Honoré de Balzac
Vater Goriot
Honoré de Balzac

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eugen kehrte nicht ins Haus Vauquer zurück. Er konnte es nicht über sich bringen, sein neues Appartement unbenutzt zu lassen. Wenn er in der Nacht vorher Delphine um ein Uhr verlassen mußte, so war es jetzt Delphine, die ihn gegen zwei Uhr verließ, um in ihre Wohnung zurückzukehren. Am folgenden Morgen schlief er sehr lange und erwartete gegen Mittag Delphine, die das Frühstück gemeinsam mit ihm einnahm.

Wie es bei einem jungen Mann, der nach solchen Momenten des Glücks gierig ist, leicht begreiflich erscheint, hatte er Vater Goriot fast vergessen. Es war ein großes Fest für ihn, sich allmählich an all die schönen Dinge, die ihm gehörten, zu gewöhnen. Delphines Anwesenheit gab allem einen noch höheren Wert. Gegen vier Uhr entsannen sich die Liebenden des Vaters Goriot, da sie an das Glück dachten, das er von seiner Wohnung in diesem Hause erwartete. Eugen äußerte die Ansicht, es sei notwendig, den Alten, falls er krank sei, schnell herüberzuschaffen, und verließ Delphine, um zum Hause Vauquer zu eilen. Weder Vater Goriot noch Bianchon waren bei Tisch.

»Vater Goriot ist ganz gelähmt«, sagte der Maler. »Bianchon ist da oben bei ihm. Der Alte ist von einer seiner Töchter, der Gräfin Restaurama, aufgesucht worden. Dann wollte er ausgehen, aber sein Zustand hat sich verschlimmert. Die menschliche Gesellschaft wird bald einer ihrer schönsten Zierden beraubt werden.«

Rastignac stürzte zur Treppe.

»He, Herr Eugen!«

»Herr Eugen, Madame ruft Sie«, schrie Sylvia.

»Herr von Rastignac, Goriot und Sie«, sagte die Witwe, »wollten am 15. Februar ausziehen. Der 15. ist seit drei Tagen um, wir haben den 18.; Sie müssen einen Monat für beide bezahlen. Aber wenn Sie für Vater Goriot gutsagen, genügt mir Ihr Wort.«

»Weshalb? Haben Sie kein Vertrauen?«

»Vertrauen! Wenn es mit dem Alten aus ist und er stirbt, geben mir seine Töchter keinen Heller, und sein ganzer Plunder ist keine zehn Francs wert. Heute morgen hat er seine letzten Bestecke fortgetragen, ich weiß nicht, weshalb. Er hat sich zurechtgemacht wie ein junger Mann. Gott verzeih mir, aber ich glaube, er hat Schminke aufgelegt, so verjüngt sah er aus.«

»Ich komme für alles auf«, sagte Eugen, vor Schrecken schaudernd und eine Katastrophe vorausahnend. Er begab sich in das Zimmer Goriots. Der Greis lag auf seinem Bett, und Bianchon saß an seiner Seite.

»Guten Tag, Vater«, sagte Eugen. Der Alte lächelte ihm sanft zu und erwiderte, ihm seine glasigen Augen zuwendend: »Wie geht es ihr?«

»Gut. Und Ihnen?«

»Nicht schlecht.«

»Streng ihn nicht an«, sagte Bianchon, Eugen in eine Ecke des Zimmers ziehend.

»Was ist denn?« sagte Rastignac.

»Er kann nur noch durch ein Wunder gerettet werden. Der Bluterguß ins Gehirn hat sich vollzogen. Ich habe ihm Senfumschläge gegeben; glücklicherweise spürte er sie; sie wirken.«

»Kann man ihn fortschaffen?«

»Unmöglich. Man muß ihn hierlassen und ihm jede physische und geistige Erschütterung ersparen.«

»Mein guter Bianchon«, sagte Eugen, »wir beide wollen ihn pflegen.«

»Ich habe zweimal den Chefarzt meines Hospitals kommen lassen.«

»Nun, was sagt er?«

»Er wird morgen abend sein Urteil abgeben. Er hat mir zugesagt, nach seiner Arbeit zu ihm zu kommen. Unglücklicherweise hat der Alte heute morgen eine Unvorsichtigkeit begangen, über die er sich nicht aussprechen will. Er ist starrköpfig wie ein Maulesel. Wenn ich mit ihm spreche, tut er, als wenn er nicht verstünde, und stellt sich schlafend, um nicht antworten zu müssen. Wenn er die Augen geöffnet hat, stöhnt er. Er ist morgens ausgegangen und war zu Fuß in der Stadt, man weiß nicht wo. Alles, was er noch an Werten besaß, hat er mitgenommen, hat dann wohl irgendeinen Handel abgeschlossen und sich dabei überanstrengt. Eine seiner Töchter ist gekommen.«

»Die Gräfin?« fragte Eugen. »Eine große Brünette mit lebhaften Augen, zierlichen Füßen und schlanker Taille?«

»Ja.«

»Laß mich einen Augenblick mit ihm allein«, sagte Rastignac, »ich werde ihn ins Gebet nehmen, mir sagt er alles.«

»Ich werde dann inzwischen essen. Suche aber ihn so wenig wie möglich zu erregen, wir haben noch einige Hoffnung.«

»Du kannst ganz ruhig sein.«

»Sie werden sich morgen gut amüsieren«, sagte Vater Goriot zu Eugen, als sie allein waren. »Sie machen einen großen Ball mit.«

»Was haben Sie denn morgens gemacht, Papa, daß es Ihnen heute abend so schlecht geht und daß Sie im Bett bleiben müssen?«

»Nichts.«

»Ist Anastasie gekommen?« fragte Rastignac.

»Ja.«

»Nun also, verbergen Sie mir nichts. Was hat sie noch von Ihnen gefordert?«

»Ah«, erwiderte er, nachdem er Kräfte zum Sprechen gesammelt hatte, »sie war sehr unglücklich, sehen Sie. Nasie hat nicht einen Sou seit der Diamantenaffäre. Sie hatte für den Ball eine silbergestickte Robe bestellt, in der sie herrlich ausgesehen hätte. Ihre Schneiderin aber, dieses elende Weib, wollte ihr keinen Kredit geben, und ihre Kammerzofe hat 1000 Francs für die Robe vorgeschossen. Arme Nasie . . .! Daß es mit ihr dahin gekommen ist! Das hat mir das Herz gebrochen. Als die Kammerzofe sah, wie Restaud Nasie alles Vertrauen entzog, bekam sie Angst um ihr Geld; sie hat sich mit der Schneiderin verständigt, daß die Robe nur dann geliefert wird, wenn sie die 1000 Francs zurückerhalten hat. Der Ball ist morgen, die Robe ist fertig, Nasie ist in Verzweiflung. Sie bat mich, ihr die Bestecke zu leihen, um sie zu versetzen. Ihr Gatte besteht darauf, daß sie zum Ball geht – sie soll ganz Paris die Diamanten zeigen, von deren Verkauf man so viel gesprochen hat. Kann sie zu diesem Ungeheuer sagen: Ich schulde 1000 Francs, bezahlen Sie sie! Nein. Ich habe das wohl verstanden. Ihre Schwester Delphine wird in einer herrlichen Toilette erscheinen. Anastasie darf nicht hinter ihrer jungen Schwester zurückstehen. Und sie war so in Tränen aufgelöst, das arme Kind! Ich fühlte mich gestern derart beschämt, nicht 12 000 Francs zu haben, daß ich gern den Rest meines elenden Lebens hingegeben hätte, um diese Schmach zu tilgen. Sehen Sie, ich hatte die Kraft, alles zu ertragen, aber meine letzte Geldnot hat mir das Herz gebrochen. Nun also, es ging eins, zwei, drei; ich habe mich zurechtgemacht, mich herausgeputzt, dann habe ich die Bestecke und Silberschalen für 600 Francs verkauft und meine Leibrente habe ich für 400 Francs beim Papa Gobseck verpfändet. Bah! Ich werde einfach von Brot leben; das hat mir genügt, als ich jung war, und das wird auch jetzt noch gehen. Wenigstens hat meine arme Nasie einen schönen Abend. Sie wird strahlen. Den Tausendfrancschein habe ich da unter meinem Kopfkissen. Der Gedanke, das Geld da zu wissen, das meiner armen Nasie solche Freude bereiten wird, macht mich innerlich warm. Sie kann jetzt ihre schlechte Kammerzofe vor die Tür setzen. Hat man jemals Dienstboten gesehen, die kein Vertrauen zu ihrer Herrschaft haben? Morgen wird es mir besser gehen. Nasie kommt um zehn Uhr. Meine Töchter sollen nicht glauben, daß ich krank bin, sie würden sonst nicht zum Ball gehen und mich pflegen wollen. Nasie wird mich morgen umarmen, als wenn ich ihr Kind wäre, ihre Liebkosungen werden mich heilen. Hätte ich nicht auch 1000 Francs für den Apotheker gebraucht? Ich gebe sie lieber meinem Allheilmittel, meiner Nasie. Ich werde sie wenigstens in ihrem Elend trösten. Auf diese Weise sühne ich das Unrecht, eine Leibrente gekauft zu haben. Sie ist am Abgrund, und ich, ich habe nicht die Kraft, sie zu retten. Aber ich werde mich wieder auf den Handel verlegen. Ich will nach Odessa gehen, um Getreide einzukaufen. Es ist dort dreimal so billig wie bei uns. Die Getreideeinfuhr ist zwar verboten, aber unsere braven Gesetzemacher haben nicht an die Getreideprodukte gedacht. Ha, ha! Ich habe mir das heute morgen ausgedacht! Mit Stärkemehl kann man einen Haufen Geld verdienen.«

Er ist irre, dachte Eugen.

