Hugo Ball
Hermann Hesse
Hugo Ball

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Und gleichwie diese Gegensätze dort bis zur Weißglut gediehen, als Zwiespalt zwischen Pietismus und Rationalismus, zwischen Doktrinären und Entwicklungsphilosophen, zwischen Hegel, Strauß, Vischer einer- und der protestantischen Orthodoxie andererseits, so scheint es in Schwaben eine typische Neurose junger Menschen zu geben, die ins Seminar einrücken. Eine Neurose, die teils mit der aufreizenden Lebenslust der klassischen Studien, teils mit jener tyrannischen Bußstimmung zusammenhängt, die dem mißtrauisch forschenden Studiosus von Staats wegen nahegebracht wird. Gestrenge, schließlich sogar militärische Autoritäten wie Staat, Geld und Interesse können bei allem frömmigen Anstrich mit einem selbstlosen und ungebrochenen Willen nicht viel anfangen. Dazu kommt, daß das schwäbische Elternhaus mit seiner behaglichen Sphäre von Märchen und Lebkuchen eine deliziöse Traumwelt gezüchtet hat, die jeder kalten Maßregelung Hohn spricht.

Die Schwaben sind ein dokumentierendes Volk. Auch in der Literatur muß die Stiftlerneurose zu finden sein. Und so ist es auch. Nicht von ungefähr hat Hesse seine schönste Novelle, »Im Presselschen Gartenhaus«, den drei schwäbischen Dichtern Hölderlin, Waiblinger und Mörike gewidmet. Alle drei hatten die typische Stiftlerneurose. Hölderlin hat in Maulbronn schrecklich gelitten. »Ich will dir sagen«, schreibt er an Immanuel Nast, »ich habe einen Ansatz von meinen Knabenjahren, von meinem damaligen Herzen, und der ist mir noch der liebste, das war so eine wächserne Weichheit... aber eben dieser Teil meines Herzens wurde am ärgsten mißhandelt, so lang ich im Kloster bin, selbst der gute lustige Billinger kann mich ob einer wenig schwärmerischen Rede geradezu einen Narren schelten, und daher hab ich nebenher einen traurigen Ansatz von Roheit, daß ich oft in Wut gerate, ohne zu wissen warum, und gegen meinen Bruder auffahre, wenn kaum ein Schein von Beleidigung da ist...«

Nicht viel anders steht es mit Waiblinger und Mörike in ihren Kloster- und Stiftlerjahren. Waiblinger, der Freund Hölderlins, Verfasser eines »Phaëton« und unzähliger Reisebriefe, ein Wanderpoet, wie ihn selbst Schwaben in einem halben Jahrhundert nur einmal hervorgebracht hat, Waiblinger liebt nicht so sehr das königliche Stipendium als ein Mädchen von »königlich Ossianischem Geist«, das von der Ostsee herkam. »In meinen Armen lebte sie, fast wahnsinnig in dieser Feuerliebe, mit mir melancholisch und bacchantisch, in unermeßlichen Schwärmereien, aufgezehrt und aufgeliebt durch meine zerstörende Leidenschaft...« Es wird nicht ganz so schlimm gewesen sein; er war ein echter Dichter, und deren Exzesse steigern sich mit der Unmöglichkeit, sie zu begehen. Er deponiert seines Mädchens Geschichte: »einen Roman von zweihundert Bogen mit grenzenloser Wildheit geschrieben... Ich spiele dabei den Lustigen, den Trinker, den Possenreißer, den Bonvivant, den Narren, den Pousseur, treibe mich in verliebten Abenteuern umher und mache Schulden, gelte hier nur als Atheist, und hab im Grunde alle zum Narren.« Es bedarf keiner Versicherung, daß seine Mitkandidaten ihm aus dem Wege gehen; daß er sich Rüffel und Strafen zuzieht. Als er am Ende das Stift verläßt, ist er gerne bereit, sich sogar in Rom, nur nicht in Schwaben, zum Prediger anzulassen. Griesebach hat seine Oden und Elegien ediert; Platen hat ihn geschätzt; in Rom, zwischen Shelley und Goethens Sohn, liegt er begraben.

