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Madame Vauquer, geborene de Conflans, ist eine alte Frau, die seit 40 Jahren in Paris, und zwar in der Rue Neuve-Ste-Geneviève, zwischen dem Quartier Latin und dem Faubourg St-Marcel, eine Familienpension leitet. Diese unter dem Namen Haus Vauquer bekannte Pension beherbergt Männer wie Frauen, Jünglinge und Greise, ohne daß bisher die geringste üble Nachrede über die Moral dieses achtbaren Unternehmens laut geworden wäre. So hatte man denn auch 30 Jahre hindurch kein junges Mädchen in dem Hause gesehen, und wenn ein junger Mann dort mietete, so geschah es nur deshalb, weil er nur einen überaus schmalen Wechsel erhielt. Im Jahre 1819 jedoch, zur Zeit, wo unser Drama beginnt, wohnte in dem Hause ein armes junges Mädchen. Der Begriff »Drama« ist nun zwar durch den Mißbrauch, den unsere heutige, auf die Tränendrüsen wirkende Literatur mit ihm getrieben hat, in Verruf geraten: Trotzdem muß man ihn hier aber anwenden. Nicht, weil etwa unsere Geschichte im eigentlichen Sinne des Wortes dramatisch wäre. Aber wenn wir an ihrem Ende stehen, wird man doch vielleicht einige Tränen vergossen haben: intra muros et extra, d. h. also nicht nur hier in Paris, sondern auch in der Provinz. Wird sie außerhalb von Paris aber verstanden werden? Man darf füglich daran zweifeln. Die Eigentümlichkeiten des Schauplatzes mit seiner Fülle von Einzelheiten und seinem Lokalkolorit können nur zwischen dem Montmartre und den Höhen von Montrouge voll gewürdigt werden, in diesem berühmten Tal, von dessen baufälligen Häusern unablässig der Gips rieselt und dessen Rinnsteine schwarz sind von Schmutz; in diesem Tal echter Leiden und oft falscher Freuden, in diesem Tal, wo die dauernde Erregung so groß ist, daß sich schon etwas ganz Außerordentliches zutragen muß, um ein Interesse von einiger Dauer zu gewinnen. Und gleichwohl finden sich hier mitunter Leiden, die durch das Übermaß der Laster und Tugenden groß und feierlich werden. Vor ihnen machen die Egoismen, machen die persönlichen Interessen halt und wandeln sich in Mitleid; aber der Sturmwagen der Zivilisation wird, wie der Wagen des Götzen Jaggernaut, selten einmal durch ein standhafteres Herz aufgehalten. Seine Räder gehen darüber hinweg, er setzt seinen Siegeszug fort, und das Herz bleibt gebrochen zurück. Ähnlich werdet auch Ihr Euch verhalten, meine Leser, Ihr, die Ihr dieses Buch in Euren weißen gepflegten Händen haltet, tief in den weichen Sessel geschmiegt, und nun eine kurzweilige Lektüre erwartet. Denn wenn Ihr das Geheimnis des unglücklichen Vaters Goriot gelesen habt, werdet Ihr mit Appetit dinieren und Eure Gefühllosigkeit dem Autor aufs Konto schreiben, ihn der Übertreibung und der poetischen Unwirklichkeit zeihend. Aber Ihr müßt wissen: Dieses Drama ist nicht erdichtet, es ist kein Roman. All is true, es ist so wahrhaft, daß jeder die Elemente unserer Erzählung bei sich selbst, in seinem eigenen Herzen, wiederfinden kann.
Das Haus, in dem sich die Familienpension befindet, ist das Eigentum der Madame Vauquer. Es liegt im unteren Teil der Rue Neuve-Ste-Geneviève, an der Stelle, wo der Boden sich so steil gegen die Rue de l'Arbalète senkt, daß die Straße nur selten von Wagen passiert wird. Deshalb ist es so still hier, zwischen dem Dom des Val-de-Grâce und dem Panthéon, zwischen diesen beiden Bauwerken, die die Atmosphäre durch ihre gelbgetönten Schatten färben und ihre Umgebung durch das strenge Aussehen ihrer Kuppeln düster stimmen. Hier sind Pflaster und Rinnsteine trocken, das Unkraut wächst an den Mauern. Der gleichgültigste Mensch wird hier genauso traurig wie alle Passanten dieser Straßen, das Geräusch eines Wagens wird zu einem Ereignis, die Häuser sind düster, und die Mauern atmen Gefängnisluft. Der Pariser, der sich hierher verirrt, findet nur Familienpensionen und Erziehungsinstitute, Elend und Langeweile, ein langsam hinsterbendes Alter und eine Jugend, die zu harter Arbeit gezwungen ist. Kein Viertel von Paris ist schrecklicher und – sagen wir es ruhig – unbekannter. Die Rue Neuve-Ste-Geneviève ganz besonders ist wie ein Bronzerahmen, der unserer Erzählung angegossen ist, einer Erzählung, auf die man sich gar nicht genug durch trübe Gedanken und dunkle Stimmungen vorbereiten kann – ganz so wie das Tageslicht von Stufe zu Stufe abnimmt und die Stimme des Führers dumpfer wird, wenn die Besucher der Katakomben hinabsteigen. Wie wahr ist dieser Vergleich! Wer vermag zu entscheiden, was schrecklicher anzusehen ist: Fühllose vertrocknete Herzen oder hohle Totenschädel?
Die Fassade der Pension geht auf ein Gärtchen, so daß das Haus rechtwinklig auf die Rue Neuve-Ste-Geneviève stößt. Von hier aus kann man es in seiner ganzen Tiefe übersehen. Die Vorderseite entlang zieht sich, zwischen Haus und Gärtchen, etwa 2 m breit, eine Kieselschicht, davor ein sandgestreuter Weg, der mit Geranium, Oleander- und Granatbäumchen in blauweißen Fayencekübeln eingefaßt ist. Man betritt diesen Weg durch ein Tor, über dem ein Schild mit folgender Inschrift angebracht ist: Haus Vauquer. Darunter liest man: Bürgerliche Pension für Familien und Einzelpersonen. Tagsüber geben die Scheiben der Haustür, die mit einer lärmenden Glocke versehen ist, den Blick frei auf einen kleinen Vorflur, dessen Wand, der Straße gegenüber, mit einer Arkade aus gemaltem grünem Marmor – ein Künstler des Stadtviertels ist dafür verantwortlich – verziert ist. In der Scheinnische dieser Malerei steht eine Amorstatue. In dem abgeblätterten Lack, der die Figur bedeckt, könnten Freunde des Symbolismus vielleicht eine Anspielung auf das Liebesleben von Paris vermuten, dessen Folgen einige Schritte weiter, in dem Hospital nebenan, kuriert werden. Eine halbverwischte Inschrift unter dem Sockel verrät durch ihre Begeisterung für Voltaire, den sie zitiert, die Zeit, da dieses Schmuckstück entstand: das Jahr 1777, in dem Voltaire nach Paris zurückkehrte. Die Inschrift lautet:
Wer du auch seist, sieh deinen Meister hier auf Erden,
Er ist es, war es oder wird es werden.
