Hugo Ball
Hermann Hesse
Hugo Ball

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Kurgast und Steppenwolf

Die Arbeit der nächsten Jahre ist ganz der Selbsterfassung zugewandt. Die Aufforderung des Verlags an den Dichter, eine Auswahl seiner Werke vorzubereiten und sich in einer Vorrede über die Gesichtspunkte zu äußern, nach welchen diese Auswahl zustande gekommen sei, diese Ende 1920 erfolgte Aufforderung begegnet einem innigen Verlangen des Dichters, sein bisheriges Werk zu überschauen und die weitverzweigten Zusammenhänge auf eine Einheit hin zu ordnen. Hesse hat damals in einem Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung über seinen Versuch berichtet. Diese »Vorrede eines Dichters zu seinen ausgewählten Werken« hat vor allem ein Moralist geschrieben, der streng auf Wahrheit und Ausflucht sieht; sodann ein Kunstrichter, der die klassischen Formen des Romans und der Novelle zugrunde legt. Von beiden Gesichtspunkten aus fand Hesse sein Werk fragmentarisch und ungenügend. Das Resultat fiel für den Verlagsplan nicht zustimmend, sondern ablehnend aus; die volkstümliche, auf vier bis fünf Bände berechnete Auswahl unterblieb.

Die Anregung des Verlags blieb gleichwohl nicht unfruchtbar. Den Verzicht scheinen andere als moralische und ästhetische Bedenken bewirkt zu haben. Hesse war offenbar außerstande, aus der Verflochtenheit seines Werkes, dessen Betonungen da und dort hervorgetreten waren, spezielle Schriften auszuwählen. Es war fraglich, ob er überhaupt nach Direktiven hin sichten könne. Er hatte ja nicht nach Vorsatz, sondern nach Erlebnissen und nach Gelegenheiten gearbeitet. Auch fühlte er wohl, daß wesentliche Seiten seiner Natur noch nicht hervorgetreten, daß ein definitiver Ausdruck, um den sich alle einzelnen Äußerungen zwanglos gruppieren ließen, noch nicht erreicht sei. Gleichwohl hatte es vielleicht jenes Anstoßes bedurft, um den Dichter mit sich selbst zu konfrontieren; um ihn an die vielen, oft sehr wesentlichen Gelegenheitsstücke zu erinnern, die zerstreut publiziert und unbeachtet geblieben waren; um ihm sein Werk nach seiner ganzen Ausdehnung zu vergegenwärtigen. Die »Ausgewählten Gedichte« (1921) sind die erste Frucht dieser Rückschau, und es ist interessant zu sehen, wie Hesse an die Selbsterfassung herangeht. Er beginnt damit, die Linien zusammenzuziehen und zu vereinfachen.

Eine zweite Frucht dieser retrospektiven Tätigkeit ist das 1924 zusammengestellte »Bilderbuch«, das nahezu die Form einer Biographie erhalten hat. Es faßt die vielfachen Wander- und Reiseerlebnisse des Dichters in einer Art freier, nach inneren Gesichtspunkten geordneten Chronologie zusammen, beginnend mit dem Bodensee und endigend im Tessin. Das »Bilderbuch« zeigt eine vollkommene Einheit der Person von der ersten Gaienhofener Skizze bis zur letzten aus dem Tessin. Freilich bezieht sich diese Einheit mehr auf den Beobachter, den Darsteller von Landschaft und Umgebung. Wollte man eine besondere Reihe von Schriften ähnlichen Charakters aus Hesses Werken zusammenstellen, so würden in die Nähe des »Bilderbuches« auch der »Knulp«, die »Wanderung«, der »Kurgast« zu stehen kommen, und es würde diese Reihe sozusagen die apollinische, die helle, die Augenwelt des Dichters bezeichnen. Sie würde den nach außen gerichteten Künstler, den Mann des Metiers, den Maler und Schilderer zeigen, nicht aber den Problematiker. Die Konflikte des eigenen Innern sind hier nicht Ziel der Darstellung, wenn sie die Umwelt auch spiegelt.