Und nun Mörike, den Hesse im »Presselschen Gartenhaus« mit dem genialisch flackernden Waiblinger so geheimnisvoll kontrastiert! Ihn hat's in Urach getroffen. Dort wurde die Freundschaft mit Waiblinger geschlossen, eine ähnliche Freundschaft, wie Hesse sie in »Unterm Rad« geschildert hat; auch mit ähnlichen Folgen für den behutsameren, stilleren der beiden Dichter. Mörike löste diese Freundschaft, aber dieselben Kopfschmerzen, dieselbe Schlaflosigkeit, wie Hesse sie von Hans Giebenrath und gelegentlich von sich selbst gesteht und beschrieben hat, eine gewisse »Agrypnia« und vis inertiae sind Mörike geblieben, bis er, manche Jahre später, auf Anraten des Dr. Justinus Kerner eine »sympathetische Kur« beim älteren Blumhardt in Möttlingen durchmacht; eine Kur, von der sein Biograph versichert, daß sie eine ganz überraschend glückliche Wirkung auf Mörikes Nerven ausgeübt habe. Nebenbei: das Presselsche Gartenhaus war ein einfaches Hüttchen, das Waiblinger auf dem Osterberg bei Tübingen besaß. Wie schon in Urach ein solches Hüttchen zum Schauplatz dichterischer Erlebnisse geworden war, so tauchten die Genossen im Presselschen Gartenhaus beim Schein einer Wachskerze in die Dämmer romantischen Fingierens. Hierher, in diesen Auslug, ließ der erkrankte Hölderlin sich gerne führen, und hier erstand der Traum vom Götterland Orplid.

Auch in der Literatur ist also der Stiftlerkonflikt nicht ungewöhnlich. Hesse bleibt damit in der Tradition. Seine schöne Erzählung vom Presselschen Gartenhaus, diese immergrüne Erzählung bestärkt nur seine Verbundenheit. Da aber Hesse die Quintessenz der Romantik zieht und seine Familie ebenso die Quintessenz der schwäbischen Frömmigkeit, erreicht die Stiftlerneurose bei ihm eine Heftigkeit, die seine Vorgänger um einige Siedegrade überbietet.

Die biographischen Einzelheiten jener Jahre sind schärfer und brennender, als man in »Unterm Rad« sie dargestellt findet. Hesse hat, umgekehrt, als es heute üblich ist, die Mitteilung abgeschwächt; wie er auch im »Presselschen Gartenhaus« nur den schönen Schein, die Harmonie, die Konkordanz der Klänge und der Seelen, die Obertöne hat leuchten lassen. Der junge Hesse empfindet in Maulbronn ganz offenbar, daß dieses Institut eine Fortsetzung der Basler Knaben- und Missionsschule ist, aus der er so stumm und gedrückt zur zärtlich geliebten Mutter zurückkam. Er hat, als er nach Göppingen in die Lateinschule geht, das Vaterhaus nur widerwillig verlassen. All seine Träume kreisen nur um die Heimat. Ein Knabengedicht von damals schließt mit dem Reim:

Die Welle rauschte so frisch, so kalt,
Ihr Sang ergriff mich mit Himmelsgewalt.
Wer wollte da in die Fremde gehn,
Wenn's in der Heimat so wunderschön.
Wie sangen die Nixen so wunderbar,
Wie zog mir der Abendwind durchs Haar.
Es glühte der Berg in goldenem Schein.
Ich sollte die Heimat verlassen? Nein!!

Er empfindet wohl, daß ein System vorliegt; daß sein Traum gebrochen, daß er »getötet« werden soll. Er wird noch nicht wissen, weshalb, aber er weiß, daß er hier nicht ducken darf.