Bei Anbruch der Dunkelheit wird die Glastür mit Fensterläden geschlossen. Das Gärtchen, dessen Breite der Länge der Fassade entspricht, wird von der Straßenmauer und der Mauer des Nachbarhauses eingefaßt. Dieses Haus ist von einem dichten Efeumantel umgeben, der es völlig verbirgt und die Augen der Passanten auf sich lenkt, denn für Paris bedeutet dies schon einen malerischen Effekt. An den Mauern ziehen sich Spaliere und Weinstöcke hin, deren jammervolle staubige Früchte für Madame Vauquer eine Jahr um Jahr wiederkehrende Sorge und der Gegenstand ihrer Unterhaltungen mit den Pensionären sind. An der Mauer läuft ein schmaler Weg entlang, der zu einer Lindenlaube führt. Zwischen den beiden Seitenwegen liegt ein Artischockenbeet, flankiert von umwickelten Obstbäumen und eingefaßt von Sauerampfer, Lattich und Petersilie. In der Lindenlaube steht ein runder grüner Tisch mit einigen Stühlen ringsherum. In den Hundstagen nehmen hier die Gäste, die reich genug dazu sind, ihren Kaffee bei einer Temperatur, die Eier ausbrüten könnte.
Die Fassade, die außer den Mansarden drei Etagen aufweist, ist aus Bruchsteinen gebaut und mit jener gelben Farbe gestrichen, die fast allen Pariser Häusern ein so gemeines Aussehen gibt. Die fünf Fenster jeder Etage haben kleine, viereckige Scheiben, und ihre Jalousien sind alle verschieden hoch aufgezogen, so daß ein wirres Durcheinander von Linien entsteht. In der Seitenfront hat das Haus je zwei Fenster; die des Erdgeschosses sind durch Eisengitter geschützt. Hinter dem Gebäude liegt ein etwa 20 Fuß breiter Hof, auf dem Schweine, Hühner und Kaninchen einträchtig zusammen hausen. Im Hintergrund steht ein Schuppen für das Holz. Zwischen diesem Schuppen und dem Küchenfenster ist ein Speisebehälter angebracht, unter dem das Spülwasser aus der Küche abfließt. Der Hof hat eine kleine Tür, die auf die Rue Neuve-Ste-Geneviève geht und durch die die Köchin die Speisereste auf die Straße befördert, wenn sie unter großem Wasseraufwand die Gosse, die sonst die Pestilenz verbreiten würde, sauber macht.
Das Erdgeschoß, das seiner Lage nach natürlich vor allem für den Pensionsbetrieb in Frage kommt, besteht aus einem Vorzimmer, das von zwei Fenstern erhellt wird und in das man durch eine Glastür eintritt. Dieser Salon steht mit dem Speisezimmer in Verbindung. Er ist von der Küche durch eine Treppe getrennt, deren Holzstufen gestrichen und gebohnert sind. Nichts ist trübseliger als dieser Salon mit seinen Sesseln und Stühlen, die mit hell und dunkel gestreiftem Rips bezogen sind. In der Mitte steht ein runder Tisch mit Marmorplatte, darauf ein Service aus weißem Porzellan mit halbverblichener Goldverzierung, wie man es heute überall antrifft. Das Zimmer, dessen Holzfußboden recht schäbig ist, ist bis zur Reichhöhe getäfelt. Der übrige Teil der Wände ist mit einer lackierten Tapete bedeckt, die die Hauptszenen des »Telemach« darstellt und deren klassische Persönlichkeiten koloriert sind. Die Fläche zwischen den beiden Fenstern zeigt das Fest, das Kalypso zu Ehren des jungen Telemach gibt. Seit 40 Jahren weckt dieses Gemälde die Spottsucht der jüngeren Pensionäre, die über der Situation zu stehen glauben, wenn sie sich über das karge Mahl lustig machen, zu dem ihre Armut sie verurteilt. Den steinernen Kamin, dessen stets sauberer Rost bekundet, daß nur bei großen Gelegenheiten Feuer in ihm entzündet wird, schmücken zwei Vasen mit alten, verstaubten künstlichen Blumen. Sie leisten einer Uhr aus bläulichem Marmor Gesellschaft, die von schlechtestem Geschmack zeugt. Dieser Raum strömt einen Geruch aus, für den es der Sprache an einer Bezeichnung fehlt und den man »Pensionsgeruch« nennen müßte. Es riecht dumpfig, schimmlig, ranzig, es macht einen frösteln, es schlägt auf den Atem, durchdringt die Kleider; es ist die Luft eines Zimmers, in dem gespeist worden ist, es riecht nach Dienstbotenzimmer, nach Speisekammer und Krankenhaus. Aber wenn man dieses Zimmer mit dem daran anstoßenden Speisesaal vergliche, so würde man es, trotz seiner abgeschmackten Scheußlichkeit, so elegant und parfümiert finden, wie ein Boudoir sein soll. Das Speisezimmer, das ganz getäfelt ist, hatte früher einmal einen Anstrich, dessen Farbe heute nicht mehr festzustellen ist. Diese Farbe bildet den Untergrund für eine dicke Schmutzschicht, die bizarre Figuren gebildet hat. Das Zimmer ist rings umgeben von klebrigen Büfetts, auf denen beschädigte trübe Karaffen stehen, metallbeschlagene Filzuntersätze und Haufen von Tellern aus dickem Tournaier Porzellan mit blauen Rändern. In einer Ecke befindet sich ein Schrank mit numerierten Fächern zur Aufnahme der wein- und fettbefleckten Servietten aller Kostgänger. Man findet hier jene sogenannten unverwüstlichen Möbel, die überall längst der Ächtung verfallen sind und die hier wirken wie die Trümmer der Zivilisation in einem Krankenhaus für Unheilbare. Da sieht man ein Barometer mit einem Kapuziner, dessen Erscheinen Regen bedeutet, weiterhin abscheuliche Gravüren, die einem den Appetit nehmen, alle in schwarzen Lackrahmen mit vergoldeten Streifen; dann steht da eine Wanduhr aus Schildpatt mit Messingverzierungen, ferner ein grüner Ofen, Argander Lampen, auf denen der Staub sich mit dem Öl vermengt hat, ein Tisch mit Wachstuchdecke, die so schmutzig ist, daß mutwillige Dinergäste ihren Namen mit dem Finger darauf eintragen können, wacklige Stühle, kleine Strohmatten, deren Flechtwerk sich dauernd auflöst, ohne jedoch je unbrauchbar zu werden, endlich elende Schüsselwärmer mit defekten Scharnieren, deren Holz langsam verkohlt. Um ganz zu schildern, wie alt, wurmstichig, faul, wacklig, verbraucht und dem Ende nahe dieses Mobiliar ist, müßte man eine so lange Beschreibung geben, daß das Interesse an unserer Geschichte davon zu sehr beeinträchtigt würde und daß uns der eilige Leser nicht verzeihen könnte. Der rotgestrichene Fußboden ist voller Vertiefungen, die vom Reinigen und Anstreichen herrühren. Kurzum – hier herrscht überall ein prosaisches Elend, eine sparsame, konzentrierte, fadenscheinige Misere. Was noch nicht völlig vom Dreck überzogen ist, hat auch Schmutzflecke; und wenn es noch keine Löcher hat und sich noch nicht in Lumpen hüllt, es wird doch in Verfall übergehen.