Noch der »Kurzgefaßte Lebenslauf« (Neue Rundschau 1925) zeigt den Dichter mit seinem eigenen Werke beschäftigt. Im »Kurzgefaßten Lebenslauf« gab Hesse ein überraschend neues Gesamtbild seiner Person. Ich habe diese Selbstdarstellung vielfach als Richtschnur benutzt; vielleicht hätte ich sie noch inniger zitieren sollen. Sie zeigt den Dichter energisch bemüht, mit dem renommierten »bürgerlichen Schriftsteller Hesse« der Vorkriegszeit aufzuräumen. Er sucht Raum und Verständnis zu schaffen für seine Schriften seit »Demian« (1919). Hier, im »Lebenslauf«, ist es Hesse gelungen, eine Einheit von Werk und Person durchzuführen. Es ist nicht mehr der Moralist und der Klassiker, von denen er ausgeht, er betont eher umgekehrt den Immoralisten, und statt der Harmonie die Dissonanz. Der Akzent liegt unvergleichlich mehr als in der »Vorrede« und im »Bilderbuch« auf der Phantasie und dem Fingieren. Als Inbegriff dieser Fähigkeiten erscheint die Zauberei, und damit das Märchen, die Legende, die Sage, die Deutung. Die Bücher der Frühzeit werden unglimpflich fast übergangen; das Interesse ist auf die Zukunft gelenkt (Fortführung der Biographie bis zum Jahre 1930).

Es ist nach diesem Lebenslauf nicht gut mehr möglich, zu wünschen, Hesse möchte auch ferner so angenehm artige Bücher schreiben, wie er sie früher einmal geschrieben hat. Und schon ist heute auch dieser »Lebenslauf« durch Werke wie »Kurgast« und »Steppenwolf« überholt; denn jeder intensivere Beobachter und Leser der letztgenannten Bücher vermißt im Lebenslauf die Einbeziehung jener Konflikte, die Hesse selbst als solche einer typischen Neurose des geistigen Menschen unserer Zeit bezeichnet. Dieser Gesichtspunkt war für den Dichter zur Zeit der Abfassung des »Lebenslaufes« offenbar noch nicht spruchreif. Die stets aufs neue überraschenden Gegensätze und Wandlungen, in denen sich Hesses Werk bewegt, sind wohl angedeutet; sie sind aber noch nicht Ausgangspunkt der Selbstdarstellung, und sie müßten dies sein, um die spezifische Leistung im rechten Lichte erblicken zu lassen.

Hesse bezeichnet es einmal als das Geheimnis aller großen Kunst, zu bezaubern durch das geheimnisvolle Zusammenarbeiten einer ungewöhnlichen Geistigkeit mit einer ebenso ungewöhnlichen Sinnenkraft. Beide Pole, die Geistigkeit und die Sinne, sind bei Hesse ungewöhnlich entwickelt. Nur eben nicht, wie beim geborenen Harmoniker, in ihrer Zusammenarbeit, sondern gerade in einer Spinnefeindschaft. Der Bekenner und Moralist bekämpft den Phantasten und Schauspieler, der Asket den »Wüstling«, der Ritter und Held den Bürger, der Einsiedler und Marsbewohner den Mann, der sich nach Freundschaft, Liebe und Geselligkeit sehnt; und schließlich: der zur Selbstvernichtung geneigte Problematiker den Lobsänger einer paradiesisch lockenden und ewig bestrickenden Natur.

Von Kindheit an ist der Dichter vor einen Kampf mit zwei Fronten gestellt. Er ist, seiner besonderen Herkunft entsprechend, genötigt, die geistige Sphäre auszudehnen, um auf der Höhe der Zeit und der modernen, sehr summarischen Kultur zustehen. Und er ist auch genötigt, den Sinnen Raum zu schaffen; denn der Dichter braucht unbehinderte, harmlose, freie Sinne, um gedeihen zu können, und abermals: um in einer sehr vorurteilsfreien Zeit überhaupt vernommen zu werden. So gilt es, nach zwei Seiten ununterbrochen zu arbeiten, sich loszulösen, sich aufzutrennen und eine sinnliche und geistige Ideologie zu finden, die auf der Höhe der Zeit steht. Aber sie soll auch eine trotz allem edle und hochgeartete Herkunft nicht völlig desavouieren, denn das hieße sich entwurzeln. Daß einem solchen Bemühen in der wilhelminischen Ära Gesellschaft und offizielle Erziehung nicht eben entgegenkamen, verschärft jede Schwankung.

1919 erschien im Verlag Tal & Co. ein Büchlein »Kleiner Garten«, das, wenig beachtet, einige Erzählungen, teilweise noch aus der Gaienhofener Zeit, enthält. Darin findet sich jene hübsche Novelle vom »Tod des Bruders Antonio«, der ein franziskanischer Mönch ist, aber auf dem Totenbette die Käfer, die Bienen und den Ziegenhirten über alles Glück der Exerzitien und der Ordensregel preist. Hart daneben findet sich die ebenso hübsche »Legende vom Feldteufel«, der in der ägyptischen Wüste die Ureinsiedler Antonius und Paulus umstreift, weil er, von der Zivilisation aus wohligeren Gefilden verwiesen, gar gerne ein Gottesstreiter wie die großen Wüstenväter werden möchte. Und es findet sich im selben Bändchen eines der schönsten und schmerzlichsten Stücke, die Hesse geschrieben: »Ein Stück Tagebuch« (1918 entstanden).