»Aber ruhen Sie sich doch aus, Sie dürfen nicht sprechen . . .«

Als Bianchon zurückkam, begab sich Eugen zum Essen hinunter. Während der Nacht wachten beide abwechselnd bei dem Kranken, der eine studierte dabei in seinen medizinischen Büchern, der andere schrieb an Mutter und Schwestern. Am folgenden Tage waren die Symptome nach Bianchons Ansicht günstiger; aber es war eine dauernde Fürsorge für den Kranken erforderlich, zu der allein die beiden Studenten fähig waren. Ihre nähere Beschreibung würde zu sehr gegen die gewohnten Ausdrucksformen unserer schamhaften Gegenwart verstoßen. Außer den Blutegeln, die dem ausgemergelten Körper des Alten angesetzt wurden, wären Pflaster, Fußbäder und sonstige ärztliche Maßnahmen zu erwähnen, zu denen die ganze Kraft und Aufopferung der beiden jungen Leute vonnöten war. Madame de Restaud kam nicht selbst, sie ließ die 1000 Francs durch einen Dienstmann abholen.

»Ich dachte, sie wäre selbst gekommen. Aber es ist nicht schlimm, ich hätte sie sonst beunruhigt«, sagte der Vater, der über diesen Umstand glücklich zu sein schien.

Um sieben Uhr abends brachte Therese einen Brief Delphines.

»Was machen Sie nur, mein Freund? Kaum, daß ich mich von Ihnen geliebt weiß, werde ich schon vernachlässigt? Sie haben mir bei unseren Bekenntnissen von Herz zu Herzen eine so schöne Seele gezeigt, daß Sie nur zu denen gehören können, die immer treu bleiben, die wissen, wie vieler Nuancen die Gefühle fähig sind. Sagten Sie doch selbst, als wir das Gebet aus ›Moses‹ hörten: ›Für die einen ist es immer die gleiche Note, für die anderen die Unendlichkeit der Musik!‹ Denken Sie daran, daß ich Sie für heute abend erwarte, um mit Ihnen zum Ball der Madame de Beauséant zu gehen. Der Heiratskontrakt des Herrn d'Ajuda ist heute morgen am Hof unterzeichnet worden, die arme Vicomtesse hat es erst um 2 Uhr erfahren. Ganz Paris wird zu ihr strömen, wie das Volk den Grèveplatz überflutet, wenn eine Hinrichtung stattfindet. Ist es nicht furchtbar, daß man sehen will, ob diese Frau ihren Schmerz verbergen kann, ob sie gut zu sterben wissen wird? Ich würde gewiß nicht hingehen, mein Freund, wenn ich schon einmal bei ihr gewesen wäre; aber sie wird später sicher nicht mehr empfangen, und alle Anstrengungen, die ich gemacht habe, wären überflüssig gewesen. Meine Lage ist daher von der der anderen Eingeladenen sehr verschieden. Aber ich gehe auch um Ihretwillen hin. Ich erwarte Sie. Wenn Sie in zwei Stunden nicht bei mir sind, weiß ich nicht, ob ich Ihnen diesen Treubruch verzeihen würde.«

Rastignac griff zur Feder und beantwortete den Brief folgendermaßen:

»Ich erwarte den Arzt, um zu hören, ob Ihr Vater am Leben bleiben wird. Er liegt im Sterben. Ich werde Ihnen das Urteil des Arztes überbringen, ich fürchte, daß es das Todesurteil sein wird. Sie werden dann sehen, ob Sie zum Ball gehen können. Tausend Küsse.«

Der Arzt kam um achteinhalb Uhr. Der Befund war nicht günstig, aber der Arzt war nicht der Ansicht, daß der Tod unmittelbar bevorstehe. Er sah Besserungen und Rückfälle voraus, die sich abwechseln würden und die über Leben und geistige Gesundheit des Alten zu entscheiden hätten.

»Es wäre besser, wenn er bald stürbe«, war das letzte Wort des Arztes.

Eugen überließ Goriot der Sorge Bianchons und machte sich auf, um Madame de Nücingen die traurige Nachricht zu überbringen, die nach seinen noch ganz von den Familienverpflichtungen durchdrungenen Anschauungen jede Freude im Keim ersticken mußte.

»Sagen Sie ihr, sie soll sich ruhig amüsieren«, rief ihm Vater Goriot nach, der zu schlafen schien, sich aber aufrichtete, als Rastignac das Zimmer verließ.

Tief bekümmert erschien Eugen bei Delphine. Er traf sie bereits in Schuhen und frisiert, nur ihre Ballrobe hatte sie noch überzuwerfen. Aber ähnlich wie die Pinselstriche des Malers, die das Bild vollenden, nahmen die letzten Zurüstungen mehr Zeit in Anspruch als der eigentliche Untergrund.

»Wie? Sie haben ja keine Toilette gemacht!« rief sie.

»Aber, gnädige Frau, Ihr Vater . . .«

»Immer und ewig mein Vater!« rief sie, ihn unterbrechend. »Sie werden mich doch nicht meine Pflichten als Tochter lehren wollen. Ich kenne meinen Vater lange genug. Kein Wort, Eugen. Ich werde Sie erst anhören, wenn Sie Toilette gemacht haben. Therese hat in Ihrer Wohnung alles vorbereitet, mein Wagen steht zu Ihrer Verfügung; nehmen Sie ihn und kommen Sie zurück. Über meinen Vater werden wir uns auf dem Wege zum Ball unterhalten. Wir müssen zeitig aufbrechen; falls wir in die Wagenauffahrt geraten, haben wir Glück, wenn wir unser Entree um elf Uhr machen.«

»Madame . . .«

»Kein Wort mehr, gehen Sie!« Sie eilte in ihr Boudoir, um ein Kollier anzulegen.

»So gehen Sie doch, Herr Eugen, Madame wird sonst böse«, sagte Therese, die den jungen Mann, den das Entsetzen über diesen parfümierten Vatermord packte, sanft zur Türe stieß.

Während des Ankleidens überkamen ihn die traurigsten und entmutigendsten Betrachtungen. Ihm schien die Welt wie ein Ozean voll Schmutz, in dem ein Mensch, der nur den Fuß hineinsetzte, bis an den Hals versank.

»Was für heimtückische Verbrechen werden hier begangen«, sagte er sich. »Vautrin ist größer als diese Menschen.«

Er hatte die großen Ausdrucksformen des Gesellschaftslebens gesehen: den Gehorsam, den Kampf und die Revolte oder – die Familie, die Welt und Vautrin. Und er wagte nicht, Partei zu ergreifen. Der Gehorsam war langweilig, die Revolte unmöglich, der Kampf unsicher. Seine Gedanken schweiften zum Leben im Schoße der Familie zurück. Er entsann sich der reinen Empfindungen, dieses ruhigen Daseins, der Tage im Kreise der Seinen, deren Liebling er war. In der Anpassung an die natürlichen Gesetze des häuslichen Herdes fanden diese Wesen, die ihm so teuer waren, ihr volles dauerndes Glück. Aber trotz dieser guten Gedanken hatte er nicht den Mut, Delphine den Glauben der reinen Seelen zu beichten, von ihr im Namen der Liebe die Tugend zu fordern, seine weltmännische Erziehung hatte bereits ihre Früchte gezeitigt. Schon liebte er egoistisch. Sein Spürsinn hatte ihn den Charakter Delphines erkennen lassen. Er fühlte, daß sie imstande war, über die Leiche ihres Vaters zum Ball zu gehen. Er brachte weder die Kraft auf, ihr Vernunft zu predigen, noch den Mut, ihr zu mißfallen, noch die Tugendstärke, sie zu verlassen.

Sie würde es mir niemals verzeihen, dachte er, wenn ich in dieser Lage ihr gegenüber recht behielte.

Dann suchte er sich selbst die Erklärungen des Arztes umzudeuten; er gefiel sich in dem Gedanken, die Krankheit des Vaters Goriot sei nicht so gefährlich, wie er angenommen habe. Er suchte Delphine mit Argumenten, wie sie eines Mörders würdig gewesen wären, zu rechtfertigen. Sie kannte, so sagte er sich, nicht den wahren Zustand, in dem sich ihr Vater zur Zeit befand. Der Alte selbst würde sie zum Ball schicken, wenn sie ihn besuchte. Oft verurteilen die unversöhnlichen Gesetze der Gesellschaft da, wo das scheinbare Verbrechen durch die zahllosen Umstände entschuldigt wird, die die Charakterunterschiede, die Gegensätze der Interessen und des Berufes innerhalb einer Familie hervorrufen können. Eugen wollte sich selbst betrügen, er war bereit, seiner Geliebten das Opfer seines Gewissens zu bringen. Seit zwei Tagen war sein ganzes Leben wie umgewandelt. Das Weib hatte die Unruhe hineingebracht, das Bild der Familie war verblaßt. Rastignac und Delphine hatten sich in einer Lage gefunden, in der sie beide einander die höchste Lust bereiteten. Ihre Leidenschaft, die so gut vorbereitet war, war noch durch den Genuß, der sonst die Leidenschaft tötet, gewachsen. Als Eugen Delphine besaß, erkannte er, daß er sie bisher nur begehrt hatte; erst nachdem sie sein geworden, liebte er sie wirklich: Vielleicht ist die Liebe überhaupt nur Dankbarkeit für die Lust. Mochte diese Frau gemein oder erhaben sein, er betete sie an für alle Freuden, die er ihr als Morgengabe mitgebracht, und für alle Freuden, die sie ihm gespendet hatte. Delphine dagegen liebte Rastignac wie Tantalus den Engel geliebt haben würde, der seinen Hunger und den Durst seiner ausgetrockneten Kehle gestillt hätte.

»Nun, wie geht es meinem Vater?« fragte Madame de Nücingen, als er in Ballkleidung zurückkehrte.

»Sehr schlecht«, erwiderte er. »Wenn Sie mir einen Beweis Ihrer Liebe geben wollen, so fahren wir hin, um zu sehen, wie es steht.«

»Also gut, ja«, sagte sie, »aber nach dem Ball. Mein guter Eugen, sei lieb, predige mir keine Moral und komm!«

Sie brachen auf. Eugen war während des größten Teiles der Fahrt schweigsam.

»Was haben Sie nur?« fragte sie.