Das Speisezimmer zeigt sich in seinem wahren Glanze in dem Augenblick, wenn gegen 7 Uhr morgens die Katze der Madame Vauquer, noch vor ihrer Herrin, erscheint, auf die Büfetts springt, an der Milch in den mit Tellern zugedeckten Töpfen schnüffelt und ihr Morgenschnurren hören läßt. Bald taucht auch die Witwe Vauquer selbst auf, eine Tüllhaube auf dem Kopf, aus der einige Strähnen schlecht geordneter falscher Haare hervorhängen. Beim Gehen schleppt sie ihre ausgetretenen und sozusagen grimassenschneidenden Pantoffel nach. Ihr verblühtes, fleischiges Gesicht, dessen Mitte eine Nase wie ein Papageienschnabel ziert, ihre kleinen dicken Hände, ihre gedrungene Figur, die sie einer Kirchenratte ähnlich macht, ihre schlotternde Morgenjacke, alles das steht ganz im Einklang mit dem Speisesaal, aus dessen Ecken das Elend grinst, in dem sich der Geiz verkrochen hat, dessen stinkende schale Luft Madame Vauquer aber ohne Beklemmung einatmet. Ihr Gesicht, auf dem etwas von der Frische des Herbstreifes liegt, die in Runzeln gebetteten Augen, deren Ausdruck zwischen einem Balletteusenlächeln und dem sauertöpfischen Blinzeln des Gerichtsvollziehers schwankt, ihre ganze Person überhaupt macht die Atmosphäre ihrer Pension deutlich, ebenso wie die Pension ihre Inhaberin kennzeichnet. Bagno und Kerkermeister, eines läßt sich nicht vom andern trennen. Die Aufgeschwemmtheit dieser kleinen Frau ist das Ergebnis ihrer Lebensweise, so wie der Typhus die Folge der Ausdünstungen des Hospitals ist. Ihr Überwurf aus gestrickter Wolle, unter dem der aus einer alten Robe hergestellte Rock durchscheint – seine Watte quillt aus dem zerschlissenen Stoff sichtbar hervor –, sie sind Symbol und Inbegriff des Salons, des Speisesaales und des Gärtchens, sie lassen auf die Küche schließen und die Pensionäre vorausahnen.
Wenn Madame Vauquer anwesend ist, ist das Schauspiel vollständig. Sie ist etwa 50 Jahre alt und ähnelt all den Frauen, »die Unglück gehabt haben«. Sie hat den glasigen Blick und die unschuldsvolle Miene einer Kupplerin, die sich gleich ereifern wird, um einen höheren Preis herauszuschlagen, und die zu allem bereit ist, wenn etwas für sie selbst dabei herausspringt, die Georges oder Pichegru ausliefern würde, wenn sie es noch könnte. Trotzdem ist sie im Grunde eine »gute Frau«, wie die Pensionäre sagen, die sie für arm halten, weil sie ebenso hustet und stöhnt wie sie selber. Was war wohl ihr Mann gewesen? Sie selbst äußert sich niemals über den verstorbenen Vauquer. Wie hatte er sein Vermögen verloren? »Er hat Unglück gehabt«, erwidert Madame Vauquer stets, wenn man sie danach fragt. Er hatte sie schlecht behandelt, ihr nur die Augen zum Weinen hinterlassen, ihr Haus, um zu leben, und das Recht, mit keinem Unglücklichen Mitleid zu haben, weil sie, wie sie es ausdrückte, alles erduldet hatte, was man nur erdulden kann. Sobald Sylvia, die dicke Köchin, das Geschlurfe ihrer Herrin hörte, beeilte sie sich, den im Haus wohnenden Pensionären das Frühstück zu servieren.
In der Regel abonnierten die Gäste, die auswärts wohnten, nur auf das Diner; das kostete 50 Francs im Monat. Zur Zeit, wo diese Geschichte beginnt, betrug die Zahl der Pensionsgäste sieben. In der ersten Etage lagen die beiden besten Wohnungen des Hauses. Madame Vauquer bewohnte das einfachere Appartement, das andere Madame Couture, die Witwe eines Zahlmeisters der republikanischen Armee. Bei ihr lebte ein sehr junges Mädchen, Victorine Taillefer, an dem Madame Couture Mutterstelle vertrat. Beide Damen zahlten 1800 Francs jährlich Pension. Von den beiden Appartements des zweiten Stockes bewohnte das eine ein alter Herr namens Poiret, das andere ein Mann von etwa 40 Jahren mit schwarzer Perücke und gefärbtem Backenbart, der sich als ehemaliger Kaufmann ausgab und Vautrin hieß. Die dritte Etage bestand aus vier Zimmern. Zwei davon waren ständig vermietet, das eine an eine alte Jungfer, Mademoiselle Michonneau, das andere an einen früheren Nudel- und Stärkefabrikanten, der Vater Goriot genannt wurde. Die beiden anderen Zimmer waren für »Zugvögel« bestimmt, für arme Studenten, die ebenso wie Vater Goriot und Mademoiselle Michonneau nur 45 Francs monatlich für Wohnung und Essen ausgeben konnten. Madame Vauquer lag an der Anwesenheit solcher Zugvögel nicht sonderlich viel, und sie nahm sie nur, wenn sich nichts Besseres fand: Sie aßen zu viel Brot. Zur Zeit wurde eines von diesen Zimmern von einem jungen Mann bewohnt, der aus der Gegend von Angoulême stammte und Jura studierte. Seine Familie legte sich die größten Entbehrungen auf, um ihm 1200 Francs jährlich senden zu können. Eugen de Rastignac – so hieß er – war einer von den jungen Menschen, die die Armut zur Arbeit erzieht, die schon in jungen Jahren die Hoffnungen begreifen, die ihre Eltern auf sie setzen, die sich auf eine große Laufbahn vorbereiten, indem sie ihren Studiengang genau regeln und ihn von vornherein den künftigen gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen, um später die ersten zu sein, die sie ausnutzen; ohne Rastignacs sorgsame Beobachtungen und ohne die Geschicklichkeit, mit der er sich in den Pariser Salons zu bewegen wußte, fehlte unserer Geschichte die Wahrheit. Seinem Scharfsinn und seinen Bemühungen ist es gelungen, das Geheimnis eines furchtbaren Schicksals aufzuklären, das ebenso sorgsam von denen verborgen wurde, die es verursacht hatten, wie von dem, der es erdulden mußte.
