
Frühere Zeiten pflegten dem heranwachsenden Novizen den leiblichen Vornamen nebst seinem Ich abzunehmen und ihm dafür den Namen einer Maske, ein fremdes, höheres, kanonisiertes Ich als Vorbild einzuokulieren. Wir Heutigen aber: müssen wir uns mit dem natürlichen Ich nicht abfinden? Ist dieses uns verbleibende leibliche Ich nicht ein steter Quell der Verfänglichkeit und des Verfangenseins in den Zufall und in die eigene Natur? Und wenn übermächtige Gaben der Eltern uns aufsaugen und entselbsten wollen, wenn eine wohl- oder schlechtbeschaffene Erziehung unseren Eigenwillen brechen, uns kleinkriegen will –: ist dieser Vorname nicht eine Zuflucht? Enthält er nicht unser besonderes Recht auf eigenes, neues, von vorn beginnendes Leben und Wirken?
Unversehens habe ich von den Großvätern erzählt; es ist an der Zeit, daß ich zu den Eltern übergehe. Ich sagte schon, daß beide nicht geborene Schwaben waren. An Calw band sie nur ihre Tätigkeit. Schon der alte Gundert hatte seine Berufung dorthin als ein Schicksal betrachtet, ängstlich wegen der Nebel des von hohen Tannenwäldern umgebenen, im Winter nach dem indischen Klima recht rauhen Städtchens. Die Schwarzwälder Heidelbeeren halfen ihm dann seine von den Tropen mit nach Haus gebrachte Ruhr kurieren. Immerhin war Gundert ein echtes Stuttgarter Schwabenkind, das sich in der Heimat, unter alten Studiengenossen bald wieder zurechtzufinden vermochte. Anders stand es um die Eltern des Dichters. Sie mußten sich erst assimilieren. Das indische Gepräge der Gunderts, die »wie die Zigeuner aussehend« aus Malabar zurückgekommen waren, und das baltische, adelige Wesen des Vaters Hesse, der sich in eine mitunter recht ungenierte, wohl auch verständnislose Umgebung versetzt sah –, all dies separierte die Familie, hob sie von der schwäbischen Allzu-Natürlichkeit ab, brachte ihr das Anderssein nicht immer in der annehmlichsten Weise zu Bewußtsein.
Auch in theologischen Stücken, nicht nur in der Lebensart, gab es trennende Unterschiede. Man bekannte sich innig zur Gnade und zur Gefühlsfrömmigkeit; aber es gab doch gelegentlich Differenzen, mit der Orthodoxie sowohl wie mit den Schwärmern. Es war ein weitgereister, erfahrener, ein durch die Laugen der modernen Kritik und des Seewassers gegangener Glaube, dem man anhing. Man wußte, daß sich die Christen von Milet und Tyrus gar nichts daraus gemacht hatten, auf dem Ufersand niederzuknien und zu beten. Man wußte aber auch, daß vom Pietismus im engeren, historischen Sinn unsereinen etwas trennen muß. »So trennt mich«, schrieb der alte Gundert, »auch etwas von Luther, von Augustin usw. Denn ich würde Wechselbälge nicht in die Elbe werfen heißen, noch könnte ich mich an den milanischen Märtyrer-Reliquien erbauen. Ebenso ist mir auch das Hallesche Wesen etwas zu kurz geraten, und Methodismus, Darbysmus, und wie die neueren Formen alle heißen, sprechen mich nicht als den Ihrigen an.«
Hesses Eltern ordnen sich in der ersten Zeit ihres Calwer Aufenthaltes dem berühmten Großvater in allen Stücken und besonders in Glaubenssachen unter. Die Mutter des Dichters spricht in ihren Tagebüchern bei weitem mehr von ihrem überaus verehrten und geliebten Vater als von Jonny, ihrem Gatten. Als dieser in den Arbeiten für ein Kirchenlexikon völlig aufgeht, konstatiert sie nur ihre Befriedigung, daß Johannes, der demütige Gehilfe ihres Vaters, das kann. In ihren eigenen literarischen Arbeiten empfindet sie sich ebenso als geistige Tochter ihres Vaters, wie sie den Gatten als dessen geistigen Sohn empfinden mag.