Noch dieses Stück Tagebuch zeigt den Dichter auf der Spur nach einem Vorbild; und es zeigt, daß er an der Möglichkeit einer Selbsterziehung gerade während des Krieges mitunter verzweifelte. »Unter anderem«, so heißt es da, »sah ich den Staretz Sossima aus den Brüdern Karamasow als Vorbild und Lehrer auftreten. Aber jene mütterliche Urstimme, ewig und immer neu gestaltet, widersprach jedesmal... Vorbilder sind etwas, was es nicht gibt; was du dir nur selber schaffst und vormachst. Vorbildern nachstreben ist Tuerei... Leide nur, mein Sohn, leide nur und trinke den Becher aus!« Das Leiden also ist der sicherste Wegführer. Es läßt Vorbilder entbehrlich erscheinen; man bleibt damit in der Herznähe der Dinge. Und dann will der Dichter wohl sagen, daß das Leiden in die Nähe der Heiligen rückt und daß es in einer Zeit der geistigen Desperation wie der unsern, der einzige Führer zum Absoluten ist. Denn er hat, nach durchquälter Nacht, im Frühschimmer einen Traum:

»In einem leichten Morgenschlaf erlebte ich einen Heiligen. Halb war es so, daß ich selbst der Heilige war, seine Gedanken dachte und seine Gefühle empfand; halb auch war es, als sähe ich ihn als einen zweiten, von mir getrennt, aber von mir durchschaut und innigst gekannt. Es war, als erzähle ich mir selbst von diesem Heiligen, und es war zugleich auch so, als erzähle er mir von sich oder als lebe er mir etwas vor, das ich wie mein Eigenstes empfand...« Dieser Heilige »schloß die Augen und lächelte, und in seinem kleinen Lächeln war alles Leid, das sich irgend ersinnen läßt, war das Eingeständnis jeder Schwäche, jeder Liebe, jeder Verwundbarkeit...«

Aber in der Klingsorzeit ist dieser Traum wieder zerstoben. Hesse leuchtet nach den giftigen Kriegsjahren seine innere Welt ab und findet Gnade und Mord geschwisterlich nebeneinander. Läßt sich die göttliche Einheit im Innern noch aufrechterhalten? Dostojewski versuchte es, sie zu behaupten, indem er den »menschlichen Kern« im Verbrecher hervorhob. Hesse in »Klein und Wagner« zeigt einen Erkrankten, einen zu Tod Erschrockenen, der sich ertränkt. Sie kann also nicht richtig sein, die Lehre von der Einheit der Gegensätze. Gerade seine psychoanalytischen Studien mußten dem Dichter erweisen, daß die romantische Lehre von der »natürlichen Güte« des Menschen nicht unbedingt könne richtig sein.

Es fanden sich im Seelengrunde eingegraben gute und böse Bilder, göttliche und infernalische; man konnte die einen und die andern stärken. Die Analyse zeigte eine Welt nicht nur der verdrängten Poesie und Natur; sie zeigte ebenso tief eine Welt der verdrängten Perversion und Unnatur. Jedenfalls aber zerstörte sie gründlich das alte idyllische Naturbild eines Rousseau und sogar den divinen Naturbegriff eines Goethe. Bereits in »Gertrud« (1910) kann man lesen, daß das Leben nichts wert ist. »Das Leben war launisch und grausam, es gab in der Natur keine Güte und Vernunft.« Güte und Vernunft waren nur im einzelnen Menschen zu finden, und selbst in ihm nur zufällig, nur für Stunden. Wie würde es sein, wenn dieser Glaube eines Tages einen Stoß erlitte? Wäre die Welt dann nicht ein vollkommenes Chaos?