Über der dritten Etage befanden sich ein Wäscheboden sowie zwei Mansarden, in denen der Hausbursche Christoph und die dicke Köchin Sylvia schliefen. Neben den sieben Hauspensionären hatte Madame Vauquer jahraus, jahrein noch acht Studenten der Rechte und der Medizin sowie zwei oder drei in der Nähe wohnende Stammgäste, alle nur auf das Diner abonniert. Im Speisesaal waren mittags daher 18 Personen versammelt, während etwa 20 Platz gehabt hätten. Morgens aber fanden sich nur die sieben Mieter ein, deren Zusammensein dem Frühstück den Charakter einer Familienmahlzeit verlieh. Alle kamen in Pantoffeln herab und jeder erlaubte sich vertraulich Bemerkungen über Verhalten und Aussehen der auswärts wohnenden Gäste wie über die Ereignisse des verflossenen Abends, alles mit der ganzen Offenheit langer Bekanntschaft. Diese sieben Pensionäre waren die Lieblinge der Madame Vauquer, die ihnen mit mathematischer Genauigkeit ihre Bedienung je nach der Höhe des Pensionspreises zuteil werden ließ. Von diesem einzigen Standpunkt aus wurden die Wesen, die der Zufall hier zusammengeführt hatte, betrachtet. Die beiden Mieter der zweiten Etage zahlten nur 72 Francs im Monat. Dieser billige Preis, den man nur im Faubourg St-Marcel, zwischen der Bourbe und der Salpêtrière zahlt (und von dem nur Madame Couture eine Ausnahme machte), beweist, daß die Pensionäre sich mehr oder weniger offenkundig in einer unglücklichen Lage befinden mußten. Das trostlose Aussehen des Hausinneren wiederholte sich dann auch in der Kleidung seiner Gäste, die bei allen gleich abgerissen war. Die Männer trugen Überröcke, deren Farbe zweifelhaft geworden war, Schuhe, wie sie in den eleganten Vierteln in die Rinnsteine geworfen werden, zerschlissene Wäsche, kurz, eine Kleidung, die sozusagen in den letzten Zügen lag. Die Frauen erschienen in unmodernen, gefärbten und wieder ausgeblichenen Kleidern mit alten geflickten Spitzen, abgenutzten Handschuhen, gelblich gewordenen Halskrausen und ausgefransten Fichus. Im Gegensatz zu ihrer Kleidung waren jedoch die Pensionäre fast durchweg recht solid gebaut. Sie zeigten alle eine Konstitution, die den Stürmen des Lebens getrotzt hatte, kalte, harte Gesichter, die das Leben abgeschliffen hatte wie außer Kurs gesetzte Münzen. In welken Mündern zeigten sich gierige Zähne. Alle diese Pensionäre ließen frühere oder gegenwärtige Dramen ahnen, keine Dramen, wie sie sich im Rampenlicht und zwischen gemalten Kulissen abspielen, sondern wirkliche, stumme Dramen, Dramen ohne Pausen, die einem das Herz heiß machen, so kalt die handelnden Personen selbst auch sein mögen.
Das alte Fräulein Michonneau trug über ihren ermüdeten Augen einen schmutzigen Schirm aus grünem Taft, zusammengehalten durch einen Messingdraht, der den Engel des Mitleids zum Entsetzen bringen konnte. Ihr Schal mit seinen dünnen jämmerlichen Fransen schien ein Skelett zu bedecken, so knochig waren die Formen, die er verbarg. Welche Säure konnte dieses Geschöpf seiner weiblichen Formen beraubt haben? Sie mußte einmal hübsch und ansehnlich gewesen sein: War es das Laster, war es der Kummer, war es die Begierde gewesen? Hatte sie zuviel geliebt? War sie Kleiderhändlerin gewesen oder Kurtisane? Büßte sie die Triumphe einer ausgelassenen Jugend, die die Freuden gesucht hatte, mit einem Alter, vor dem die Passanten auf der Straße flohen? Ihr glatter Blick ließ einen erschauern, ihre verkrüppelte Figur war eine Drohung. Sie hatte die schrille Stimme einer Grille, die in ihrem Busch das Nahen des Winters kündet. Sie erzählte, sie habe einen alten blasenkranken Herrn gepflegt, den seine Kinder verlassen hatten, weil sie ihn ohne Vermögen glaubten. Der Greis hatte ihr eine Leibrente von 1000 Francs vermacht, die immer wieder von den Erben, deren Schmähungen das alte Fräulein ausgesetzt war, angefochten wurde. Obwohl die Leidenschaften ihr Gesicht verwüstet hatten, fand man in ihm doch noch Spuren einer Feinheit des Gewebes und einer Zartheit, die vermuten ließ, daß ihr Körper noch einige Reste von Schönheit bewahrt hatte.
Monsieur Poiret war so etwas wie ein lebender Mechanismus. Wenn man ihn in einer Allee des Jardin des Plantes promenieren sah wie einen grauen Schatten, auf dem Kopf eine alte platte Mütze, wie er kaum seinen Stock mit dem gelb gewordenen Elfenbeinknopf in der Hand halten konnte, wie die verblichenen Schöße seines Bratenrocks um ihn flatterten, mit seiner schlotternden Hose, in der die Beine zitterten wie die eines Betrunkenen, mit seiner schmutzigen weißen Weste und seinem schäbigen Brusttuch aus gewöhnlichem Musselin, das schlecht zu der Krawatte um seinen Truthahnhals paßte, so mochte sich mancher fragen, ob dieser Schattenriß zu der kühlen Rasse der Söhne Japhets gehörte, von denen der Boulevard des Italiens wimmelt. Was für ein Beruf hatte ihn so runzlig gemacht? Welche Leidenschaften hatten seinen jede Karikatur übertreffenden Zwiebelkopf geprägt? Was mochte er gewesen sein? Vielleicht Beamter im Justizministerium, in dem Büro, das die Rechnungen der Henker zu erledigen hat, die Kosten der Augenbinden für die zum Tode verurteilten Mörder, der Kleie für die Körbe, die die Köpfe der Guillotinierten aufnehmen, der Schnur für das Fallbeil? Vielleicht war er Kassenbeamter am Tor eines Schlachthauses gewesen oder Unterinspektor der Gesundheitspolizei. Auf jeden Fall mußte dieser Mann einer der Lastesel unserer großen sozialen Mühle gewesen sein, einer jener Pariser Ratons, die ihre Bertrands nicht einmal kennen, einer der Zapfen, um die die Strudel des Elends und des Schmutzes kreisen, einer von den Leuten, bei deren Anblick man sagt: es muß wohl auch solche Menschen geben. Das schöne Paris weiß nichts von diesen Figuren, die moralische oder körperliche Leiden blutleer gemacht haben. Aber Paris ist ein wirklicher Ozean. Wirft man das Senkblei aus, so wird man niemals seine Tiefe ermessen können. Man mag Paris durchlaufen und beschreiben: Welche Mühe man sich auch dabei gibt, so zahlreich und so sorgfältig auch die Erforscher dieses Meeres sein mögen, immer wird man auf eine unbekannte Stelle stoßen, auf eine unentdeckte Höhle, auf Blumen, Perlen, Ungeheuer, auf irgend etwas Unerhörtes, das die literarischen Taucher vergessen haben. Das Haus Vauquer ist eine dieser seltsamen Monstrositäten.