Auch Johannes Hesse und seine Frau gehörten, wenn auch nur für kurze Zeit, zum indischen Kreuzzugsfähnlein der Basler Mission. Noch ist der Brief erhalten, mit dem Johannes Hesse sich bewerbend an das Basler Komitee wandte. »Ich heiße Johannes Hesse, bin achtzehn Jahre alt und Primaner der Ritter- und Domschule in Reval. Vor zwei Jahren entschloß ich mich zum Studium der Theologie, weil ich in dieser Wissenschaft die beste Lösung für Kopf und Herz, die beste und nützlichste Art des Lebensberufes zu finden glaubte. Allmählich aber bekam ich eine Sehnsucht danach, dem Herrn auch praktisch zu dienen; ihm, dessen Dienst- und Lehensmann ich bin, nun auch mit dem Heerbann zu folgen.« Es ist ein verspäteter Ordensritter, der hier wirbt; und er sieht sich nach einer Gemeinschaft um, nicht weil sein Ich zu schwach, sondern weil es ihm »längst zu stark geworden« ist. Er sehnt sich nach einem großen, heiligen Zweck, in dessen Dienst sein Einzelleben untergehen könne; denn »bis jetzt war ich mir Selbstzweck gewesen«. Man beachte wohl: so schreibt ein Achtzehnjähriger! Er schreibt, als stünde er bereits vor seinem Lebensende. Er schreibt wie ein bejahrter Mann mit jenem vorwegnehmenden Wissen, das auch in den Erstlingsbüchern seines Sohnes mitunter überrascht.
Am Missionshaus bleibt Johannes Hesse vier Jahre, erst als Zögling, dann als Privatsekretär des Direktors Josenhans, dessen Lebensbild er später geschrieben hat. Dem indischen Klima aber vermag er nur drei Jahre standzuhalten. Kopf- und dysenterieleidend kehrt er 1873 in die russische Heimat zurück; Josenhans beordert ihn indessen als Helfer zu Dr. Gundert nach Calw, wo er elf Jahre lang das Basler Missionsmagazin redigiert. Das Haus des Indologen wird ihm bald zur zweiten Heimat. Dort findet er 1874 auch seine Lebensgefährtin, die ihm als verwitwete Isenberg zwei bereits erwachsene Söhne mit in die Ehe bringt. Anfänglich wohnte man am Marktplatz in altertümlicher Umgebung (in diesem Hause ist der Dichter geboren), dann in einem Schullokal, zuletzt im Hause des von Pearsall Smith und seinem Kreise gegründeten »Verlagsvereins«.
Unterbrochen wurde die Calwer Zeit durch einen fünfjährigen Aufenthalt in Basel. Vom dritten bis zu seinem neunten Lebensjahr hat Hermann Hesse seine Kindheit in der Schweiz, nicht im Schwabenlande verbracht. Der Vater gab Unterricht am Missionshaus, eine Tätigkeit, die mit mancherlei Darben und Bitternis verbunden war. In Basel wurde der »Heimatlose«, der bisher auf einen russischen Paß gereist war, auch Schweizer Bürger. Erst 1886 trat er, als Gunderts rechte Hand, in den Dienst des Calwer Verlagsvereins, um nach Gunderts Tod 1893 dessen Amt und sehr umfängliche Tätigkeit völlig zu übernehmen und abzuschließen.
Der Dichter hat seine Vaterstadt mit ihren Fachwerkhäusern und ihrem schön rauschenden Flusse, mit ihren Kelterfesten und Mädchenzöpfen, mit ihren Forellenbächen und Blumensträußen so oft und liebevoll geschildert, daß mir in diesem Punkte nicht viel zu tun übrig bleibt. In »Schön ist die Jugend« und »Unterm Rad«, in »Knulp« und in den »Märchen« –, immer wieder ist Calw der Gegenstand einer Kleinkunst, die an zierliche Kostümbögen und alte Stiche erinnert. Er konnte sich kaum genug tun, sein Städtchen zu preisen, und machte fast eine moralische Sache und einen Kult daraus.
Es gibt ein wenig bekanntes Buch des Dichters, das noch vor »Camenzind« erschienen ist; darin steht ein kurzes Impromptu, »Gespräch mit dem Stummen«, das eine scheue, ja eifersüchtige Liebe zeigt. »Was weißt du«, so heißt es da, »wenn ich sage: meine Mutter? Du siehst dabei nicht ihre schwarzen Haare und ihr braunes Auge. Was denkst du, wenn ich dir sage: die Glockenwiese? Du hörst dabei nicht das Windrauschen in den Kastanienkronen, und spürst nicht den Duft der Syringenhecke, und siehst nicht die blaue Fläche der Wiese, die ganz mit den schwanken Glockenhäuptern der blauen Campanula bedeckt ist. Und wenn ich dir den Namen meiner Vaterstadt sage, dessen Laut mir schon das Blut bewegt, so siehst du nicht die Türme und den herrlich überbrückten Strom, und siehst nicht den Hintergrund der Schneeberge und hörst nicht die Volkslieder unserer Mundart, und hast nicht selber Lust und Heimweh dabei.«
Was der Dichter nicht erwähnt, ist die geistige Atmosphäre; man findet sie erst später. Mag sein, daß mancher Widerspruch, der den Jüngling vom Vaterhaus löste, erst heilen und vernarben mußte; daß ihn die dürftige Enge der ersten Kinderjahre oft allzusehr gedrückt; daß er als Knabe der Amseln und der Veilchen dringender bedurfte als der Studierstube des Vaters. Gelegentlich tauchen auch in den früheren Büchern Reminiszenzen auf, doch ist es dann stets, als werde die Hauptsache umgangen und vermieden; als liebe der Dichter die Peripherie seiner Herkunft mehr als den Kern und die fatalerweise von aller Welt belächelte pietistische Sphäre. In »Camenzind« und »Unterm Rad« und noch in »Knulp« und in »Demian« sind es Handwerksmeister, die zur Brüdergemeinde gehören und ihrer eigenen evangelischen Weisheit folgen; die dem Stadtpfarrer nicht gewogen sind, sondern ihn mit tiefem Mißtrauen als einen »Großkopfeten« betrachten; Typen, von denen auch Heinrich Mann als von einem Bildungsingredienz zu berichten weiß. Nur daß sie bei Hesse als ein Stück Volkspoesie mit weit mehr herzlicher Liebe, mit innigerem Anteil geschildert sind.
