Hugo Ball
Hermann Hesse
Hugo Ball

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Mir scheint, die eigenen Wege müßten möglich sein ohne den Bruch mit Schule und Erziehung, und sie müßten möglich sein ohne die Qual der Vereinsamung. Mir scheint, wenn unsere Väter und Großväter schon die Autonomie vertraten, so müßten schon sie sich eben geirrt und auf falschem Wege befunden haben. Wie dem aber auch sei: Was wir sehen und täglich erleben, ist ein gefährlicher und unglückseliger Mechanismus. Denn der Ungehorsam des Heroen wird in der Schule und im Vaterhaus vergöttert; der Schüler aber, der diese Aufforderung ernst nimmt, wird gemaßregelt. Schon bei den Vätern stimmte es nicht; im Staate stimmte es nie. Gleichwohl wird die strengste Unterordnung, die Vernichtung des »boshaften« Sonderwillens, der »teuflischen« Rebellion unerbittlich verhängt. Weder der Sohn, noch der Vater können sich dann auf eine dritte Instanz, auf eine objektive Welt der Überzeugung und der Sitte, auf eine unverbrüchliche Tradition des Maßes, der Begütigung und des Ausgleichs berufen. Keine überlegene Instanz vermag die erregten Gemüter zu dämpfen und beide in Einklang zu bringen. Ideal und Wirklichkeit, Geist und Natur, Gesetz und frohe Botschaft, alle die typisch protestantischen Gegensätze, alle jene Gegensätze, die Hesse in seinem »Kurgast« unter jener »Doppelmelodie« begreift, deren Ausgleich, deren Vereinigung ihm Mühe und Verzweiflung bereite –: alle diese feindlichen Brüder und Gegenpole zerreißen einander, statt sich zu fördern.

Die Blütezeit des theologischen Stifts war vorbei, als Hesse 1895 nach Tübingen kam. Er, der gegen Gebote sich so widerspenstig verhalten hatte, weil es zuviel davon gab; der sich »von Natur ein Lamm und lenksam wie eine Seifenblase« nennt, besteht jetzt seine dreijährige Lehrzeit so treu und unvermahnt, wie ein junger Mensch sie bestehen kann. Leider nur sind die Zeiten, da in Tübingen noch Propheten zu finden waren, da Hölderlin an Hegel und Hegel an Schelling die Parole vom Reich Gottes als Gruß und Schwur weitergaben –, nur eben sind diese Zeiten vorbei. Von Ludwig Finckh abgesehen hat Hesse dort keinen Kameraden, keinen namhaften Freund, keinen Genossen gefunden, der an dieser Stelle zu nennen wäre. Die »Tübinger Erinnerung«, die in den »Lauscher« aufgenommen ist, beschäftigt sich mit dem Gedanken, »ein Kollegium von Ausgetretenen aus allen fashionablen Verbindungen oder von Rettungslosen aus allen Fakultäten« zu gründen. Die sanft gehügelte Neckarstadt gehört der Vergangenheit an. Die Alma Mater hat ein bedenkliches Gesicht bekommen. Was an unverwelklichen Erinnerungen noch ihren Busen ziert, das schleift in Blut und wird zertreten. »Es war mein Glück und meine Wonne«, sagt Hesse im »Lebenslauf«, »daß im Haus meines Vaters die gewaltige großväterliche Bibliothek stand, ein ganzer Saal voll alter Bücher, der unter anderem die ganze deutsche Dichtung und Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts enthielt.« Mit den Hinweisen dieser Bibliothek kommt Hesse nach Tübingen. Von den Beständen nennt er Goethe, Gellert, Weiße, Hamann, Jean Paul, Hettners Literaturgeschichte, einiges von David Fr. Strauß »und vieles andere«. Die Autoren also, die ihm in Calw schon wichtig wurden, sind bald wie Turmuhren gespreizt und bedächtig, bald anakreontisch vertändelt, bald in den Sinnen gewitzigt, bald haben sie das Herz so voll, daß es überfließt, wenn man sie anstößt.