»Mir ist, als hörte ich das Röcheln Ihres Vaters«, erwiderte er etwas gereizt. Dann berichtete er mit der heißen Beredsamkeit der Jugend über die herzlose Tat, zu der Madame de Restaud sich in ihrer Eitelkeit hatte hinreißen lassen, über die Todeskrise, die die letzte Aufopferung des Vaters hervorgerufen hatte, er erzählte ihr, was die silbergestickte Robe Anastasias kosten würde. Delphine weinte.

Ich werde häßlich aussehen, dachte sie, ihre Tränen trocknend. Dann sagte sie: »Ich will meinen Vater pflegen, ich werde sein Krankenbett nicht verlassen.«

»Ah, jetzt sind Sie, wie ich Sie wünschte«, rief Rastignac.

Die Laternen von fünfhundert Kutschen erhellten die Zugänge zum Palais de Beauséant. Zu beiden Seiten des erleuchteten Tores hielten Gendarmen zu Pferde. Die große Welt strömte in solchen Scharen herbei, jeder hatte es so eilig, diese große Dame im Augenblick ihres Sturzes zu sehen, daß die Räume im Parterre bereits überfüllt waren, als Madame de Nücingen und Rastignac eintraten. Seit dem Tage, als der ganze Hof zu Fräulein von Montpensier drängte, der »Grande Mademoiselle«, der Ludwig XIV. ihren Geliebten raubte, hatte man keinen so glänzenden Zusammenbruch eines Herzens erlebt. Aber diese letzte Tochter des fast königlichen Hauses von Burgund war größer als ihr Unglück, und sie beherrschte bis zum letzten Augenblick die Welt, deren Eitelkeiten sie nur gelten ließ, weil sie dem Triumph ihrer Leidenschaft dienten. Die schönsten Frauen von Paris belebten die Salons mit ihren Toiletten und mit ihrem Lächeln. Die distinguiertesten Herren des Hofes, die Botschafter, die Minister, alle Berühmtheiten mit Orden, Sternen und Bändern geschmückt, drängten sich um die Vicomtesse. Das Orchester ließ seine Weisen von der Goldtäfelung dieses Palastes widerhallen, der für seine Königin eine Wüste war. Madame de Beauséant stand vor dem Eingang des ersten Salons, um ihre angeblichen Freunde zu empfangen. Weiß gekleidet, ohne irgendeinen Schmuck in ihren einfach geflochtenen Haaren, erschien sie ruhig; man merkte ihr weder Schmerz noch Stolz, noch geheuchelte Freude an. Niemand konnte in ihrer Seele lesen. Man hätte sie für eine Niobe aus Marmor halten können. Das Lächeln, mit dem sie ihre intimen Freunde begrüßte, war manchmal spöttisch; aber sie erschien allen sich selbst gleich, ganz so, als ob das Glück sie mit seinen Strahlen schmückte. Selbst die Unempfindlichsten mußten sie bewundern, wie die jungen Römer dem Gladiator Beifall spendeten, der lächelnd zu sterben wußte. Die Welt schien sich geschmückt zu haben, um von einer ihrer Herrinnen Abschied zu nehmen.

»Ich fürchtete schon, Sie würden nicht kommen«, sagte sie zu Rastignac.

Eugen hielt dieses Wort für einen Vorwurf. »Madame«, sagte er mit bewegter Stimme, »ich bin gekommen, um als der letzte fortzugehen.«

»Gut«, sagte sie, seine Hand ergreifend, »Sie sind hier vielleicht der einzige, auf den ich mich verlassen kann. Mein Freund, lieben Sie nur eine Frau, die Sie immer lieben können. Verlassen Sie nie Ihre Geliebte.«

Sie nahm Rastignacs Arm und führte ihn zu einem Kanapee im Spielsaal.

»Gehen Sie zum Marquis«, sagte sie zu ihm. »Jacques, mein Kammerdiener, wird Sie hinführen und Ihnen einen Brief für ihn geben. Ich verlange von ihm die Herausgabe meiner Briefe. Ich hoffe, daß er sie Ihnen vollzählig ausliefern wird. Wenn Sie die Briefe haben, kommen Sie in mein Zimmer. Man wird mich benachrichtigen.«

Sie erhob sich, um ihrer besten Freundin, der Herzogin von Langeais, entgegenzugehen. Rastignac eilte zum Palais Rochefide, wo er den Marquis d'Ajuda zu sprechen wünschte. Der Marquis führte ihn zu seiner Wohnung, überreichte ihm ein Kästchen und sagte: »Sie sind alle darin.«

Er schien Eugen sprechen zu wollen, sei es, um ihn über die Ereignisse des Balles auszufragen und über die Vicomtesse, sei es, um ihm zu gestehen, daß die Verzweiflung über seine Heirat, die ihn später ergriff, vielleicht schon im Entstehen war. Aber aus seinen Augen strahlte der Stolz, und er hatte den traurigen Mut, über seine edelsten Empfindungen Schweigen zu bewahren.

»Sprechen Sie mit ihr nicht über mich, mein lieber Eugen.« Er drückte Rastignac mit wehmütiger Zärtlichkeit die Hand und gab ihm durch ein Zeichen zu verstehen, er möge sich entfernen. Als Eugen ins Palais Beauséant zurückkehrte und in das Zimmer der Vicomtesse eingelassen wurde, sah er, daß alles zu einer Reise gerüstet war. Er setzte sich an den Kamin, betrachtete die Kassette aus Zedernholz und versank in tiefe Melancholie. Für ihn bedeutete Madame de Beauséant eine Art Gottheit der »Ilias«.

»Ah, mein Freund!« sagte die Gräfin, als sie eintrat. Sie stützte sich mit der einen Hand auf Eugens Schulter. Er sah, wie sie in Tränen aufgelöst war und wie die andere Hand, die zu dem Kasten griff, zitterte. Sie warf die Kassette ins Feuer und sah zu, wie sie verbrannte.

»Sie tanzen! Sie sind pünktlich eingetroffen; nur der Tod kommt zu spät. Pst, mein Freund!« sagte sie, Eugen, der etwas sagen wollte, die Hand auf den Mund legend.

»Ich werde die Gesellschaft und ich werde Paris nicht mehr sehen. Um fünf Uhr morgens breche ich auf, um mich in einen Winkel der Normandie zu begeben. Seit drei Uhr nachmittags mußte ich meine Reisevorbereitungen treffen, Schriftstücke unterzeichnen und meine Geschäfte erledigen; ich konnte daher niemanden schicken . . .«

Sie unterbrach sich. »Es war gewiß, daß Sie ihn dort treffen würden.«

Der Schmerz übermannte sie noch einmal, und sie konnte nicht weitersprechen. In solchen Augenblicken ist alles eine Qual, und es wird unmöglich, gewisse Worte über die Lippen zu bringen.

»Aber«, fuhr sie fort, »ich rechnete auf Sie für diesen letzten Dienst. Ich möchte Ihnen ein Pfand meiner Freundschaft geben. Ich werde oft an Sie denken, denn Sie erschienen mir gut und edel, jung und ohne Falsch inmitten einer Welt, in der diese Eigenschaften so selten sind. Ich hoffe, daß Sie mitunter an mich denken werden. Hier«, sagte sie umherschauend, »ist mein Handschuhkasten. Stets, wenn ich zu ihm griff, um zum Ball oder ins Theater zu gehen, fühlte ich mich schön, weil ich glücklich war, ich berührte ihn nicht, ohne von frohen Gedanken erfaßt zu werden. Es ist viel von mir selbst darin, eine ganze Madame de Beauséant, die nicht mehr ist; nehmen Sie ihn. Ich werde ihn in Ihre Wohnung in der Rue d'Artois bringen lassen. Madame de Nücingen sieht heute abend sehr gut aus, lieben Sie sie sehr! Wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, mein Freund, so seien Sie sicher, daß ich Sie, der Sie so gut zu mir waren, stets in mein Gebet einschließen werde. Gehen wir hinunter, ich will nicht, daß man vermutet, ich weinte. Die Ewigkeit liegt vor mir, ich werde allein sein, und niemand wird für meine Tränen Rechenschaft fordern können. Noch ein Blick auf dieses Zimmer.«

Sie barg ihr Gesicht einen Augenblick in der Hand, dann trocknete sie ihre Augen und wusch sie mit frischem Wasser. Dann nahm sie den Arm des Studenten.

»Gehen wir!« sagte sie.

Rastignac war noch nie so ergriffen gewesen wie von diesem vornehm bezwungenen Schmerz. In den Ballsaal zurückgekehrt, zeigte sich Madame de Beauséant an Eugens Arm und erwies ihm so eine letzte, zarteste Gunst. Bald bemerkte er die beiden Schwestern, Madame de Restaud und Madame de Nücingen. Die Gräfin glänzte im Schmuck ihrer Diamanten, die ihr ohne Zweifel auf dem Körper brannten – sie trug sie zum letzten Male. Sie konnte die Blicke ihres Gatten nicht ertragen, so stark auch immer ihr Stolz und ihre Liebe sein mochten. Dieser Anblick war nicht dazu angetan, die Gedanken Rastignacs freudiger zu stimmen. Er sah hinter den Diamanten der beiden Schwestern das elende Bett, auf dem Vater Goriot lag. Die Vicomtesse, die sein melancholisches Aussehen mit anderen Gründen in Verbindung brachte, entzog ihm ihren Arm.

»Ich will Sie nicht um Ihr Vergnügen bringen«, sagte sie.

Eugen wurde bald von Delphine mit Beschlag belegt. Sie war glücklich über den Eindruck, den sie machte, und sie brannte darauf, dem Studenten die Huldigungen zu Füßen zu legen, die sie in dieser Gesellschaft erntete, in der sie nunmehr aufgenommen zu sein hoffte.

»Wie finden Sie Nasie?« fragte sie.