Zwei Gestalten bildeten einen auffallenden Kontrast zu den übrigen Pensionären und Stammgästen. Mademoiselle Victorine Taillefer hatte zwar die krankhafte Blässe junger bleichsüchtiger Mädchen, und obwohl sich auch auf ihren Zügen das Leid malte, das den Grundzug dieses Gemäldes ständigen Jammers bildet: ihr Gesicht war nicht alt, ihre Bewegungen und ihre Stimme lebhaft, trotz ihrer ärmlichen Art und ihrer scheuen Zurückhaltung. Dieses junge Unglückswesen glich einem Baum mit verwelkten Blättern, den man in ein widriges Gelände verpflanzt hat. Ihr zarter Teint, ihr rötlich-blondes Haar, ihre zierliche Figur hatten die Grazie, die die modernen Dichter in den Statuetten des Mittelalters entdecken. Ihre dunkelgrauen Augen sprachen von Sanftmut und christlicher Resignation, ihre einfachen, billigen Kleider verrieten jugendliche Formen. Sie war hübsch, wenn man sie mit ihrer Umgebung verglich. In glücklicherer Lage wäre sie sicher reizend gewesen: Das Glück ist die Poesie der Frauen, wie die Toilette ihre Schminke ist. Wenn die Freuden eines Balles ihren Rosenschimmer über dieses bleiche Gesicht gebreitet hätten, wenn die Annehmlichkeiten eines eleganten Lebens diese schon leicht eingefallenen Wangen gerundet und getönt hätten, wenn diese traurigen Augen von der Liebe belebt worden wären, so hätte es Victorine mit den schönsten jungen Mädchen aufnehmen können. Es fehlte ihr das, was die Frauen zum zweiten Male zur Frau macht, der Putz und die Liebesbriefe.
Ihre Geschichte hätte den Stoff zu einem Roman liefern können. Ihr Vater glaubte Gründe zu haben, sie nicht als rechtmäßig anzuerkennen, und wollte sie nicht in seinem Hause behalten. Er gewährte ihr nur 600 Francs jährlich und hatte seine Besitztümer zu barem Geld gemacht, um alles seinem Sohn zu hinterlassen. Madame Couture, eine entfernte Verwandte – bei ihr war die Mutter Victorines vor Verzweiflung gestorben –, nahm sich der Waise wie ihres eigenen Kindes an. Unglücklicherweise besaß die Witwe des Zahlmeisters der republikanischen Armee nur ihr Witwengeld und ihre Pension. So mußte sie also vielleicht einmal dieses arme Mädchen ohne Kenntnisse und Hilfsquellen mittellos zurücklassen. Die gute Frau führte Victorine alle Sonntage zur Messe und alle 14 Tage zur Beichte, um auf jeden Fall ein frommes Mädchen aus ihr zu machen. Sie hatte recht. Die religiösen Empfindungen boten diesem verlassenen jungen Menschen eine Zuflucht. Sie liebte ihren Vater, jedes Jahr ging sie zu ihm, um ihm zu sagen, daß ihre Mutter ihm verziehen habe. Aber alle Jahre harrte sie vergebens vor der unerbittlich verschlossenen väterlichen Tür. Ihr Bruder, der einzig mögliche Vermittler, hatte sie nicht ein einziges Mal in vier Jahren besucht und sandte ihr keinerlei Unterstützung. Sie betete zu Gott, er möge ihrem Vater die Augen öffnen und das Herz ihres Bruders erweichen. Sie betete für beide, ohne sie anzuklagen. Madame Couture und Madame Vauquer fanden nicht genug Schimpfworte, um dieses barbarische Verhalten zu brandmarken. Wenn sie den niederträchtigen Millionär schmähten, fand Victorine nur sanfte Worte, ähnlich dem Ruf der verwundeten Ringeltaube, deren Schmerzensschrei noch Liebe ausdrückt.
Eugen de Rastignac war ein richtiger Südfranzose mit weißem Teint, schwarzen Haaren und blauen Augen. Benehmen, Manieren und Haltung ließen ihn als Sohn einer vornehmen Familie erkennen, in der man von Kindheit an und auf Tradition auf guten Geschmack Wert legt. Wenn er mit seiner Kleidung sparsam war, wenn er an gewöhnlichen Tagen seine alten Anzüge auftrug, so konnte er doch auch manchmal als eleganter junger Mann gekleidet auftreten. Gewöhnlich trug er einen alten Überrock, eine schlechte Weste, die häßliche, schwarze, abgenutzte und schlechtgeknüpfte Krawatte des Studenten, eine entsprechende Hose und mehrfach besohlte Stiefel.
Den Übergang von diesen beiden Personen zu den übrigen bildete Vautrin, der Mann von 40 Jahren mit dem gefärbten Backenbart. Er war einer von den Leuten, von denen das Volk sagt: Das ist einmal ein lustiger Bursche! Er hatte kräftige Schultern, einen breiten Brustkasten, starke Muskeln, dicke, breite Hände, die an den Fingergelenken mit Büscheln brennend roter Haare besetzt waren. Sein vorzeitig gerunzeltes Gesicht zeigte Züge einer Charakterhärte, welche seine gefälligen Manieren Lügen strafte. Seine Baßstimme, die gut zu seiner derben Lustigkeit paßte, mißfiel keineswegs, er war gefällig und stets zu Späßen aufgelegt. Wenn irgendein Schloß im Hause nicht mehr funktionierte, so hatte er es bald ausgebessert, geölt und wieder in Ordnung gebracht. Und dabei sagte er dann: Auf so etwas verstehe ich mich! Übrigens kannte er alles, Schiffe und Meere, Frankreich, das Ausland, alle Geschäfte, Menschen und Ereignisse, er wußte mit Gesetzen, Hotels und Gefängnissen Bescheid. Wenn jemand allzu sehr klagte, bot er ihm sogleich seine Dienste an. Er hatte Madame Vauquer und einigen Pensionären mehrmals Geld geliehen. Aber seine Schuldner wären lieber gestorben, als nicht zurückzuzahlen, soviel Furcht erweckte sein tiefer, entschlossener Blick, trotz seines sonstigen gutmütigen Gehabens. An der Art, wie er spuckte, konnte man seine unerschütterliche Kaltblütigkeit erkennen, die sicher nicht vor einem Verbrechen zurückschreckte, um aus einer gefährlichen Situation herauszukommen. Sein Auge schien wie ein unerbittlicher Richter allen Fragen, allen Gewissen und allen Gefühlen auf den Grund zu dringen. Er pflegte nach dem Frühstück auszugehen, zum Mittagessen zurückzukehren und dann den ganzen Abend fortzubleiben; gegen Mitternacht kehrte er mit Hilfe eines Hausschlüssels zurück, den ihm Madame Vauquer anvertraut hatte. Er allein erfreute sich dieser Gunst. Aber er stand sich auch am besten mit der Witwe, die er oft »Mama« nannte und um die Taille faßte, eine Schmeichelei, die nicht ganz gewürdigt wurde. Denn die gute Frau glaubte, die Umarmung sei eine leichte Sache, doch hatte nur Vautrin allein Arme, die lang genug waren, um ihren gewaltigen Umfang umspannen zu können. Zu seinen Charakterzügen gehörte, daß er in großzügiger Weise jeden Monat fünfzehn Francs für seine »Gloria« bezahlte, die er zum Nachtisch zu nehmen pflegte. Weniger oberflächliche Menschen, als es die jungen Leute waren, die der Strudel des Pariser Lebens beschäftigte, und die Greise, die gleichgültig gegen alles waren, was sie nicht direkt anging, hätten sich vielleicht nicht mit dem bloßen zweifelhaften Eindruck begnügt, den Vautrin machte. Er kannte oder ahnte die Angelegenheiten aller Menschen in seiner Umgebung, während niemand in seine eigenen Gedanken und Beschäftigungen einzudringen vermochte. Obwohl er seine scheinbare Gutmütigkeit, seine ständige Gefälligkeit und gute Laune als eine Schranke zwischen sich und den anderen errichtet hatte, ließ er doch oft die furchtbare Tiefe seines Charakters durchblicken. Oft konnte man an einem bitteren Ausspruch, der eines Juvenal würdig war und mit dem er die Gesetze in den Staub zu ziehen und die hohe Gesellschaft wegen ihrer Inkonsequenz zu geißeln schien, erkennen, daß er mit der bestehenden Gesellschaftsordnung zerfallen war und daß es am Grunde seines Lebens ein sorgsam verborgenes Geheimnis gab.