Sodann der Gegensatz zwischen Klingsor und Siddhartha, und der Siddhartha-Schluß. Diese Schlußlehre war ein Weiterspinnen der Entdeckung aus »Klein und Wagner«. Dort führte der Gegensatz von Mord und Gnade zum Selbstmord; die Gnade war also mächtiger als ihr Feind. Im »Siddhartha« nun sind die Gegensätze zur Illusion geworden, weil jedes Ding in sein Gegenteil sich zu verwandeln vermag. Man beachte es wohl: es ist eine tragische, eine Theaterlehre, und in der Tat tritt dann im »Steppenwolf« das magische Theater mit allem Pomp hervor. Aber wie stand es in Wirklichkeit um die Menschen? Wandelten sie sich und vermochten sie dies (wenn sie nicht billige Komödianten waren), vermochten sie es anders als um die eine Bedingung, daß sie ihr Selbst zurückzuziehen versuchten vom ergriffenen Objekt? Gab es anders Verwandlung als um den Preis der strengsten Methodik und des fruchtbaren Leidens an der gestalteten Form? War anders Einheit möglich, und gab es nicht rings eine Welt, die jeglicher Transformation widerstand?

War es so leicht, sich wirklich zu wandeln und die Gebundenheiten, die schmerzlichen Affekte abzutun; sich zu befreien vom Fluß der Gestalten und Leidenschaften? War das nicht ein Verzicht auf jegliches Tun und Handeln, selbst auf das edelste? War das nicht, wenn es wie bei den Buddhisten in völliger Konsequenz gelebt wurde, ein Verzicht auf die »Welt«; ein Nihilismus, wie unsere Zeit zu sagen beliebt, ein Aufgehen in der Illusion? Im Gedichte konnte man sich wandeln, und viele wandelten sich so. In der Tiefe aber saß festgerannt, unerfaßbar und geängstigt jenes gewisse Etwas, jenes schmerzempfindliche Wesen, das man Seele nennt, und sehnte sich und klagte und weinte, wenn man ihm nicht zu Willen war, wenn man es loslösen wollte.

Und es ergab sich, daß die liebe Seele, weil es die Seele eines Dichters, eines Poeten war, tiefer und geheimnisvoller gefesselt sei, als sich aussprechen ließ. Es ergab sich, daß es Täuschungen waren, wenn man sie befreit, wenn man die Triebkraft selbst gepackt und zerschmettert, das innerste Wesen gewandelt glaubte. Versuchte man etwa den Sinnen mehr Raum zu lassen, so war diese Überbetonung verdächtig, und der beobachtende Geist sprach den Extravaganzen Hohn. Und wandte man sich dem Geiste, der strengeren Sublimierung zu, so geriet man in die Gefahr, den Boden zu verlieren; geriet mit dem hohnsprechenden Dämon in Konflikt und obendrein mit der Umwelt, die auf seiner Seite stand. Das eingesenkte Maß war schwer zu überschreiten. Versuchte man sich selbst zu erfassen, wie im »Demian«, so trat der Gegensatz zur Gesellschaft gefährlich hervor. Versuchte man sich gehen zu lassen, wie im »Klingsor«, so fühlte man sich raschestens seekrank und elend. Das Lächeln des Gekreuzigten oder der christliche Buddha: im Gedichte schienen sie möglich; im Leben widersprach dem Weh die Sehnsucht nach Glück und dem Glücke der Hohn aller Geistigkeit.

Eine Entdeckung aber, die wichtigste, die der Dichter machen konnte, war diese: es gab in seinem bisherigen Leben und Tun einen gewissen Rhythmus des Gegensatzes, der alle anderen Gegensätze einschloß und vielleicht begründete. Perioden von leidenschaftlichem Ausbruch wechselten mit solchen eines ängstlichen Bedachtseins auf Ruhe, Milde, Heilung, Stille. Räume voll Wahn und zerreißender Musik wurden abgelenkt und erschöpft von einem nüchternen, begütigenden Willen zur Natur. Die Ausbrüche waren, wenn man ihnen nachging, nicht von ungefähr. Es hatte dazu gewisser Herausforderungen und Mißhandlungen bedurft, an denen es in den betreffenden Zeitabschnitten nicht fehlte. Sie sammelten sich im verschwiegenen, geduldigen Seelengrunde an, führten zu gefährlichen Stauungen, die abgestoßen werden mußten, wenn die zartere, mildere, frömmere Wesensart sich sollte noch regen können. Schon in »Kinderseele« wurde das empfunden und das Entstehen solcher Stauung aufgezeigt. Gaienhofen und der Tessin erschienen jetzt, im Großen gesehen, als wahre Kuraufenthalte inmitten eines Lebens, dem es an böse flackernden Eindrücken nicht gefehlt hatte.