»Sie hat alles zu Geld gemacht«, erwiderte Rastignac, »sogar den Tod ihres Vaters.«

Gegen vier Uhr morgens begann sich die Menge in den Salons zu lichten. Bald verstummte auch die Musik. Die Herzogin von Langeais und Rastignac waren schließlich allein in dem großen Salon. Die Vicomtesse hatte sich von Herrn de Beauséant verabschiedet, der sich in sein Schlafzimmer begab, nachdem er noch einmal wiederholt hatte:

»Aber Sie tun unrecht, meine Teure, daß Sie sich in Ihrem Alter einschließen. Bleiben Sie doch bei uns!«

Sie begab sich dann, in der Annahme, nur Rastignac noch anzutreffen, in den Salon. Als sie die Herzogin erblickte, konnte sie einen Ausruf der Überraschung nicht unterdrücken.

»Ich habe es geahnt, Clara«, sagte die Herzogin von Langeais. »Sie reisen fort, um nicht mehr zurückzukehren. Aber Sie werden nicht reisen, bevor Sie mich angehört und bevor wir uns ausgesprochen haben.«

Sie nahm ihre Freundin beim Arm und führte sie in den benachbarten Salon. Hier umschlang sie sie mit Tränen in den Augen und küßte sie auf die Wangen.

»Ich will Sie nicht so kalt verlassen, meine Teure, die Gewissensbisse wären für mich zu schwer. Sie können auf mich rechnen wie auf sich selbst. Sie waren groß heute abend, ich fühlte mich Ihrer würdig, und ich werde es Ihnen beweisen. Ich habe unrecht gegen Sie gehandelt, ich war nicht immer gut zu Ihnen, verzeihen Sie mir, meine Teure: Ich verurteile alles, was Sie verletzen konnte, und ich wollte, ich hätte meine Worte nicht gesprochen. Der gleiche Schmerz hat unsere Seelen vereinigt, und ich weiß nicht, wer von uns beiden die Unglücklichere sein wird. Herr von Montriveau war heute abend nicht hier, verstehen Sie? Wer Sie auf dem Ball gesehen hat, Clara, wird Sie niemals vergessen. Ich selbst werde noch einen letzten Versuch unternehmen. Wenn ich Mißerfolg habe, gehe ich in ein Kloster. Und wohin reisen Sie?«

»In die Normandie, nach Courcelles. Ich werde meiner Liebe leben und beten, bis mich Gott aus dieser Welt abruft.«

Ihr fiel ein, daß der Student wartete.

»Kommen Sie, Herr von Rastignac«, sagte sie mit bewegter Stimme.

Der Student beugte das Knie und küßte seiner Cousine die Hand.

»Adieu, Antoinette«, sagte Madame de Beauséant, »seien Sie glücklich.«

Dann wandte sie sich zu dem Studenten: »Ihnen braucht man dies nicht zu wünschen; Sie sind glücklich, Sie können noch an etwas glauben. Bei meinem Abschied von der Welt habe ich wenigstens, wie eine glückliche Sterbende, fromme und aufrichtige Wünsche um mich gehabt, die mich begleiten.«

Rastignac sagte Madame de Beauséant noch einmal Lebewohl, als sie schon in ihrer Reisekutsche saß. Er nahm den letzten tränenschweren Abschiedsgruß entgegen. Er lernte so, daß die Gesetze des Herzens auch über die höchstgestellten Personen gebieten und daß ihr Leben nicht ohne Sorgen ist. Um fünf Uhr morgens machte er sich auf den Weg; er ging zu Fuß bei feuchtem, kaltem Wetter zur Pension Vauquer zurück. Seine Erziehung ging ihrer Vollendung entgegen.

»Der arme Vater Goriot ist nicht zu retten«, sagte Bianchon, als Rastignac bei seinem Nachbarn eintrat.

Eugen warf einen Blick auf den schlummernden Greis. »Mein Freund«, sagte er, »verfolge das bescheidene Lebensziel, mit dem du dich zu begnügen gedenkst. Ich lebe in einer Hölle, und ich kann aus ihr nicht heraus. Glaube alles, was man Schlechtes über die große Gesellschaft sagt, alles! Es gibt keinen Juvenal, der dieses unter Gold und Edelsteinen verborgene Grauen malen könnte.«

Am folgenden Tage wurde Rastignac gegen zwei Uhr nachmittags geweckt. Bianchon war gezwungen, das Haus zu verlassen, und bat ihn, beim Vater Goriot, dessen Zustand sich während des Morgens verschlimmert hatte, zu wachen.

»Der Alte hat keine zwei Tage mehr, vielleicht nur noch sechs Stunden zu leben«, sagte er, »aber wir müssen weiter gegen sein Leiden ankämpfen. Wir werden Medikamente geben müssen, die sehr teuer sind. Unsere Krankenpflege werden wir gern weiter durchführen, aber ich habe keinen Sou. Ich habe seine Taschen umgewendet und seine Schubfächer durchsucht. Null in höchster Potenz. Als er einen Moment bei Besinnung war, habe ich ihn gefragt; er sagte mir, daß er keinen Heller habe. Und was hast du?«

»Ich habe noch 20 Francs«, erwiderte Rastignac. »Aber ich werde spielen gehen, ich muß gewinnen.«

»Und wenn du verlierst?«

»So werde ich bei seinen Schwiegersöhnen und Töchtern Geld fordern.«

»Und wenn sie dir keins geben?« fuhr Bianchon fort. »Aber was im Augenblick am meisten drängt, ist nicht das Geld: Der Alte muß von den Füßen bis zur Mitte der Schenkel in einen kochend heißen Senfumschlag gewickelt werden. Wenn er schreit, ist Hoffnung vorhanden. Du weißt ja, wie man das anstellt. Übrigens wird dir Christoph helfen. Ich selbst gehe zum Apotheker, um für die Medikamente, die wir entnehmen, zu bürgen. Leider kann der Alte nicht in mein Hospital transportiert werden, er wäre dort besser aufgehoben. Also ich übergebe dir die Wache, verlaß ihn nicht, bevor ich zurückkomme.«

Die beiden jungen Leute gingen in das Zimmer, in dem der Greis lag. Eugen war entsetzt über die Veränderung in dem verzerrten, weißen, eingefallenen Gesicht.

»Nun, Papa?« sagte er, sich über das Bett neigend. Goriot richtete seine glanzlosen Augen auf Eugen und sah ihn aufmerksam an, ohne ihn zu erkennen. Der Student ertrug diesen Anblick nicht, die Tränen traten ihm in die Augen.

»Bianchon, soll man nicht Vorhänge für die Fenster besorgen?«

»Nein, Licht und Luft berühren ihn nicht mehr. Es wäre schon gut, wenn ihm warm oder kalt wäre. Trotzdem brauchen wir Feuer, um die Arzneien und anderen Dinge zu bereiten. Ich werde dir Reisig schicken, das wir brennen können, bis wir Holz haben. Gestern und heute nacht habe ich deinen Vorrat und den Torf des armen Mannes verbraucht. Es war feucht im Zimmer, das Wasser floß die Wände herunter. Ich habe das Zimmer kaum trocken bekommen. Christoph hat ausgefegt, es war ein wahrer Stall. Ich habe Wacholder verbrannt; der Geruch war zu schlecht.«

»Mein Gott«, sagte Rastignac, »aber seine Töchter!«

»Halt, wenn er zu trinken verlangt, gibst du ihm hiervon«, sagte der junge Mediziner und zeigte Rastignac einen großen weißen Topf. »Wenn er über Schmerzen klagt und der Leib heiß und hart wird, läßt du dir von Christoph helfen, um ihm ein . . . Du weißt schon. Wenn er sich sehr erregt, viel spricht, wenn er ein wenig verrückt zu sein scheint, laß ihn nur machen. Das wäre kein schlechtes Zeichen. Aber schicke dann Christoph zum Hospital Cochin. Mein Chefarzt, mein Kollege oder ich werden dann kommen, um ihm Moxa zu geben. Heute morgen – während du schliefst, haben wir mit einem Schüler des Doktor Gall, dem Chefarzt des Hotel Dieu und dem unsrigen eine große Konsultation veranstaltet. Die Herren glaubten, eigenartige Symptome zu erkennen, und wir werden die Fortschritte der Krankheit verfolgen, um uns über verschiedene wichtige wissenschaftliche Fragen klarzuwerden. Einer der Herren behauptet, daß der Blutdruck, wenn er auf ein Organ mehr als auf andere wirkt, eigenartige Wirkungen hervorrufen kann. Falls er spricht, so höre gut zu, um festzustellen, in welchen Gedankengängen er sich bewegt: ob es Äußerungen des Gedächtnisses sind, Äußerungen der Erkenntnis oder solche der Urteilskraft, ob er sich mit materiellen Dingen oder mit Gefühlen beschäftigt, ob er rechnet und auf die Vergangenheit zurückkommt; sei also in der Lage, uns einen genauen Bericht zu geben. Es ist möglich, daß der Bluterguß auf das ganze Gehirn eingewirkt hat. Dann wird er in dem Zustand der Bewußtlosigkeit sterben, in dem er sich im Augenblick befindet. Alles ist seltsam bei dieser Art Krankheiten! Wenn die Bombe hier platzt«, sagte er, auf den Hinterkopf des Kranken zeigend, »so werden sich eigenartige Phänomene zeigen. Das Haupthirn erlangt dann einige seiner Fähigkeiten zurück, und der Tod tritt nur langsam ein. Die Bluteinbrüche können sich auch überhaupt vom Gehirn abwenden und Wege nehmen, die man erst bei der Autopsie erkennen kann. Im Hospital für Unheilbare liegt ein gelähmter Greis, bei dem der Erguß sich längs der Wirbelsäule vollzogen hat. Er leidet entsetzlich, aber er lebt.«

»Haben sie sich gut amüsiert?« fragte Vater Goriot, der Eugen erkannte.

»Oh, er denkt nur an seine Töchter«, sagte Bianchon. »Mehr als hundertmal hat er während der Nacht zu mir gesagt: ›Sie tanzen! Sie hat ihre Robe!‹ Er rief sie bei ihren Namen. Er hat mich zum Heulen gebracht, der Teufel hol mich, mit seinen Rufen: ›Delphine! Meine kleine Delphine! Nasie!‹ Mein Ehrenwort«, sagte der Medizinstudent, »es war zum Weinen.«

»Delphine«, sagte der Greis, »ist da, nicht wahr? Ich weiß es ganz genau.« Seine Blicke liefen mit einer irren Beweglichkeit über Tür und Wände.