Vielleicht ohne ihr Wissen, durch die Kraft des einen und die Schönheit des anderen angezogen, teilte Mademoiselle Taillefer ihre flüchtigen Blicke und ihre geheimen Gedanken zwischen diesem Vierzigjährigen und dem jungen Studenten. Aber beide schienen nicht an sie zu denken, obwohl der Zufall von einem Tag zum anderen ihre Lage ändern und sie zu einer reichen Partie machen konnte. Übrigens gaben sich alle diese Personen nicht die Mühe festzustellen, ob die Schicksalsschläge, von denen die anderen erzählten, wahr oder erdichtet seien. Alle brachten sie einander eine mit Mißtrauen gemischte Gleichgültigkeit entgegen, die sich aus ihrer eigenen Situation ergab. Sie wußten sich unfähig, die Leiden der anderen zu erleichtern, und mit dem Anhören der Unglücksberichte war immer auch schon ihr Mitleid erschöpft. Wie alte Eheleute hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Zwischen ihnen blieb daher nichts als die Beziehungen eines mechanisch ablaufenden Zusammenlebens, das Spiel eines schlecht geölten Räderwerkes. Alle konnten sie auf der Straße ungerührt an einem Blinden vorübergehen, ohne Erregung den Bericht eines Unglücks entgegennehmen. Sie erblickten in jedem Todesfall die Lösung eines Jammerproblems, das sie auch angesichts der schrecklichsten Agonie kalt ließ.
Die glücklichste unter diesen trostlosen Seelen war immer noch Madame Vauquer, die Herrscherin dieses freien Hospizes. Für sie allein war der kleine Garten, den die Hitze und die Kälte, den Trockenheit und Feuchtigkeit wüst wie eine Steppe ließen, ein lachender Lustgarten. Für sie allein hatte dieses gelbe freudlose Haus, das nach dem Schimmel eines Krämerladens roch, seine Reize: Diese Gefangenenzellen gehörten ihr! Sie ernährte ihre auf Lebenszeit verurteilten Sträflinge und herrschte über sie mit unbestrittener Autorität. Wo hätten diese armen Wesen in Paris zum gleichen Preise eine gesunde, ausreichende Nahrung gefunden und eine Wohnung, die sie selbst, wenn auch nicht elegant und bequem, so doch wenigstens sauber und luftig finden konnten? Selbst wenn sich Madame Vauquer eine schreiende Ungerechtigkeit erlaubt hätte, das Opfer hätte sie klaglos ertragen.
Eine solche Vereinigung von menschlichen Wesen mußte im kleinen die Elemente eines vollständigen Gesellschaftskörpers darbieten. Und so war es auch. Unter den 18 Tischgenossen fand sich wie in allen Schulen, wie in der Welt überhaupt, ein armes verstoßenes Geschöpf, eine Zielscheibe für alle Spöttereien. Zu Beginn seines zweiten Studienjahres wurde diese Figur für Eugen de Rastignac die bemerkenswerteste unter all denen, mit denen zu leben er noch für zwei Jahre gezwungen war. Dieser Prügelknabe war der ehemalige Nudelfabrikant, der Vater Goriot, auf dessen Haupt ein Maler das ganze Licht konzentriert hätte, so wie auch wir es tun müssen. Wie aber kam es, daß eine solche beinahe haßerfüllte Verachtung, eine solche mit Mitleid gemischte Verfolgungswut, daß eine solche Nichtachtung des Unglücks gerade diesen, den ältesten Pensionär traf? Hatte er selbst durch Lächerlichkeiten und Bizarrerien, die man weniger verzeiht als Laster, Anlaß dazu gegeben? Diese Fragen kann man bei mancher sozialen Ungerechtigkeit aufwerfen. Vielleicht liegt es in der menschlichen Natur, gerade dem alles aufzubürden, der alles aus Demut, aus Schwäche oder Gleichgültigkeit trägt. Lieben wir es nicht alle, unsere Kraft auf Kosten eines anderen zu beweisen? Das schwächste Geschöpf, der Pariser Straßenjunge, läutet an allen Türen, wenn es draußen gefroren hat, oder er klettert auf ein Denkmal, um auf ihm seinen Namen zu verewigen.
Der Vater Goriot, ein Greis von etwa 69 Jahren, war im Jahre 1813 zu Madame Vauquer gezogen, nachdem er sein Geschäft aufgegeben hatte. Er bewohnte zunächst das Appartement, das jetzt Madame Couture innehatte, und er bezahlte damals 1200 Francs Pension, als ein Mann, für den 5 Louisdor mehr oder weniger eine Bagatelle sind. Madame Vauquer hatte die drei Zimmer des Appartements mit Hilfe einer von Vater Goriot im voraus gezahlten Entschädigung instand gesetzt. Das dürftige Inventar bestand aus Vorhängen von gelbem Kattun, aus lackierten Stühlen, die mit Utrechter Samt bezogen waren, aus einigen bunten Drucken und aus Tapeten, die man in Vorstadtkneipen zurückgewiesen hätte. Vielleicht ließ die sorglose Großzügigkeit des Vaters Goriot, den man zu dieser Zeit noch respektvoll Monsieur Goriot nannte, ihn als einen Dummkopf erscheinen, der nichts von Geldangelegenheiten versteht. Goriot zog mit einer reichen Garderobe ein, mit der ganzen Ausstattung eines Kaufmanns, der sich nichts abgehen läßt, wenn er sich zur Ruhe setzt. Madame Vauquer hatte 18 Hemden aus holländischem Batist bewundert, deren Feinheit um so bemerkenswerter war, als der Nudelfabrikant auf seinem Spitzentuch zwei durch ein Kettchen verbundene Nadeln trug, die beide je einen dicken Diamanten faßten. Gewöhnlich trug er einen kornblumenblauen Rock. Jeden Tag nahm er eine frische Weste aus weißem Pikee, unter der sich sein stattlicher Spitzbauch wölbte, auf dem eine dicke Goldkette mit Anhängseln baumelte. Seine goldene Tabakdose zeigte ein Medaillon, das eine Haarlocke barg und ihn einiger Liebschaften verdächtig machte. Als seine Wirtin einmal behauptete, er sei ein Lebemann, ließ er um seine Lippen das zufriedene Lächeln des Bourgeois spielen, dem man schmeichelt. Seine Schränke waren voll von reichlichem Silberzeug aus seinem früheren Haushalt. Die Augen der Witwe leuchteten auf, als sie ihm beim Aus- und Einpacken der silbernen Löffel, der Bestecke und Soßennäpfe half. Auch verschiedene Silberplatten, ein Frühstücksgeschirr, alles in allem im Gewichte von mehreren Pfund Silber, hatte Goriot mitgebracht. Es waren Geschenke, die ihn an die freudigen Ereignisse seines Familienlebens erinnerten.