In den »Gedichten des Malers« (1920) heißt ein charakteristisches Stück »Gestutzte Eiche«. Da liest man und beginnt zu verstehen:

Wie haben sie dich, Baum, verschnitten,
Wie stehst du fremd und sonderbar!
Wie hast du hundertmal gelitten,
Bis nichts in dir als Trotz und Wille war!
Ich bin wie du, mit dem verschnittnen,
Gequälten Leben brech ich nicht
Und tauche täglich aus durchlittnen
Roheiten neu die Stirn ans Licht.
Was in mir weich und zart gewesen,
Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt,
Doch unzerstörbar ist mein Wesen,
Ich bin zufrieden, bin versöhnt.
Geduldig neue Blätter treib ich
Aus Ästen, hundertmal zerspellt,
Und allem Weh zum Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.

Jenen Rhythmus des Gegensatzes, vor allem aber jene Einflüsse der harten, grausamen, sehr unromantischen Welt erfassen, hieß in die persönliche Trieb- und Motivkraft, in den Mechanismus des Reagierens selbst eingreifen. Das hieß alle andern, sekundären Widersprüche auf ihre Einheit und Wurzel zurückführen; hieß die geheime Triebfeder alles Tuns, hieß die formale Kraft der eigenen Seele in den Mittelpunkt der Gestaltung rücken.

Wie in einen Brennspiegel faßt diese Fragen, vorerst noch in aller Heiterkeit, der 1924 nach längerer Pause unter dem Titel »Psychologia balnearia« erschienene »Kurgast« zusammen. Es ist das vergnüglichste Büchlein, das Hesse geschrieben hat. Mozart hatte ihn damals im Anschluß an das Papageienhaus von Careno wieder viel beschäftigt. Der vogelgestaltige Papageno begleitet den Dichter 1923 nach Baden in den Verenahof. Hesse hat in der Zeit der Inflation ein kleines Märchen, »Piktors Verwandlungen«, geschrieben, das er, von eigener Hand illustriert, nicht müde wird, immer wieder zu schreiben, immer tiefer und bunter zu illustrieren. Mancher seiner nahen Freunde besitzt es in dieser Gestalt und freut sich der fröhlichen Zauberei; im Druck ist es leider kaum zugänglich. Nach Baden nun hat Hesse das ganze Glöckchenspiel und die Pansflöte des Papageno mitgenommen, und von solch lustigem Schellen- und Flügelwesen bezieht die Musik seines »Kurgast« ihre graziöse Beschwingtheit.

Der Privatmann Hesse hat sich zur Kur in den »Heiligenhof« begeben. Er leidet an Ischias, an einer Stoffwechselkrankheit; er möchte sich gleich seinem Piktor verwandeln. Aber diese Ischias ist verdächtig. Der ärztliche Befund rechtfertigt nicht ganz den gemachten Aufwand an Leiden; es ist ein bedenkliches Plus an Sensibilität da. Ein befremdliches Plus im Reagieren auf Arzt und Umgebung; in der Umständlichkeit des Betrachtens, in hundert Hinweisen. Alle Anzeichen deuten auf eine Neurose, auf eine Gemütserkrankung. Und nicht nur die Anzeichen deuten darauf hin; es ist auch direkt davon die Rede, wenn auch humorvoll negierender Weise. Es ist ein ungewöhnlicher Kurgast; nahezu ein Querulant. Er hat seinen eigenen Doppelgänger mitgebracht und spricht von einer Doppelmelodie, von einer Spaltung, deren Brücke er nicht zu finden vermag. Ein wenig neigt er auch zur Streitsucht. Die harmlosesten Menschen, sie mögen nur einen nach der Technik riechenden Namen wie Kesselring haben, reizen ihn bis zur Wut.

Gewiß, mit diesem Herrn Hesse stimmt etwas nicht; der Dichter selber sagt es. Er zeigt diesen Herrn Hesse, aber er ist weit entfernt, ihn anzuerkennen und gelten zu lassen. Er ist vielmehr geneigt, ihm reichlich aufzuladen. Alle Torheit und allen Griesgram, alle Unarten und Skurrilitäten, die er in Baden antrifft, lädt er seinem kranken Doppelgänger auf. Der hat alles allein verschuldet; sogar am Regenwetter ist er schuld. Die leisesten Vergnügungen, ein Tropfen Bier, ein wenig Kino und Kurmusik kreidet er ihm als schreckliche Laster und Ausschweifungen an. Diese Lust zur Selbstbelastung und Selbstverwerfung ist so groß, daß sie abermals auffallen und einen eingefleischten Rigorosus und Sittenprediger bezeichnen würde, wenn, ja wenn der Dichter Hesse nicht so gut Bescheid wüßte; wenn er nicht die Bonhommie aufbrachte, stets eine gute Dosis Humor hineinzumengen, das heißt die fünf gerade sein zu lassen.


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