»Ich gehe hinunter, um durch Sylvia die Senfumschläge bereiten zu lassen«, rief Bianchon, »der Augenblick ist günstig.«

Rastignac blieb allein bei dem Greis, am Fuße des Bettes, die Augen fest auf das schreckliche Schmerzensantlitz gerichtet.

Madame de Beauséant flieht – und er stirbt, dachte er. Schöne Seelen können nicht lange in dieser Welt verweilen. Wie könnten sich auch die großen Gefühle mit dieser heimtückischen, kleinen, oberflächlichen Gesellschaft abfinden?

Die Bilder des Balles drängten sich ihm als Kontrast zu dem Schauspiel dieses Totenhauses auf. Da kam plötzlich Bianchon zurück.

»Hör, Eugen, ich habe mit unserem Chefarzt gesprochen und bin in aller Eile zurückgekehrt. Wenn sich Zeichen klarer geistiger Verfassung bemerkbar machen, wenn er spricht, so leg ihn auf einen großen Senfumschlag, so daß der Rücken vom Nacken bis zu den Nieren bedeckt ist, und laß uns rufen!«

»Guter Bianchon«, sagte Eugen.

»Oh, es handelt sich um einen wissenschaftlichen Fall«, sagte der Student mit dem ganzen Eifer des Anfängers.

»Dann bin ich also der einzige«, sagte Eugen, »der diesen armen Greis aus Liebe pflegt.«

»Wenn du mich heute morgen gesehen hättest, würdest du das nicht sagen«, sagte Bianchon, ohne an den Worten Eugens Anstoß zu nehmen. »Ärzte, die schon lange praktizieren, sehen nur die Krankheit, ich sehe auch noch den Kranken, mein guter Junge.«

Er ging wieder fort. Eugen blieb allein mit dem Greis zurück in der Erwartung einer Krise, die dann auch recht bald eintrat.

»Ah, Sie sind es, mein liebes Kind«, sagte Vater Goriot, Eugen erkennend.

Der Student ergriff die Hand des Alten: »Geht es Ihnen besser?«

»Ja. Mein Kopf war wie in einen Schraubstock gepreßt. Jetzt fühle ich mich freier. Haben Sie meine Töchter gesehen? Sie werden bald kommen; sobald sie mich krank wissen, eilen sie herbei; sie haben mich in der Rue de la Jussienne so sehr gepflegt! Mein Gott, wenn nur mein Zimmer sauber wäre, wenn sie kommen. Hier war ein junger Mann, der meinen ganzen Torf verbrannt hat.«

»Ach, da höre ich Christoph kommen«, sagte Eugen, »er bringt das Holz, das der junge Mann Ihnen schickt.«

»Gut. Aber wie soll ich es bezahlen? Ich habe nicht einen Sou, mein Kind. Ich habe alles fortgegeben, alles. Ich bin auf die Mildtätigkeit angewiesen. War die silbergestickte Robe wenigstens schön? – Ah, wie ich leide! – Danke, Christoph! Gott wird es dir vergelten, mein Junge; ich kann es nicht, ich habe nichts mehr.«

»Ich zahle alles, für dich und Sylvia«, sagte Eugen dem Burschen ins Ohr.

»Meine Töchter haben gesagt, sie würden kommen, nicht wahr, Christoph? Geh noch einmal hin, du bekommst fünf Francs. Sag ihnen, daß ich mich nicht wohlfühle, ich möchte sie umarmen, sie noch einmal vor meinem Tode sehen. Sag ihnen das, aber ohne sie zu sehr zu erschrecken.«

Auf ein Zeichen Rastignacs ging Christoph hinaus.

»Sie werden kommen«, sagte der Greis, »ich kenne sie, die gute Delphine, welchen Kummer werde ich ihr bereiten, wenn ich sterbe! Nasie auch. Ich will nicht sterben, damit sie nicht weinen. Sterben, mein guter Eugen, das bedeutet, daß man sie nicht mehr sieht. Dort drüben, wohin ich gehe, werde ich mich sehr langweilen. Ohne seine Kinder zu sein, bedeutet für einen Vater die Hölle, und ich habe schon meine Lehrzeit durchgemacht, seitdem sie verheiratet sind. Mein Paradies war in der Rue de la Jussienne. Aber, sagen Sie, wenn ich ins Paradies komme, so könnte ich doch als Geist auf die Erde zurückkehren und bei ihnen sein. Ich habe von solchen Dingen sprechen hören. Ist das wahr? Ich sehe sie noch vor mir, wie sie in der Rue de la Jussienne waren. In der Frühe kamen sie herunter, um mir guten Morgen zu wünschen. Ich nahm sie auf die Knie und trieb mit ihnen tausenderlei Possen und Schabernack, während sie mich herzten und liebkosten. Wir frühstückten und dinierten jeden Tag zusammen, mit einem Wort, ich war Vater, ich hatte Freude an meinen Kindern. Als sie in der Rue de la Jussienne waren, räsonierten sie nicht, sie wußten nichts von der Welt, sie liebten mich. Mein Gott, warum sind sie nicht für immer die kleinen Mädchen geblieben? Oh, wie ich leide – der Kopf zerspringt mir! – Ah, ah, Verzeihung, meine Kinder, ich leide schrecklich; dies muß wohl der wirkliche Schmerz sein, denn ihr habt mich abgehärtet gegen das Leiden. Mein Gott, wenn ich nur ihre Hand in der meinen halten könnte, ich würde die Schmerzen nicht spüren. – Glauben Sie, daß sie kommen? Christoph ist so dumm! Ich hätte selbst gehen sollen. Er, er wird sie sehen! Aber Sie waren gestern auf dem Ball. Sagen Sie doch, wie sie aussahen. Sie wußten nichts von meiner Krankheit, nicht wahr? Sie hätten sonst nicht getanzt, die armen Kleinen. Oh, ich will nicht mehr krank sein. Sie bedürfen meiner noch zu sehr. Ihre Vermögen sind bedroht. Und was für Gatten sind sie ausgeliefert! Heilt mich, heilt mich! – Ah, diese Schmerzen! . . . Ah, ah, ah! – Sehen Sie, ich muß gesund werden, sie brauchen Geld, und ich weiß, wie man etwas verdienen kann. Ich werde in Odessa Stärke fabrizieren. Ich bin ein alter Schlaukopf, ich werde Millionen verdienen. – Oh, ich leide zu sehr!«

Goriot verstummte einen Augenblick und schien alle seine Kräfte sammeln zu wollen, um dem Schmerz gewachsen zu sein.

»Wenn sie da wären, würde ich nicht klagen«, sagte er. »Worüber sollte ich denn auch klagen?«

Eine leichte Erschöpfung überfiel ihn, die längere Zeit anhielt. Dann kam Christoph zurück. Rastignac, der Vater Goriot fest eingeschlafen glaubte, ließ den Hausdiener mit lauter Stimme über seine Mission Auskunft geben.

»Zuerst«, sagte er, »bin ich zur Frau Gräfin gegangen; es war mir unmöglich, mit ihr zu sprechen, sie hatte wichtige Geschäfte mit ihrem Gatten zu erledigen. Als ich dringender wurde, kam Herr de Restaud zu mir und sagte: ›Herr Goriot stirbt? Nun, das ist das beste, was er tun kann. Mit Madame de Restaud habe ich ernste Angelegenheiten zu besprechen; sie wird kommen, wenn alles erledigt ist.‹ Er sah wütend aus, der Herr. Ich wollte fortgehen, da kam Madame durch eine andere Tür ins Vorzimmer und sagte: ›Christoph, sag meinem Vater, daß ich mit meinem Gatten eine Auseinandersetzung habe, ich kann jetzt nicht fortgehen, es handelt sich um Leben und Tod für meine Kinder. Sobald alles erledigt ist, komme ich.‹ Mit der Frau Baronin war das eine andere Geschichte. Ich habe sie nicht gesehen und konnte mit ihr auch nicht sprechen. ›Ach‹, sagte die Kammerzofe zu mir, ›Madame ist um fünf Uhr vom Ball gekommen, sie schläft; wenn ich sie vor Mittag wecke, wird sie mit mir schelten. Wenn sie klingelt, werde ich ihr sagen, daß es ihrem Vater schlechter geht. Eine böse Nachricht zu überbringen, ist immer noch Zeit genug.‹ Ich hatte gut bitten. Dann wollte ich den Herrn Baron sprechen, er war fortgegangen.«

»Nicht eine der Töchter kommt!« rief Rastignac. »Ich werde ihnen beiden schreiben.«

»Nicht eine«, erwiderte der Greis, der sich im Bette aufrichtete. »Sie haben Besprechungen, sie schlafen, sie können nicht kommen. Ich wußte es. Man muß sterben, um zu wissen, was Kinder sind . . . Ah, mein Freund, heiraten Sie nicht, schaffen Sie sich keine Kinder an! Sie geben ihnen das Leben, Ihnen geben sie den Tod. Man setzt sie in die Welt, aber sie verjagen einen daraus. Nein, sie werden nicht kommen! Ich weiß es seit zehn Jahren. Ich habe es mir mitunter gesagt, aber ich wagte nicht, daran zu glauben!«

Eine Träne trat in seine Augen und blieb an den geröteten Lidern hängen.