Es gibt einen Aufsatz des Dichters, »Eigensinn« betitelt; nicht aus seinen Knabenjahren, sondern aus der Berner, der Kriegszeit, die eine Art Wiederholung für Hesse war, indem der einzelne, auch wenn er den Himmel selbst in sich trug, ähnlich wie damals »herangezogen« und verstaatlicht werden sollte. Der Aufsatz ist, unter dem Namen Emil Sinclair, 1919 in »Vivos voco« erschienen. »Eine Tugend gibt es«, so lautet der erste Satz, »die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn... Tugend ist: Gehorsam. Die Frage ist nur, wem man gehorche. Nämlich auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle anderen so sehr beliebten und belobten Tugenden sind Gehorsam gegen Gesetze, welche von Menschen gegeben sind. Einzig der Eigensinn ist es, der nach diesen Gesetzen nicht trägt. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst; dem Sinn des ›Eigenen‹... Nur der Held ist es, der den Mut zu seinem eigenen Schicksal findet.«

Die Entstehung dieses Aufsatzes in der Demian-Zeit deutet auf den Ursprung und auf die parallele Situation. Zwei Welten stehen sich gegenüber: der heilige Wille des »eigenen Sinnes« und das den priesterlich-frommen Eltern ebenso heilige Gesetz des strengsten Gehorsams. Aber der junge Hesse ist bereit, auch als Kaputtmacher und Grobian zu gelten; er ist geneigt, trotz »Gottesgesetz und Verbot« seine innere Welt zu behaupten. Er ist, aus Maulbronn weglaufend, bereit, bei neun Grad Kälte im Freien in einem Heuschober zu übernachten, ohne Mantel, ohne Handschuhe, ohne Geld, und sich von einem Gendarmen einbringen zu lassen. Nur »Chattus puer« will er bleiben, ein taciteischer Hessenknabe; er ist nicht gesonnen, zu kapitulieren.

Hier mögen einige Auszüge aus dem Tagebuch der Mutter folgen:

1888. Der Vater reist zur Missionskonferenz nach London; wohnt bei Lord Radslock und bei der Mutter des Generals Mackenzie. Hermann, der in den Ferien zur Großmutter reisen darf, bekommt dort plötzlich so unwiderstehliches Heimweh, daß er zu Fuß mit schwerem Rucksack müde und unerwartet zu Hause wieder eintrifft.

1889. Theodor (Hermanns elf Jahre älterer Stiefbruder) hat sich trotz Widerstand, Spott und Hohn eine Anstellung als 1. Tenorist an der deutschen Oper in Groningen erkämpft. (Durch Theodor und Karl Isenberg lernt Hesse schon früh die Chorwerke der Händel und Bach, die Mörikelieder des Hugo Wolf und wohl auch Mozart, Gluck und Haydn kennen. Der Musikerroman »Gertrud« erinnert daran.)

1890. »Hermanns Versetzung nach Göppingen sichtlich gesegnet... im Frühling«, sagt die Mutter, »schrieb ich mit viel Lust und Freude Bischof Hanningtons Leben und lebte mich recht warm in die Uganda-Mission ein.«

1891. Hermann besteht das Landexamen und tritt im Herbst ins Kloster Maulbronn ein. »So hat der liebe Gott treulich für ihn gesorgt... Im Frühling begann ich David Livingstones Leben, das mir viel Arbeit, aber auch sehr, sehr viel Freude und bleibenden Segen brachte.« Ein Besuch aus Afrika bringt einen grauen Papageien, den von Hesse sehr verehrten »Polly«, mit.

Dann das kritische Jahr 1892. Die Einleitung der Mutter zu diesem Jahr der ungezählten Aufregungen lautet: »Beim Rückblick muß ich gestehen, daß es eines der schwersten meines Lebens gewesen ist, und doch war Gottes Gnade und Treue groß über uns, und indem Er uns das schmerzhafte Kreuz auf legte, ließ Er uns seine allesvergütende, tröstende und herzbeseligende Liebe so erfahren, daß wir in Beugung und doch voll Hoffnung sprechen: Dein Wille geschehe.« Es ist das Jahr, in dem Hermann aus Maulbronn entwichen ist.