In dieser großväterlichen Bibliothek waren die Philosophen erbitterte Aufklärer und Federfuchser, und ihre Wirksamkeit war am Schwabenlande nicht spurlos vorübergegangen. Ihrer Bekämpfung diente ein Großteil der väterlichen Bemühungen; ihre Argumente aber kamen aus jenem Kult der fünf Sinne, der bei Voltaire und dem Abbé Galiani und dann bei Goethe und Nietzsche bedeutsam wurde. Wenn einer jener Franzosen schrieb: »dem Menschen sind fünf Sinne gegeben, daß sie ihm Freude und Schmerz vermitteln, kein einziger, der ihn das Wahre vom Falschen unterscheiden ließe. Der Mensch ist weder da, die Wahrheit zu erkennen, noch getäuscht zu sein. Das ist so gleichgültig. Er ist da, sich zu freuen und zu leiden. Genießen wir also und versuchen wir, nicht zu leiden. Das ist unser Los« –: so klingt dieser poetische Sensualismus bereits, als vernähme man Goethe selbst oder den Anti-Intellektualisten und »Wahrheits«-Bekämpfer Nietzsche; ja als vernähme man bereits den Hesse des »Siddhartha«-Schlusses und skeptischen Verfasser des »Kurgast«.

Der epische Bestand zeigt neben Goethe den in die Parabel verliebten Gellert; einen Gellert, der sich auf frische und blühende Predigten stützt, auf eine Technik, die immer greifbar bleibt, die immer aus dem Nächsten schöpft. Seine Sprache ist für das Ohr, nicht für das Auge berechnet; die Phantasie des Hörers soll mit kleinen Geschichten und sinnfälligen Beispielen delektiert und beschäftigt werden: Dinge, die in Hesses »Märchen« und mehr noch in seiner mündlichen Rede wiederkehren. Und diese Bibliothek enthielt bereits Jean Paul, für den Hesse unermüdlich als für den spezifischsten deutschen Poeten eintritt. Eine Gesamtausgabe Jean Pauls hat er in späteren Jahren immer wieder angeregt und befürwortet; den »Titan« und den »Siebenkäs« selbst ediert und mit Begleitworten versehen. Mit der »Badreise des Dr. Katzenberger« vergleicht er seinen »Kurgast«; um aber gleichzeitig zu gestehen, daß er sich vorkomme wie ein Mann, der dem Paradiesvogel einen Spatzen nachsende und dem Stern eine Rakete. Von ihm, Jean Paul, ist Hesse überzeugt, daß in einem seiner Hosenbeine die ganze moderne Literatur könne unterkommen.

Man sieht: die Calwer Bibliothek bot allerlei Anregung und schon bleibende Freunde. Es läßt sich ja von solchen ersten Studien kaum absehen, wie bestimmend sie für die Entwicklung sind; denn wesentlich bleiben ja nicht die Lesefrüchte, wesentlich bleibt das eigene Weitergreifen und Wählen. Bezeichnend ist, und darauf möchte ich noch hinweisen, daß Hesse aus jenen Beständen die Herder und Lessing nicht nennt. Beide stehen dem Pietismus nahe. Herder hat die poetische Auffassung der heiligen Schriften eingeleitet und berührt sich nahe mit Zinzendorf, für den alles Religiöse und sogar Alltägliche zu einem Reime wird

Holdselig und allmächtiglich,
Bluthäuptig und
Leibträchtiglich.

Lessing aber war eine literarische Liebhaberei des Vaters Johannes Hesse, der ihn öfters in seinen Schriften erwähnt, so daß sein Name den vollen Glanz für den Sohn nicht mehr haben mochte. Auch er, Lessing, stand sympathisch zum Pietismus. Beide, Lessing und Herder, traten ja dafür ein, daß Frömmigkeit nicht eine Angelegenheit theologischer Debatten und giftiger Disputationen, sondern eine solche des Herzens und der Phantasie, des ganzen Menschen sei.