»Dies hier«, sagte er zu Madame Vauquer, indem er ihr eine Platte und ein Kännchen zeigte, auf dessen Deckel sich zwei Tauben schnäbelten, »ist das Geschenk, das mir meine Frau an unserem ersten Hochzeitstage machte. Das gute Wesen! Sie hatte alle Ersparnisse aus ihrer Mädchenzeit darauf verwandt. Sehen Sie, Frau Vauquer, ich möchte lieber die Erde mit meinen Nägeln aufkratzen, als mich von diesen Dingen trennen. Aber, Gott sei Dank, ich kann meinen Kaffee jeden Morgen für den Rest meiner Tage aus diesem Kännchen trinken. Ich bin nicht zu beklagen, für mich ist Brot genug gebacken.« Schließlich hatte Madame Vauquer mit ihren Elsteraugen auch einige Anleihepapiere entdeckt, die dem vortrefflichen Goriot nach oberflächlicher Schätzung ein Einkommen von 8000 bis 10 000 Francs sicherten. Seit diesem Tage hatte Madame Vauquer, geborene de Conflans, die damals 48 Jahre alt war, aber nur 39 gelten ließ, ihre eigenen Ideen. Obwohl Goriot an einer Schwellung der Tränensäcke litt, die ihn zwang, sich recht häufig die Augen zu wischen, fand sie ihn sehr angenehm und comme il faut. Auch schienen seine vollen Waden, ebenso wie seine lange starke Nase Qualitäten vorauszusagen, auf die die Witwe hielt. Und dies wurde durch das etwas dumme Vollmondgesicht des Alten bestätigt. Das mußte ein trefflich gebauter Kerl sein, fähig, all seinen Geist in Gefühlen auszugeben. Seine Haare, die wie Taubenflügel abstanden und die der Friseur des Polytechnikums jeden Morgen puderte, zeichneten auf seiner niedrigen Stirn fünf Löckchen ab, die seinem Gesicht recht gut standen. Obwohl ein wenig bäuerisch, war er doch stets adrett. Er nahm reichlich aus seiner Tabakdose, als ein Mann, der sicher ist, seine Dose stets voll von dem feinsten Macouba zu finden. Als daher Madame Vauquer am Tage des Einzugs von Monsieur Goriot zu Bett ging, wurde sie wie ein Rebhuhn in seinem Speck von dem Wunsch geröstet, das Bahrtuch Vauquer abzuwerfen und als Frau Goriot wieder aufzuerstehen. Sie träumte davon, sich zu verheiraten, ihre Pension zu verkaufen, an der Seite dieser feinen Blüte des Pariser Bürgertums zu wandeln, eine achtbare Dame im Stadtviertel zu werden, dort für die Armen Kollekten zu sammeln; sie träumte von hübschen Sonntagsausflügen nach Choisy, Soisy, Gentilly, vom Theater, das sie nunmehr nach freiem Belieben besuchen würde, in einer Loge, ohne mehr auf die Freibilletts warten zu müssen, die ihr im Monat Juli manchmal ihre Pensionäre schenkten. Kurz, sie erträumte sich das ganze Dorado des Pariser Bürgertums. Sie hatte noch niemandem verraten, daß sie, Sou bei Sou, 40 000 Francs aufgehäuft hatte. Vom finanziellen Standpunkt aus konnte sie sich somit gewiß als eine gute Partie betrachten.
»Was das übrige betrifft, so nehme ich es mit dem Alten noch auf«, sagte sie sich, indem sie sich im Bett herumwälzte, als wollte sie sich selbst die Reize beweisen, deren Abdruck die dicke Sylvia jeden Morgen im Bett vorfand.
Von diesem Tage ab ließ sich Frau Vauquer drei Monate lang vom Friseur des Monsieur Goriot bedienen. Auch gab sie einiges Geld für ihre Toilette aus, was mit der Notwendigkeit begründet wurde, dem Haus in Anbetracht seiner vornehmen Gäste ein gewisses Dekorum zu verleihen. Sie bemühte sich sehr, einen Wechsel unter ihren Pensionären herbeizuführen und verkündete, daß sie in ihrem Haus in Zukunft nur noch durchaus »erstklassige Persönlichkeiten« aufnehmen werde. Sprach ein Fremder bei ihr vor, so rühmte sie besonders das Vertrauen, das Monsieur Goriot, »einer der angesehensten und größten Geschäftsleute von Paris«, ihr entgegengebracht hatte. Sie ließ Prospekte verteilen, an deren Kopf groß gedruckt prangte: Haus Vauquer. Es war, wie der Prospekt ausführte, eine der ältesten und geachtetsten bürgerlichen Pensionen des Quartier Latin. Es gäbe da eine herrliche Aussicht auf das Tal von Gobelins (man konnte es von der dritten Etage aus tatsächlich sehen) und weiter einen »hübschen Garten«, an dessen Ende sich eine Lindenallee hinziehe. Madame Vauquer sprach in dem Prospekt auch von guter Luft und ruhiger Lage.
Dieser Prospekt führte ihr die Gräfin de l'Ambermesnil zu, eine Frau von 36 Jahren, die die Regelung einer Pension abwarten wollte, welche ihr als Witwe eines »auf dem Felde der Ehre« gefallenen Generals zustand. Madame Vauquer sorgte für besseres Essen, ließ im Salon sechs Monate lang heizen und hielt die Versprechungen des Prospektes so gut, daß sie »zulegte«. Dafür versprach die Gräfin der Madame Vauquer, die sie ihre »liebe Freundin« nannte, daß sie ihr die Baronin Vaumerland und die Witwe des Obersten Graf Picquoiseau zuführen würde, zwei ihrer Freundinnen, die im Viertel von Marais ihre Pension gekündigt hatten, weil sie kostspieliger war als die im Hause Vauquer. Diese Damen würden übrigens ein anständiges Einkommen haben, wenn die Demobilisierungsbüros erst einmal ihre Arbeit beendet hätten.
»Aber«, sagte sie, »diese Büros werden ja überhaupt nicht fertig.« Die beiden Damen stiegen nach dem Diner meist gemeinsam in das Zimmer der Madame Vauquer hinauf und hielten dort einen kleinen Klatsch, tranken Cassis und aßen Leckerbissen, die für die Herrin des Hauses reserviert waren. Madame de l'Ambermesnil billigte die Absichten ihrer Gastgeberin auf Goriot durchaus, sie seien ausgezeichnet und sie habe sie vom ersten Tage an vermutet; auch sie hielt Herrn Goriot für einen tadellosen Mann.