Ich übergehe den eigentlichen Bericht der Mutter. Es ist ein schmerzlicher Bericht über einen verzweifelten Kampf des Knaben um seine Selbstbestimmung; ein Kampf, in dem Lehrer, Ärzte, Pfarrer und Anstaltsdirektoren gegen den Jungen aufmarschieren. Man bringt ihn zu Blumhardt nach Bad Boll, und Blumhardt ist weit über die schwäbischen Landesgrenzen hinaus ein Name des Gebets. Vater Blumhardt hat die Gottliebin Dittus geheilt und gilt als Wunderarzt und Dämonenvertreiber; Mörike war sein Patient. Blumhardt Sohn, der berühmte Sozialtheologe, den Eingeweihte noch über den Vater stellen, hat von dem letzteren die Gnadengabe geerbt und aus Bad Boll ein schwäbisches Jasnaja Poljana gemacht. Beide waren mit der Familie Gundert-Hesse befreundet und verkehrten gelegentlich im Haus. Der Zürcher Professor Ragaz hat noch jüngst mit einem vielleicht zu welthistorischen Akzent, aber mit wieviel frommer Anmut das Bild der beiden schwäbischen Dämonenstreiter entworfen. Für Ragaz sind die beiden Blumhardt nach den Aposteln und Luther die namhaftesten Begründer und Leuchten des Gottesreiches auf Erden.

Die Blumhardt haben nun zwar die Gottliebin Dittus und den Dichter Mörike geheilt; von letzterem sagt man es wenigstens. Es gelingt ihnen aber nicht, den Dämon aus dem Sohne der Calwer Missionsfreunde zu vertreiben. Ist der Knabe besessen? Ist er es nicht? Glaubt er vielleicht nur ebenfalls ein Reich Gottes in sich zu tragen und einen Paradiesestraum verwirklichen zu können? Mit viel Güte würde er gewiß zu gewinnen sein; er will nur erkannt und verstanden werden. Aber kein Gebet wird ihn erreichen, mit dem nicht die Geste des Betenden, seine Stimme, seine Hand, sein ganzes Tun und Lassen, sein verstehendes Herz vor allem in Einklang sind. Die beiden Gegner messen sich – und Blumhardt Sohn unterliegt. Es gelingt ihm nicht, den kommenden Dichter zu erkennen; es gelingt ihm nicht, dessen Seele zu durchdringen. Sein Gebet bleibt ohne Frucht. Er schimpft und wütet nur, als der junge Freund, den er erst liebevoll aufgenommen und freundlich zu sich geboten hatte, einem Schwermutsanfall zu erliegen droht.

Die Mutter wird gerufen; sie kommt in höchster Bestürzung. Blumhardt poltert. Er dekretiert für eine Heilanstalt in Stetten, obgleich sogar die Ärzte dagegen sind. Es ist eine offenkundige Niederlage; der Exorzist ist gescheitert. Blumhardts Religiosität mag anderen Geistern helfen können; naiveren Gemütern. Sie vermochte den verzweifelt sich wehrenden »Chattus puer« nicht zu gewinnen, zu lösen, zu binden. Diese Religiosität kommt nicht aus einem Himmel, dessen Überlegenheit die gehetzte Knabenseele anerkennen und verehren könnte; der sie sich erschließen muß. Diese Frömmigkeit erreicht und durchdringt den Grund der Konflikte nicht; sie hat nicht jenes göttliche Wissen, das auch die menschlichen Dinge umfaßt.