»Ah, wenn ich reich wäre, wenn ich mein Vermögen behalten, wenn ich es ihnen nicht gegeben hätte, so wären sie da, sie würden mir die Wangen mit ihren Küssen ablecken! Ich würde in einem eigenen Haus wohnen, ich hätte herrliche geheizte Zimmer und Bediente; sie wären ganz in Tränen aufgelöst, mit ihren Gatten und Kindern. Alles das hätte ich. Heute aber – nichts! Für Geld kann man alles haben, selbst Töchter. Oh, mein Geld, wo ist es hin? Wenn ich Schätze zu hinterlassen hätte, würden sie mich pflegen und für mich sorgen, ich würde sie hören, ich würde sie sehen. Ach, liebes Kind, mein einziges Kind, da habe ich Elend und Verlassenheit doch lieber! Wenn einer im Unglück geliebt wird, so ist er wenigstens sicher, daß man ihn liebt. Nein, ich möchte doch reich sein, ich würde sie dann wenigstens sehen. Aber, wer weiß? Sie haben alle beide Herzen von Stein. Ich hatte sie zu lieb, als daß sie Liebe für mich haben könnten. Ein Vater muß immer reich bleiben, er muß seine Kinder an den Zügeln halten wie mutwillige Pferde. Und ich lag auf den Knien vor ihnen! Die Elenden! Sie setzen dem Betragen, das sie mir gegenüber gezeigt haben, die Krone auf. Wenn Sie wüßten, wie sie in der ersten Zeit ihrer Ehe um mich besorgt waren! – Oh, ich leide ein schreckliches Martyrium! Ich hatte jeder annähernd 800 000 Francs gegeben; sie und ihre Gatten wagten daher nicht, hart zu mir zu sein. Man empfing mich: Mein guter Vater hier, mein guter Vater da! Stets war für mich bei ihnen gedeckt. Ich speiste mit ihren Gatten, die mich mit Hochachtung behandelten. Es sah so aus, als ob ich noch etwas besäße. Weshalb auch? Ich hatte nichts über meine Geschäfte verraten. Einen Mann, der seinen Töchtern 800 000 Francs mitgibt, muß man gut behandeln. Und man tat es auch; aber es war nur meines Geldes wegen. Wie häßlich ist die Welt! Ich habe es miterleben müssen, ich! Man fuhr mit mir im Wagen zum Schauspiel, und ich blieb nach Belieben auf ihren Abendgesellschaften. Schließlich gaben sie sich ja als meine Töchter und verleugneten mich nicht. Ich bin noch schlau genug, sehen Sie, mir ist nichts entgangen. Alles ist richtig an seine Adresse gekommen und hat mir das Herz durchbohrt. Ich sah wohl, daß alles nur Schein war, aber mein Leiden war unheilbar. Ich fühlte mich bei ihnen nicht so wohl wie am Tisch dort unten. Ich wußte nichts zu sagen. Und wenn die feinen Herrschaften meine Schwiegersöhne leise fragten: ›Wer ist denn dieser Herr da?‹ so hieß es: ›Das ist der reiche Vater mit den Geldsäcken.‹ ›Teufel auch‹, war die Antwort, und man betrachtete mich mit aller Hochachtung, die meinen Geldern galt. Wenn ich ihnen hin und wieder lästig fiel, so habe ich mich immer wieder losgekauft. Aber, wer ist vollkommen? – Mein Kopf ist eine einzige Wunde! – Ich leide in diesem Augenblick so, wie man leiden muß, um sterben zu können, mein lieber Herr Eugen. Aber das läßt sich nicht mit dem Schmerz vergleichen, den mir der erste Blick Anastasies bereitete, durch den sie mir begreiflich machen wollte, daß ich eine Dummheit gesagt hatte, die sie demütigte. Ihr Blick hat mir das Herz zerrissen. Ich hätte gern alles gewußt, aber ich wußte nur zu deutlich, daß ich auf Erden überflüssig war. Am folgenden Tage gehe ich zu Delphine, um mich zu trösten, aber ich mache eine neue Dummheit, die sie in Zorn bringt. Ich bin darüber wie toll geworden. Acht Tage lang wußte ich nicht mehr, was ich machen sollte. Ich wagte nicht, zu ihnen zu gehen, aus Furcht vor ihren Vorwürfen. So wurde ich von meinen Töchtern vor die Türe gesetzt. Oh, mein Gott, der du das Elend und die Leiden kennst, die ich erduldet habe, der du die Dolchstiche gezählt hast, die mich durchbohrten in all dieser Zeit, die mich alt und grau werden ließen, warum läßt du mich heute so leiden? Ich habe die Sünde, zu viel zu lieben, reichlich gesühnt. Sie haben sich gerächt an mir für meine Zärtlichkeit, sie haben mich mit Zangen gefoltert wie Henker. Aber die Väter sind so dumm! Ich liebte sie so sehr, daß ich zu ihnen zurückkehrte wie der Spieler zum Spiel. Meine Töchter, das war mein Laster; sie waren meine Geliebten, sie waren mir alles! Stets hatten sie beide irgend etwas nötig, Kleider oder Schmuck; die Kammerzofen sagten es mir, und ich gab, um gut aufgenommen zu werden. Aber sie haben mir trotzdem einige kleine Lektionen über Lebensart gegeben. Sie warteten nicht etwa bis zum folgenden Tage; sie zeigten schon durch ihr Erröten, daß sie sich meiner schämten. Das kommt davon, wenn man seinen Kindern eine gute Erziehung gibt. Ich konnte in meinem Alter doch nicht noch einmal zur Schule gehen! – Ich leide schrecklich, mein Gott! Die Ärzte, die Ärzte! Wenn man mir im Kopf Luft machen könnte – ich würde weniger leiden. – Meine Töchter, meine Töchter! Anastasie, Delphine; ich will sie sehen! Laßt sie mit Gewalt, laßt sie mit der Gendarmerie holen! Das Recht ist doch auf meiner Seite, alles ist für mich, auch die Natur und das Gesetz. Ich protestiere! Die Welt geht zugrunde, wenn die Rechte der Väter mit Füßen getreten werden. Das ist klar. Die Gesellschaft, die Welt, alles dreht sich um die Vaterschaft, alles bricht zusammen, wenn die Kinder nicht ihre Väter lieben. Oh! sie sehen, sie hören, ganz gleich, was sie auch sagen mögen, wenn ich nur ihre Stimmen höre. Sie würden meine Schmerzen lindern, besonders Delphine. Aber sagen Sie ihnen, wenn sie da sind, daß sie mich nicht so kalt anschauen, wie sie es immer tun. Ah, mein guter Freund, Herr Eugen, Sie wissen ja nicht, was es heißt, wenn sich das Gold des Blickes plötzlich in graues Blei verwandelt. Seit dem Tage, wo ihre Augen mir nicht mehr strahlten, war es für mich auf Erden stets Winter. Ich hatte nur noch Bitternis hinunterzuwürgen, und wieviel habe ich hinuntergewürgt! Ich lebte, um erniedrigt, um beleidigt zu werden. Ich liebe sie so sehr, daß ich alle Schmach auf mich nahm, mit der ich eine kleine verschämte Freude erkämpfte. Ein Vater, der sich verstecken muß, um seine Töchter zu sehen! Ich habe ihnen das Leben geschenkt, sie schenken mir heute nicht einmal eine Stunde. Ich habe Hunger, ich dürste, das Herz brennt mir: Sie kommen nicht, um mir in meinem Todeskampf beizustehen – denn ich sterbe, ich fühle es. Wissen sie denn nicht, was es heißt, über den Leichnam des Vaters zu gehen? Es gibt einen Gott im Himmel, der rächt uns Väter auch gegen unseren Willen. Oh, sie werden kommen! Kommt, ihr meine Lieben, gebt mir einen Kuß, den letzten Kuß, die heilige Wegzehrung eures Vaters; er wird Gott für euch bitten, er wird ihm sagen, daß ihr gute Töchter wart, er wird für euch sprechen. Denn trotz allem, ihr seid unschuldig. Sie sind unschuldig, mein Freund! Sagen Sie es der Welt, daß man ihnen nicht meinetwegen Schwierigkeiten macht! Alles ist meine Schuld, ich habe sie daran gewöhnt, mich mit Füßen zu treten. Ich hatte das gerne so. Es geht niemanden etwas an, weder die göttliche noch die menschliche Gerechtigkeit hat sich damit zu befassen. Gott wäre ungerecht, wenn er sie um meinetwillen verurteilt. Ich verstand nicht, mein Leben zu führen, ich habe die Dummheit begangen, auf meine Rechte zu verzichten! Ich hätte für sie das Niedrigste getan! Was wollen Sie! Der edelste Charakter, das beste Herz, sie wären durch eine so leichtfertige Nachsicht verdorben worden. Ein Elender bin ich, ich erhalte nur meine gerechte Strafe. Ich allein habe die Verirrungen meiner Töchter auf dem Gewissen, ich habe sie verwöhnt. Sie begehren heute nach den Vergnügen wie ehemals nach den Bonbons. Ich habe ihnen immer gestattet, ihre Jungmädchenlaunen zu befriedigen. Mit fünfzehn Jahren hatten sie ihren eigenen Wagen! Nichts wurde ihnen verweigert. Ich selbst bin schuldig – aber schuldig aus Liebe. Ihre Stimme allein öffnete mir das Herz. Ich höre sie, sie kommen. Ja, ja, sie werden kommen. Das Gesetz will, daß man zu seinem Vater kommt, wenn er stirbt. Das Gesetz ist für mich. Es kostet sie ja nur eine Droschkenfahrt, ich werde sie bezahlen. Schreiben Sie ihnen, daß ich ihnen Millionen hinterlasse. Auf Ehrenwort! Ich werde in Odessa Nudeln fabrizieren. Ich kenne die Methode. Mit meinem Projekt sind Millionen zu verdienen. Niemand ist auf den Gedanken gekommen. Die Ware leidet auf dem Transport nicht, wie Getreide oder Mehl. Eh, ah, aus Stärkemehl sind Millionen zu holen. Sie lügen nicht, wenn Sie schreiben: Millionen. Und wenn sie nur aus Habsucht kommen! Ich will gern betrogen werden – wenn ich sie nur sehe. Ich will meine Töchter haben! Sie sind mein, sie gehören mir.«

Er richtete sich auf. Sein Kopf mit den spärlichen weißen Haaren war eine einzige furchtbare Drohung.