»Meine Liebste, er ist so gesund wie ein Fisch im Wasser«, sagte die Witwe, »ein Mann, der sich vollkommen erhalten hat und der einer Frau noch manch vergnügtes Stündchen bereiten kann.«
Die Gräfin machte in vornehmer Weise Madame Vauquer einige Bemerkungen über ihre Kleidung, die zu ihren Plänen nicht recht passe.
»Sie müssen sich kriegsmäßig ausrüsten«, meinte sie.
Nach vielem Hin- und Herreden gingen die beiden Witwen schließlich zum Palais Royal, wo sie in den Galerien einen Federhut und eine Haube kauften. Die Gräfin schleppte ihre Freundin weiter zum Kaufhaus »La Petite Jeannette«, wo man ein Kleid und einen Schal erstand. Als diese Munition nunmehr verfeuert und die Witwe kampfbereit war, glich sie vollkommen der Abbildung auf dem Schild des Wirtshauses »Boeuf à la mode«. Trotzdem fand sie sich so zu ihrem Vorteil verändert, daß sie sich der Gräfin verpflichtet glaubte, und obwohl sie nicht vom Stamme Gib war, bat sie sie, einen Hut für 20 Francs anzunehmen. Sie rechnete darauf, daß die Gräfin Herrn Goriot sondieren und sie bei ihm herausstreichen würde. Madame de l'Ambermesnil gab sich recht gern zu diesem Spiel her und belagerte den alten Nudelfabrikanten, der ihr schließlich eine Unterredung gewährte. Aber als sie fand, daß er ihren Versuchen, ihn für ihre eigene Rechnung zu verführen, tugendhaft, ja geradezu verstockt widerstand, verließ sie ihn empört über sein grobes Benehmen.
»Mein Engel«, sagte sie zu ihrer lieben Freundin, »aus diesem Mann ist nichts herauszuholen, er ist ganz lächerlich mißtrauisch, er ist ein Pfennigfuchser, ein Trampel, ein Dummkopf, der Ihnen nur Verdruß bereiten wird.«
Zwischen Herrn Goriot und Madame l'Ambermesnil waren Dinge vorgefallen, daß sich die Gräfin nicht länger mehr mit ihm unter einem Dach wissen wollte. Am nächsten Tage zog sie aus, wobei sie vergaß, ihre Rechnung für 6 Monate Pension zu bezahlen, und nur alten Plunder, den man auf 5 Francs schätzte, zurückließ. Madame Vauquer stellte verzweifelte Nachforschungen nach ihr an, aber sie konnte von der Gräfin in ganz Paris kein Lebenszeichen entdecken. Sie sprach noch oft von dieser traurigen Affäre, wobei sie sich über ihr zu großes Vertrauen beklagte – in Wirklichkeit war sie mißtrauischer als eine Katze. Aber sie hatte mit vielen Leuten den Charakterzug gemeinsam, ihrer nächsten Umgebung zu mißtrauen und sich dafür dem ersten besten auszuliefern. Diese seltsame, aber wahre moralische Tatsache hat eine Wurzel im menschlichen Herzen, die man leicht entdecken kann. Vielleicht haben manche Menschen von den Personen, mit denen sie zusammen leben, nichts mehr zu gewinnen. Nachdem sie nun die Leere ihrer Seele gezeigt haben, fühlen sie sich von ihnen insgeheim mit der verdienten Strenge verurteilt, aber da sie ein unbezwingliches Verlangen nach Schmeicheleien verspüren und gern die Eigenschaften haben möchten, die sie nicht besitzen, hoffen sie, die Achtung oder das Herz der Fremden zu gewinnen, selbst auf die Gefahr hin, dabei eines Tages hereinzufallen. Endlich gibt es sozusagen käuflich geborene Wesen, die ihren Freunden und nächsten Verwandten nichts Gutes tun, weil dies ihre Pflicht ist. Dagegen verspüren sie einen Kitzel ihrer Eigenliebe, wenn sie Unbekannten Dienste erweisen. Je näher der Kreis ihrer Beziehungen bei ihnen liegt, um so weniger lieben sie, je weiter er sich ausdehnt, um so diensteifriger sind sie. Madame Vauquer gehörte ohne Zweifel zu diesen beiden Menschenarten, die im Grunde ihres Herzens schlecht, falsch und verabscheuungswürdig sind.
»Wenn ich damals schon hier gewesen wäre«, sagte später Vautrin zu ihr, »so wäre dies Unglück nicht geschehen. Ich hätte diese Gaunerin hübsch entlarvt. Ich kenne solche Schliche.«
Wie alle engherzigen Gemüter verstand es Madame Vauquer nicht, von den Dingen Abstand zu nehmen und ihre Ursachen richtig zu beurteilen. Sie liebte es, sich für ihre eigenen Fehler an anderen schadlos zu halten. Als sie diesen Verlust erlitt, hielt sie den ehrbaren Nudelfabrikanten für die Quelle ihres Unglückes, und sie begann jetzt, wie sie sagte, sich auf seine Rechnung von ihrer zu großen Vertrauensseligkeit zu ernüchtern. Als sie die Zwecklosigkeit ihrer Liebeslockungen und ihrer Repräsentationsunkosten erkannt hatte, wußte sie bald einen Grund dafür zu finden. Sie bemerkte jetzt, daß ihr Pensionär schon immer, wie sie sich ausdrückte, so seine »Allüren« gehabt habe. Endlich wurde ihr klar, daß ihr hübsch aufgebauter Hoffnungstraum auf einer chimärischen Grundlage beruhe und daß sie nach dem kräftigen Ausdruck der sich darin offenbar auskennenden Gräfin aus diesem Mann niemals etwas herausholen würde. Wie es meist zu geschehen pflegt, ging sie in ihrer Abneigung weiter als in ihrer Freundschaft. Ihr Haß erklärte sich nicht aus gekränkter Liebe, sondern aus ihren zerstörten Hoffnungen. Wenn das menschliche Herz seine Ruhe findet, sobald es die Höhen der Zuneigung erreicht hat, so hält es selten bei dem jähen Hinabgleiten in den Abgrund des Hasses an. Aber da Goriot ihr Pensionär war, war die Witwe gezwungen, die Ausbrüche ihrer verletzten Eigenliebe zurückzuhalten, die Seufzer zu unterdrücken, die diese Enttäuschung erregte, und ihre Rachgier in sich hineinzufressen: wie ein Mönch, der von seinem Abt ungerecht gequält wird. Kleine Geister befriedigen ihre guten oder schlechten Empfindungen durch fortdauernde Kleinlichkeiten. Die Witwe verwandte ihre ganze weibliche Bosheit darauf, heimliche Quälereien gegen ihre Opfer zu erfinden. Sie begann damit, alles Überflüssige ihrer Pension einzuschränken.
»Keine Pfeffergurken und keine Anchovis mehr, das ist bloß dummes Zeug«, sagte sie zu Sylvia an dem Morgen, als sie ihren alten Küchenzettel wieder in Kraft setzte.