Freiwillig fügt sich der Jüngling in die ihn erleichternde Gartenarbeit unter Aufsicht eines sympathischen Direktors. Von dort ins Vaterhaus zurückgekehrt und abermals infolge heftiger häuslicher Aufregungen nach Stetten geschickt, bittet er von dort in Briefen, zur Erholung nach Basel reisen zu dürfen. Er wird in derselben Knabenanstalt aufgenommen, aus der er damals stumm und gedrückt zur Mutter zurückkam; gleichwohl tut ihm der Aufenthalt in der Nähe der Schützenmatte, bei Pfarrer Pfisterer gut. Der Pfarrer wendet sich an den Vater, der Sohn darf das Gymnasium besuchen, der Bann ist gebrochen.

Die um diese Erlebnisse kreisende Traumbahn nun, die 1901 mit »Lauscher« beschritten wurde, wird im »Demian« fortgesetzt, um im »Steppenwolf« mit der Auflösung des eigenen Ich zu enden. Jemand, der die Entstehung des »Demian« aus nächster Nähe miterlebt hat, vertraute mir, daß dieser Name aus damaligen dämonologischen Studien des Dichters stamme und daß Dämon-Demian in dem Worte daemoniacus ihre gemeinsame Wurzel haben. Die Figur des Steppenwolfes ist ja ebenfalls eine dämonische Inkarnation. Das erste Hervortreten einer scheinbar antinomistischen Veranlagung ist ohne Zweifel durch die Begegnung mit Pfarrer Blumhardt gegeben. Die Familie des Dichters aber weiß schon aus dem zartesten Kindesalter von einem ganz schlimmen Furor zu berichten, wo man kaum wußte, was man mit ihm machen sollte.

Im »Demian« sind bizarre Wunschbilder gestaltet, die ohne Kenntnis der Voraussetzungen ebenso wie im »Steppenwolf« erstaunen und befremden. Demian, zu dem es kein Urbild aus der Realität gibt, keinen Freund, der etwa als Muster gedient haben könnte, Demian ist ein Wesensteil des Dichters selbst. Emil Sinclair aber, dessen Jugendgeschichte erzählt wird, ist ebenso wie Hermann Lauscher ein Pseudonym. Demian, Hesses Traum-Ich, von dem im Sinclair-Roman geflüstert wird, es lebe mit seiner Mutter im Inzest; Demian, der die Abraxas-Mythologie vertritt, die gnostische Umsturzidee, ist der Verführer Sinclairs. Von Emil Sinclair aber heißt es im Roman, daß er mit Frau Eva, der Mutter Demians, ebenfalls in die innigste Beziehung tritt. Frau Eva ist die Mutter an und für sich, das Natursymbol der Mutter, die moderne Isis. So faßte sie noch jüngst Bernoulli in seinem bedeutsamen Bachofen-Werke auf.

Hesses Seminaristenkonflikt aber ist die wahnwitzige, ihm damals kaum bewußte Liebe zum Symbol der Mutter in ihrer unbegrenzten Hingabe; zu derselben Mutter, die in der Erfahrungswelt ein so kühles, jenseitiges Tagebuch führt; die von ihrem elften bis zu ihrem fünfzehnten Jahr in der Pietistensiedlung Kornthal erzogen ist, von noch bestehenden Herrnhutischen Gemeinden, der strengsten vielleicht in ganz Deutschland. Die Mutter hat sich mit siebzehn Jahren »bekehrt«, das heißt Gott geweiht, und das ist bei ihr kein bloßes Wort. Ihr ganzes Leben ist ein Versuch, gleich ihrem Vater dem Vorbild der großen Missionsheiligen, einem Jeremias Flatt, einem Henry Martyn nachzueifern. Sie ist darum keineswegs eine Frömmlerin und ein Unmensch. Sie ist nicht grausam, glaubt es wenigstens nicht zu sein. Sie liebt ihre Kinder, singt und spielt mit ihnen. Aber ihr Heroismus ist so stark, daß er sich wider Willen ausprägt.