»Aber legen Sie sich doch wieder hin«, sagte Eugen, »mein guter Vater Goriot, ich werde ihnen schreiben. Sobald Bianchon zurückkommt, gehe ich hin, wenn sie bis dahin nicht kommen.«

»Wenn sie nicht kommen?« erwiderte der Greis schluchzend. »Aber ich sterbe daran, ich sterbe in einem Wutanfall! Wut packt mich! In diesem Augenblick übersehe ich mein ganzes Leben. Ich bin betrogen. Sie lieben mich nicht, sie haben mich niemals geliebt, das ist klar. Wenn sie bis jetzt nicht gekommen sind, so werden sie auch nicht kommen. Je länger sie gewartet haben, um so weniger werden sie sich entschließen, mir diese Freude zu machen. Ich kenne sie. Sie ahnten nichts von meinem Kummer, sie wußten nichts von meinen Schmerzen, meinen Entbehrungen; sie werden auch nicht fühlen, daß ich warte. Sie kennen die Tiefe meiner Zärtlichkeit gar nicht. Ja, ich sehe es, meine Gewohnheit, das Letzte herzugeben, hat allem, was ich tat, den Preis genommen. Wenn sie mich gebeten hätten, mir die Augen ausstechen zu dürfen, so hätte ich gesagt: Stecht zu!

Ich bin zu dumm. Sie glauben, alle Väter seien so wie der ihrige. Man muß sich stets zur Geltung bringen. Ihre Kinder werden mich rächen. Aber es liegt ja in ihrem eigenen Interesse, hierher zu kommen. Sagen Sie ihnen, daß sie ihren eigenen Todeskampf gefährden. Sie begehen alle Verbrechen in einem einzigen . . . So gehen Sie doch, sagen Sie ihnen, wenn sie nicht kommen, sei es Vatermord! Sie haben ihren Vater schon oft gemordet, sie brauchen diese Tat nicht noch einmal zu begehen. Schreien Sie ihnen doch zu: ›He, Nasie, he, Delphine! Kommt zu eurem Vater, der so gut zu euch war und der so sehr leidet!‹ Nichts, niemand! Soll ich denn wie ein Hund verrecken? Das ist mein Lohn, die Verlassenheit. Es sind Elende, Verbrecherinnen, ich verdamme sie, ich verfluche sie. Ich werde eines Nachts aus meinem Sarg aufstehen und sie noch einmal verdammen. Denn, schließlich, meine Freunde, habe ich nicht recht? Sie betragen sich schlecht, wie . . .? Was sage ich da? Haben Sie nicht eben gesagt, Delphine sei schon da? Sie ist die bessere von den beiden . . . Sie sind mein Sohn, Eugen, ja, das sind Sie! Lieben Sie sie, seien Sie wie ein Vater zu ihr, die andere ist recht unglücklich. Und ihr Vermögen? Ach, mein Gott! Es geht zu Ende, ich leide doch zu viel! Schlagt mir den Kopf ab, laßt mir nur das Herz!«

»Christoph, holen Sie Bianchon«, rief Eugen, »und besorgen Sie mir eine Droschke!« Er war entsetzt über den Charakter, den die Klagen und Schreie des Greises annahmen. »Ich hole Ihre Töchter, mein guter Vater Goriot, ich bringe sie Ihnen.«

»Mit Gewalt! Mit Gewalt! Fordern Sie die Garde, die Infanterie, alles, alles!« Er warf Eugen einen Blick zu, in dem noch ein Rest von Vernunft strahlte. »Sagen Sie der Regierung, sagen Sie dem Staatsanwalt, daß man sie herbringe, ich will es!«

»Aber Sie haben sie ja verflucht!«

»Wer hat das gesagt?« antwortete der Greis entsetzt. »Sie wissen doch, daß ich sie liebe, sie anbete! Ich werde gesund, wenn ich sie sehe . . . Also, mein guter Nachbar, mein liebes Kind, gehen Sie zu ihnen. Sie sind gut, Sie! Ich möchte Ihnen danken, aber ich kann Ihnen nur die Segnungen eines Sterbenden geben. Oh, wenn wenigstens Delphine käme, ich würde ihr sagen, daß sie meine Schuld bei Ihnen abtragen soll. Wenn die andere nicht kommen kann, so bringen Sie wenigstens sie her. Sagen Sie ihr, Sie würden sie nicht mehr lieben, wenn sie nicht kommt. Sie liebt Sie so sehr, daß sie kommen wird. Geben Sie mir etwas zu trinken! Die Eingeweide brennen mir! Legen Sie mir einen Umschlag auf den Kopf! Die Hand meiner Töchter, die könnte mich retten, ich fühle es . . . Gott, mein Gott, wer wird sich um ihr Vermögen kümmern, wenn ich nicht mehr da bin? Ich will nach Odessa gehen für sie, nach Odessa, und Nudeln fabrizieren.«

»Trinken Sie«, sagte Eugen, der den Sterbenden aufrichtete und ihn mit dem linken Arm stützte, während er ihm mit der rechten Hand eine Tasse reichte.

»Sie werden gewiß Ihren Vater und Ihre Mutter recht lieben«, sagte der Greis, der mit seinen kraftlosen Händen die Rechte Eugens umschloß. »Können Sie erfassen, daß ich sterben werde, ohne meine Töchter gesehen zu haben? Immer dürsten und niemals trinken – so habe ich seit zehn Jahren gelebt . . . Meine beiden Schwiegersöhne haben mir meine Töchter getötet. Ja, ich habe keine Töchter mehr gehabt, seitdem sie verheiratet waren. Väter, verlangt vom Parlament, daß es ein Gesetz über die Ehe macht! Laßt eure Töchter nicht heiraten, wenn ihr sie liebt! Der Schwiegersohn ist ein Verbrecher, der alles an euren Töchtern verdirbt, alles besudelt. Keine Ehe mehr! Die Töchter werden uns durch die Ehe geraubt, wir haben sie nicht mehr bei uns, wenn wir sterben. Macht ein Gesetz über den Tod der Väter! Das ist entsetzlich, dieses letzte! Rache! Meine Schwiegersöhne hindern sie zu kommen . . . Tötet sie! Aufs Schafott mit dem Restaud, aufs Schafott mit dem Elsässer, es sind meine Mörder! Den Tod oder meine Töchter! . . . Ah, es ist zu Ende, ich sterbe ohne sie! . . . sie! . . . Nasie, Fifine, so kommt doch, euer Papa geht davon . . .«

»Lieber Vater Goriot, beruhigen Sie sich doch! Sie müssen still liegen, dürfen sich nicht so erregen! Nicht denken!«

»Sie nicht sehen, das ist der Tod!«

»Sie werden sie sehen!«

»Wirklich?« rief der Greis ganz außer sich. »Oh, sie sehen! Ich werde sie sehen, ihre Stimme hören. Ich sterbe glücklich. Ich will gar nicht mehr leben, ich hänge nicht mehr daran, meine Schmerzen werden zu groß. Aber sie sehen, nur ihre Kleider fühlen, ah, nichts als ihre Kleider, so wenig es auch ist, aber doch wenigstens etwas von ihnen fühlen! Laßt mich ihre Haare streicheln.«

Er sank mit dem Kopf auf das Kissen, als wäre er von einem Keulenschlag getroffen worden. Seine Hände tasteten auf der Decke umher, als wollten sie die Haare seiner Töchter liebkosen.

»Ich segne sie«, sagte er mit einer letzten Anstrengung, »segne . . .«

Er brach plötzlich zusammen. In diesem Augenblick betrat Bianchon das Zimmer.

»Ich habe Christoph getroffen«, sagte er, »er holt dir einen Wagen.«

Dann betrachtete er den Kranken und öffnete ihm die Augenlider. Die beiden Studenten sahen, daß das Auge kalt und glasig geworden war.

»Er wird nicht mehr zur Besinnung kommen«, sagte Bianchon, »ich glaube es nicht.«

Er fühlte den Puls und legte die Hand auf das Herz des Alten.

»Die Maschine läuft noch; aber in diesem Falle ist das ein Unglück, es wäre besser, er stürbe.«

»Wahrhaftig, ja«, sagte Rastignac.

»Was hast du nur, du bist so bleich wie der Tod.«

»Mein Freund, ich habe Schreie und Klagen hören müssen . . . Es gibt einen Gott! Ja, es gibt einen Gott, und er hat eine bessere Welt geschaffen, oder unsere Erde ist ein Unsinn. Wenn es nicht so tragisch gewesen wäre, hätte ich geweint, aber Herz und Brust waren mir wie zugeschnürt.«

»Wir werden noch vieles zu bezahlen haben, woher das Geld nehmen?«

Rastignac zog seine Uhr aus der Tasche.

»Versetze sie, ich will mich unterwegs nicht aufhalten, denn ich habe Angst, eine Minute zu verlieren, und ich warte auf Christoph. Ich habe nicht einen Heller mehr, der Kutscher muß bezahlt werden, wenn er zurückkommt.«

Rastignac stürzte hinaus und begab sich zur Rue du Helder, zu Madame de Restaud. Unterwegs nahm seine Empörung durch die Erinnerung an das furchtbare Schauspiel, dem er beigewohnt hatte, immer mehr zu. Als er im Vorzimmer war und Madame de Restaud verlangte, wurde ihm erklärt, sie sei nicht zu sprechen.

»Ich komme von ihrem Vater«, sagte er zum Kammerdiener, »der im Sterben liegt.«

»Mein Herr, wir haben die striktesten Anweisungen vom Herrn Grafen . . .«

»Wenn Herr von Restaud da ist, so sagen Sie ihm, in welchem Zustande sich sein Schwiegervater befindet und daß ich ihn sofort sprechen muß.«

Eugen wartete lange. »Er stirbt vielleicht in diesem Augenblick«, dachte er.

Der Kammerdiener führte ihn schließlich in den ersten Salon, in dem ihn Herr von Restaud, vor dem ungeheizten Kamin stehend, empfing, ohne ihm einen Sitz anzubieten.