Was Hesse so lange verschwieg und was ihn darum wohl zumeist von den Calwer Eindrücken beschäftigt hat, das ist das kleinstädtische Pietisten- und doch auch weltweite Brahmanen-Milieu, dem er entstammt und das deshalb hier um so ausführlicher genannt werden mag; enthält es doch die Wurzel seiner geistigen Existenz und seines ästhetischen Gewissens, seiner Lebensart und seiner bedeutsamsten Konflikte. In dieser Welt wurde der Sinn geschärft, der ihn die Natur so zart erfassen, der ihn für sein Erleben so tief verschlungene Worte finden läßt. In den Studierstuben seines Vaters und Großvaters wurden die philologischen und grammatikalischen Finessen geübt, die des Dichters Sprache zu einem unerhört biegsamen und bewußten Instrumente machen; die seinem Satzbau saubere Klarheit und logische Folge geben. In diesem Vaterhaus wurden die Psalmen gesungen, die Bibel gelesen, wie nur katholische Priester ihr täglich Brevier verrichten.
Man darf den schwäbischen Pietismus nicht unterschätzen. Schelling und Hegel, Mörike und Hölderlin, Strauß und Vischer sind ohne ihn nicht zu denken. An die Seminare Maulbronn, Blaubeuren und Urach knüpfen sich schönste und älteste deutsche Erinnerungen. Die Geschichte des Tübinger Stifts vollends ist ein gut Teil der deutschen Geistesgeschichte. Hier, im Schwabenlande, vereinigt sich das mit Jubel begrüßte Zinzendorfische Ideal der Erneuerung mit den Ideen der Romantik und fördert eine Gesinnung, die vom offiziellen Protestantismus mitunter weiter entfernt scheint als von Rom; eine Bewegung, die recht eigentlich danach aussieht, als wolle sie den alten Zwiespalt, den die Reformation mitbrachte, auf halbem Wege poetisch verbrücken.
Die Pietisten haben den mystisch versunkenen Luther wieder entdeckt, der über den Religionshändeln und über dem fürstlichen Aufkläricht fast war vergessen worden. Menschen, die Brüder und Heilige wollen sein oder werden, leitet ein Enthusiasmus, der, in wie kindlichen Formen er immer sich äußern mag, mit aller Ewigkeit im Bunde steht. Im Baltenland und in Schwaben trug die Erweckungsbewegung die tiefsten, sehr häufig asketische Züge. Das Königtum Christi wird hier verkündet, lange bevor es von Rom in aller Form zum Weltfeste erhoben ward. Der Heerbann Christi, die Hingabe an sein Reich, der Einzug ins himmlische Jerusalem –: all dies sind Vokabeln aus typisch pietistischem Wortschatz; Vokabeln, die niemand sanftmütiger ergriffen hat als die verachteten Stundenbrüder.
Auch die evangelische Heidenmission ist ihr Werk; Schwaben hat große Verdienste daran. Die indischen, chinesischen und japanischen Studien erweisen noch heute den alten Zusammenhang. Gelehrte wie Hauer in Tübingen, den Übersetzer Richard Wilhelm oder den Shintologen W. Gundert in Japan, dem Hesse als seinem Vetter den zweiten Teil des »Siddhartha« gewidmet hat, kann man als Beispiele nennen. Die Jesuiten waren um Jahrhunderte früher am Werk, und Namen wie Franz Xaver oder Taten wie die Propaganda fide wurden von England und Deutschland nicht überboten. Aber die evangelische Mission, die mit der Erweckungsbewegung beginnt, ist philologisch ganz anders interessiert. Die Text- und Systemkritik, die poetische Kraft der Übersetzung sind ein Vermächtnis der Reformatoren. Die Männer aus dieser Schule treten an alle die fremden Kulte viel unbehinderter, freier heran. Freilich hatten sie auch ganz anders erschütternde und verwirrende Seelenkämpfe mit Sufilehrern, Brahmanen und Hindupriestern zu bestehen. Diese Bewegung bemächtigte sich aber der tausend heidnischen Tempel, Götter und Untergötter, durchdrang sie und führte zu einer Vielfalt der Kenntnis, die den romantischen Aufwand weit hinter sich läßt.