Ein Name, von dem ich bis jetzt geschwiegen habe, ist derjenige Goethes. Sehr bald, nach jenen ersten Studien im Vaterhaus, tritt Hesse in die Heckenhauersche Buchhandlung ein; bezieht er die schwäbische Universität. Nicht als Student und immatrikuliert; nicht als einer der Dutzende ländlicher Störzer, die ihre »munteren Knabenjahre in Zechgelagen ersäufen«. Auch nicht als eines der freundlichen Püppchen, die nur in der Ausnahme noch der stanzenden Schablone entgehen. Er bezieht die Universität als Buchhändler. Er ist begierig, die Bedingungen seines Berufs und derjenigen kennenzulernen, an die er als Dichter und Schriftsteller später sich wenden wird. Und wo könnte man die Erwartungen, Träume und Widerstände des Publikums, seinen Bildungsgrad, seine Bedürfnisse, seine wie immer geartete Seele besser kennenlernen als im Buchhandel? Wo könnte man als Literat die Erfordernisse des Stils (Einfalt, Klarheit, Verzicht auf exzentrisches Wesen), wo könnte man all das besser erwerben als hier? So ist Emile Zola Buchhändler gewesen, ehe er seine Bücher schrieb, und so ist es Hesse, ehe er den letzten Ausdruck des Europäers und Asiaten in eine nach vielen Tausenden zählende Gemeinde trägt, als seien die Dinge, die er mitteilt, die alltäglichsten der Welt.

Die ersten zwei Tübinger Jahre sind fast ausschließlich dem Studium Goethes gewidmet. Hesse liest den »Wilhelm Meister« und vergleicht ihn wohl auch mit Goethes Biographie. Es existiert keine Äußerung darüber, doch ist es nicht schwer zu erraten. Bei seiner Empfindlichkeit für Gegensätze konnte ihm nicht entgehen, daß im »Meister« ein Widerspruch vorgetragen wird, der den Schlüssel zum ganzen Buche bietet. Das leichtlebige Komödiantentum, mit dem der Roman beginnt, stößt sich heftig mit den nachfolgenden »Bekenntnissen einer schönen Seele«. Diese Bekenntnisse hätten ihrem frommen Inhalte nach ebenso aus der Feder von Hesses Mutter stammen können wie von jenem seltsamen Fräulein von Klettenberg, das einen so beträchtlichen Einfluß auf Goethes Jugendentwicklung und sogar auf seine Freundschaften hatte. Und merkwürdig: das Komödiantentum nebst der unbändigen Tuba Shakespearescher Narren war offenbar befürwortet und von Goethe enthusiastisch begrüßt, die Bekenntnisse einer schönen Seele aber waren dies keineswegs. Auf dem Weg zu Lotharios Schloß erhielt sie »Wilhelm Meister« von Aureliens Arzt. Die Bekenntnisse waren also skeptisch aufzunehmen; als ein Dokument, das nach Goethes Meinung einer pathologischen Betrachtung nicht überhoben war.

Forschte man in der Biographie nach, so fand man Goethe vollends von Pietisten umgeben. Von jenem frommen Fräulein aus seinem Vaterhaus angefangen über den Messias-Dichter und den halbpietistischen Herder bis zu den Freunden der Klettenberg, dem phantastischen Propheten Lavater aus Zürich und dem alchimistischen Arzte Jung-Stilling: immer wieder sind es Pietisten, mit deren besonderer, Hesse wohlbekannter Frömmigkeit das Frankfurter Weltkind sich auseinanderzusetzen hat. Teufel auch! Es war doch eine mächtige, eine tief nationale Bewegung, dieser Pietismus, der den poesiefeindlichen Rechenmeistern entgegentrat und ihr hölzernes Räsonieren zerschlug! Gleichwohl hielt sich Goethe lieber an das Fratzenschneiden; war er nichts weniger als ein Pietist. Er nahm an den Grübeleien teil, hantierte wohl auch mit der Klettenberg in Windofen, Sandbad und Retorte. Er pflegte nahe Freundschaft mit all den langgezopften Pastores; und ebenso schätzte er offen jene »Häuslichkeit der Liebe«, in der er Lavatern leben und streben sah. Aber es lächerte ihn doch ein wenig, wenn derselbe Lavater den Einzug des Kurfürsten von Mainz als Vorlage zu einem Einzug des Antichrist benutzte und auf der Zürcher Kurpromenade den Liebesjünger in Fleisch und Bein auf sich zukommen sah.