Sie hat unberührbare, unbetretbare Sphären ihrer Inbrunst, ihrer Glut. Sie liebt sehr die Poesie; sie dichtet selbst und rezitiert mit schöner, begeisterter Stimme Balladen. Sie liebt Eichendorff in seinem jenseits verankerten Wesen und ist eine Virtuosin im Erzählen. Sie liebt die Musik und hat die Stimme wie eine helle Glocke; doch sie liebt im Grunde nur Psalmen und Choräle. Eine warme Kälte strömt von ihr aus. Ihr französisches Calvinistenblut hat eine Leidenschaft für das Unbedingte, das Letzte und Höchste im Leben; eine Leidenschaft, die der Sohn mit ihr teilt. Ihre Ehe dient den Zwecken der Mission und der Verbreitung des Evangeliums. Ihre Liebe ist von Gott und für ihn; nicht von den Menschen und für Menschen. Sie liebt ihre Kinder, aber als Geschöpfe Gottes, und sie würde sich einen Skrupel und eine Selbstanklage daraus machen, diese ihre Kinder einem armen Waisenkinde vorzuziehen. Diese Mutter ist unzugänglich für jeden sinnlichen Impuls; für jede narzißtische Eigenliebe, die um sie werben könnte. Ja, jedes Anzeichen von Sinnentrieb und Unbeherrschtheit, von unbewachter Regung und gar von Exzeß wird sie verletzen, wird sie tiefer in ihre andere Welt entrücken; wird Kälte und Befremdung zur Folge haben.

»Der Fremde« heißt ein Roman von René Schickele, dessen Temperament demjenigen Hesses mitunter verwandt scheint. In diesem Roman ist das Verhalten eines jungen, aufgewühlten Menschen zu einer ähnlich gearteten katholischen Mutter beschrieben, sogar unter ähnlichen seelischen Umständen. »Sie war das Symbol einer fernen Liebe gewesen«, so heißt es da, »die ihm ganz gehörte. Nun fühlte er plötzlich, daß sie sich ihm entzog und ihre Eigenheit gegen ihn, der kein Kind mehr war, behauptete. Und dann schoß es glühend in ihm auf: er wollte sie zwingen, ihn anders als bisher zu lieben. Das Weib in der Mutter gehörte ihm nicht. Er entdeckte plötzlich, daß er danach dürstete, daß dies die jahrelange Unruhe seiner Sehnsucht gewesen war und daß er jetzt alles gewänne oder verlöre... Ein einziges Ja mit verschleierten Augen und sonst nichts. Das nähme er mit ins Leben; er mußte eine einzige Sicherheit haben, um nicht die Ungewißheit seiner Jugend gegen eine andere einzutauschen. Er hatte plötzlich allen Glauben an die Zukunft verloren. Er stand in einem Zusammenbruch und hielt sich krampfhaft an ihr, der einzig Liebenswerten, fest.«

Oh, das Verhalten im »Demian« ist dennoch anders. Auch im »Demian« spielt der Vater zwar keine sichtbare Rolle; aber es herrscht dafür eine absolute Gebundenheit an den Freund; eine erschreckende, primitive Abhängigkeit von Mann zu Mann; vom Schwachen zum Stärkeren, von demjenigen, der Schicksalsschläge erleidet, zu demjenigen, der wie ein Gott oder Dämon, wie das Fatum selbst, als der Eingeweihte und Mystagoge das Schicksal lenkt. Und dadurch ist Hesse dem anderen Dichter gegenüber komplizierter; auch gegenüber dem Urbilde der Mutter. Sinclair vermag sie nicht ungeteilt zu lieben; nur sein innerster, verhohlener Traum, sein Doppelgänger und höheres Ich, nur Demian kennt und liebt sie. Sinclair versucht nicht einmal zu entscheiden, ob er mehr den Freund oder die Mutter liebt; den väterlichen Beschützer oder das Bild seiner Verehrung, das Urbild der Frau, das Urbild der Sinne, Frau Eva. Die wirkliche Mutter des Dichters aber heißt nicht Eva, sondern Maria.


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