Dieses beneidenswert unbehinderte Weltkind Goethe ist zwar auch den Rationalisten nicht gewogen – gegen Kant führt er eine beständige unterirdische Kampagne; über den biderben Hegel macht er sich nahezu lustig –: aber ein Pietist ist er nun ganz besonders nicht. Es dünkt einen sogar, daß er die »Mariannen und Philinen«, die Strumpfbänder und Billetdoux ganz bewußt ausspielt; daß er nur alles ins Noble und Charmante zu drehen sucht, wie bei ihm ja immer und überall hinter den flüchtigen Worten ein hinterhältiger Sinn, eine Absehung, ein aufs Ganze schauender Wille steht. Vieles blieb unverständlich, was sich später erschließen würde, – aber welch ein Wunder! Wie sich ihm jedes Stücklein Erde, das er in die Hand nahm, und jede kleine Welle, die er aus dem Wasser hob, zum Bild und Sinnbild formte! In seinem späteren Leben aber taucht auch für ihn, der sich solange konserviert und jung erhält, eine Gefahr auf: die Romantik. Er selbst hat sie gezüchtet und gefördert, mit seinem Volkslieder-Frühling, mit seinem Theater, mit vielem anderen. Jetzt, da er in klassischer Steifheit und götzenhafter Distanz zu verschimmeln droht, wachsen ihm die neuen Ankömmlinge über den Kopf.

Da ist Tieck, der in den »Wilhelm Meister« am liebsten eine Spieluhr einbauen möchte; der ihn mit märchenhaften Girlanden, mit Träumen im Traum, mit einander sich küssenden Blumen und Tönen zu überbieten sucht. Unser Geist ist himmelblau, läßt er die Flöten sagen. Und da ist Novalis, der denselben »Wilhelm Meister« einen Candide gegen die Poesie nennt; ein verstimmendes Buch. Er selbst möchte jeden Satz zum Geschmeide und jedes Buch zum Juwel erheben. Da ist Hölderlin, der in Jena und Weimar antichambrieren muß wie ein Tölpel, dem man die Verse korrigiert, und der doch, aus Schwaben kommend, weiß, daß auch der große Landsmann in Jena eine schwäbische Frau Mutter hatte, die Pfannkuchen gebacken und Äpfel gedörrt hat. Und da ist Jean Paul, der von den thüringischen Hellenen schon gar nicht goutiert wird; von dem sie sagen, daß er nicht schreiben könne und daß ihm bei mehrerem Verzicht auf seine Philisterwäsche noch könne gegeben sein, manch treffliches Stück einer wohligen Aneignung zuzuführen. All diese Romantiker sind einseitige Artisten; jeden Blutstropfen pressen sie in die Poesie. An Staatsgeschäften, Knochenlehre, Pflanzenkunde und wie die praktisch-nüchternen Dinge alle heißen, ist ihnen nicht viel gelegen. Poeten und Künstler wollen sie sein, bis zum Aberwitz, und sonst nichts.

Aber da ist über all den flackernden Geistern plötzlich jener Goethe wieder, der den »Tasso« geschrieben hat, und das Stück handelt von einem Renaissancepoeten, der aus dem Gleichgewicht geraten ist. Und die Natur des Genies tritt hervor: eines überempfindlichen Nervenmenschen; des romantischen Neurotikers, würden wir heute sagen. Eines Poeten, der das Zeremoniell wenig achtet; der die Sitte durchbricht; der nach dem Grundsatze handelt: erlaubt sei, was einem gefalle. Er hat etwas vom gesetzverachtenden Humanisten in sich, dieser Tasso; von jenen Dichtern, die die Liebe gegen die Etikette setzen und das Herz, den Instinkt, den romantischen Furor gegen die Bindungen der Gesellschaft. Die Geschichte des wirklichen Tasso aber ist unheimlicher als das poetische Bild. Gehetzt, ein Verfolgter, flüchtete dieser Tasso von Hof zu Hof vor seinen Visionen, vor seinen Selbstbegegnungen; vor seinen eigenen heldischen Entwürfen, die aus ihm heraustreten und sichtbar schreckende Gestalt annahmen. Hesse, der Autor des »Presselschen Gartenhauses«, einer Dichtung, die sich stilistisch durchaus mit dem »Tasso« vergleichen läßt –: ich weiß nicht, ob er in Tübingen den Goethe so gelesen hat; ich möchte es aber nicht ohne weiteres bezweifeln.


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