»Herr Graf«, sagte Rastignac, »Ihr Herr Schwiegervater liegt im Sterben in einer elenden Spelunke, er hat keinen Heller, um sein Brennholz zu bezahlen; er liegt in den letzten Zügen und verlangt, seine Tochter zu sehen.«

»Mein Herr«, erwiderte der Graf von Restaud kalt, »Sie haben vielleicht schon bemerkt, daß ich für Herrn Goriot sehr wenig übrig habe. Ich habe seinen Charakter aus seinem Verhalten zu Madame de Restaud kennengelernt. Er hat das Unglück meines Lebens verursacht, ich sehe in ihm einen Feind meiner Ruhe. Ob er lebt oder stirbt, das ist mir vollkommen gleichgültig. Das sind meine Gefühle ihm gegenüber. Die Welt mag mich tadeln, ich verachte ihre Meinung. Ich habe wichtigere Dinge zu erledigen, als daß ich mich darum kümmern könnte, was die Dummköpfe und die Gleichgültigen denken. Was Madame de Restaud betrifft, so ist sie nicht imstande auszugehen. Übrigens wünsche ich auch nicht, daß sie das Haus verläßt. Sagen Sie ihrem Vater, daß sie zu ihm kommen wird, sobald sie ihre Pflicht gegen mich und ihre Kinder erfüllt hat. Wenn sie ihren Vater liebt, kann sie in einigen Minuten frei sein . . .«

»Herr Graf, es steht mir nicht zu, über Ihr Verhalten zu urteilen, Sie sind Herr über Ihre Gattin; aber kann ich auf Ihre Loyalität rechnen? Also, versprechen Sie mir nur, ihr zu sagen, daß ihr Vater keinen Tag mehr zu leben hat, daß er sie bereits verflucht hat, weil er sie nicht an seinem Krankenlager sah.«

»Sagen Sie es ihr selbst«, erwiderte Herr von Restaud, der über den Ausdruck der Empörung, der aus den Worten Eugens sprach, betroffen war.

Der Graf führte ihn in den Salon, in dem die Gräfin sich gewöhnlich aufhielt. Er traf sie tränenüberströmt und in einen Sessel gesunken wie eine Frau, die sterben will. Sie tat ihm leid. Bevor sie Rastignac ansah, warf sie einen furchtsamen Blick auf ihren Gatten. Es lag darin der Ausdruck des völligen Zusammenbruches ihrer Kräfte, die durch eine moralische und psychische Tyrannei zerbrochen waren. Der Graf nickte ihr zu, und sie fühlte den Mut zu sprechen.

»Mein Herr, ich habe alles gehört. Sagen Sie meinem Vater, er würde mir verzeihen, wenn er wüßte, in welcher Lage ich bin . . . Auf diese Qual war ich nicht gefaßt, mein Herr, es geht über meine Kraft! – Aber ich werde bis zum Ende Widerstand leisten«, sagte sie zu ihrem Gatten. »Ich bin Mutter. – Sagen Sie meinem Vater, daß mich kein Vorwurf trifft, wenn auch der Schein gegen mich ist«, rief sie verzweifelt dem Studenten zu.

Eugen ahnte die schreckliche Krise, in der sich die Frau befand. Er grüßte die beiden Gatten und verließ sie voller Entsetzen. An dem Ton, mit dem Herr von Restaud ihm das Unnütze seines Schrittes erklärt hatte, hatte er erkannt, daß Anastasie nicht mehr frei war. Er eilte zu Madame de Nücingen. Er traf sie im Bett an.

»Ich bin krank, mein armer Freund«, sagte sie. »Ich habe mich beim Rückweg vom Ball erkältet, ich fürchte, daß ich eine Lungenentzündung habe; ich erwarte den Arzt.«

»Und wenn Sie in den letzten Zügen lägen«, sagte Eugen, sie unterbrechend, »Sie müßten sich zu Ihrem Vater schleppen. Er ruft Sie! Wenn Sie den leisesten seiner Schreie hörten, würden Sie sich nicht mehr krank fühlen.«

»Eugen, mein Vater ist vielleicht nicht so krank, wie Sie sagen, ich wäre verzweifelt, wenn ich in Ihren Augen das geringste Unrecht beginge, ich werde tun, was Sie wünschen. Von ihm weiß ich, er würde vor Kummer sterben, wenn meine Krankheit durch das Aufstehen einen tödlichen Verlauf nähme. Also gut, ich komme, sobald mein Arzt bei mir gewesen ist . . . Ah! Weshalb haben Sie Ihre Uhr nicht mehr?« sagte sie, als sie sah, daß er die Kette nicht trug.

Eugen errötete.

»Eugen, Eugen, wenn Sie sie bereits verkauft oder verloren hätten . . . Das wäre sehr schlimm!«

Der Student neigte sich über das Bett und sagte Delphine ins Ohr:

»Wollen Sie es wissen? Nun gut, Sie sollen es wissen! Ihr Vater besitzt nicht mehr so viel, daß er das Leichentuch bezahlen könnte, in das man ihn heute abend legen wird. Ihre Uhr ist versetzt, ich hatte selbst nichts mehr.«

Delphine sprang mit einem Satz aus dem Bett, lief zu ihrem Sekretär, nahm eine Börse und reichte sie Eugen. Sie schellte und rief:

»Ich komm, ich komme, Eugen. Lassen Sie mir nur die Zeit zum Anziehen. Aber ich wäre ja ein Ungeheuer! Gehen Sie! Ich werde vor Ihnen da sein.«

»Therese«, sagte sie zu ihrer Kammerzofe, »bitten Sie Herrn von Nücingen, sofort heraufzukommen, ich muß mit ihm sprechen.«

Eugen war ganz glücklich darüber, daß er dem Sterbenden den Besuch wenigstens einer seiner Töchter ankündigen konnte, und kam fast froh in der Rue Neuve-Ste-Geneviève an. Er kramte in der Börse, um den Kutscher sofort zu bezahlen. Die Börse dieser reichen, eleganten jungen Frau enthielt siebzig Francs. Als er oben war, sah er, wie der Vater Goriot von Bianchon gehalten wurde. Er war in Gegenwart des Arztes vom Heilgehilfen des Hospitals behandelt worden. Jetzt setzte man ihm Moxa auf den Rücken, aber auch dieses letzte Mittel der Wissenschaft sollte erfolglos bleiben.

»Fühlen Sie das Brennen?« fragte der Arzt.

Vater Goriot, der den Studenten bemerkt hatte, erwiderte:

»Sie kommen, nicht wahr?«

»Er kann noch durchkommen«, sagte der Heilgehilfe, »er spricht ja noch.«

»Ja«, erwiderte Eugen, »Delphine folgt mir.«

»Schon wieder seine Töchter«, sagte Bianchon, »er ruft nach ihnen, wie der Gepfählte nach Wasser schreit.«

»Hören Sie auf«, sagte der Arzt zum Krankenwärter, »es ist nichts mehr zu machen, man kann ihn nicht retten.«

Bianchon und der Wundarzt legten den Sterbenden wieder auf sein elendes Bett.

»Man müßte wenigstens die Wäsche wechseln«, sagte der Arzt. »Es besteht zwar keine Hoffnung mehr, aber man muß doch die Menschenwürde wahren. Ich komme zurück, Bianchon«, sagte er zu dem Studenten. »Wenn er noch über Schmerzen klagt, geben Sie ihm Opium.«

Arzt und Wärter verließen das Zimmer.

»Nur Mut, Eugen, mein Sohn!« sagte Bianchon, als sie allein waren. »Wir müssen ihm ein reines Hemd anziehen und die Bettwäsche wechseln. Sag Sylvia, daß sie Laken heraufbringt und uns hilft.«

Eugen ging hinunter. Madame Vauquer und Sylvia waren dabei, den Tisch zu decken. Auf die ersten Worte Rastignacs kam die Witwe zu ihm mit der sauersüßen Miene einer argwöhnischen Krämerin, die ihr Geld nicht verlieren, aber auch einen Kunden nicht erzürnen möchte.

»Mein lieber Herr Eugen«, sagte sie, »Sie wissen genausogut wie ich, daß der Vater Goriot keinen Sou mehr hat. Wenn man einem Menschen, der schon die Augen verdreht, frische Laken gibt, so sind sie verloren, und wir brauchen ja auch eins für das Leichentuch. Sie schulden mir schon hundertvierundvierzig Francs, rechnen Sie vierzig Francs für die Laken und Kleinigkeiten, auch für die Kerze, die Sylvia Ihnen gehen wird, so macht das alles mindestens zweihundert Francs, die kann eine arme Witwe wie ich nicht gut verlieren. Sie müssen doch gerecht sein, Herr Eugen, zum Henker, ich habe schon genug in den fünf Tagen eingebüßt, seitdem das Unglück sich bei mir einquartiert hat. Zehn Taler hätte ich gegeben, wenn der Alte pünktlich ausgezogen wäre. So was paßt meinen Pensionären nicht. Ich würde ihn gern gegen ein kleines Entgelt ins Hospital schaffen lassen. Versetzen Sie sich doch einmal in meine Lage. Mein Etablissement, das kommt zuerst, das ist für mich das Leben.«

Eugen begab sich eilig wieder nach oben.

»Bianchon, wo ist das Geld für die Uhr?«

»Es liegt auf dem Tisch; es bleiben uns noch dreihundertsechzig und einige Francs. Ich habe mit dem Geld, das ich erhielt, alles, was wir schuldig waren, bezahlt. Der Pfandschein liegt unter dem Geld.«

»Hier, Madame«, sagte Rastignac, nachdem er mit Grauen im Herzen die Treppe wieder herabgestiegen war, »machen Sie die Rechnung fertig, Herr Goriot wird nicht mehr lange bei Ihnen bleiben, und ich . . .«

»Ja, er wird mit den Füßen voraus das Haus verlassen, der arme Alte«, sagte sie, indem sie halb froh, halb melancholisch die zweihundert Francs nachzählte.

»Sylvia, gib Laken heraus und hilf den Herren da oben.«

»Sie vergessen doch Sylvia nicht«, sagte Madame Vauquer Eugen ins Ohr, »schon zwei Nächte hat sie gewacht.«

Sobald Eugen ihr den Rücken gewandt hatte, lief die Alte zur Köchin.

»Nimm die gewendeten Laken von Nr. 7. Das ist, weiß Gott, immer noch gut genug für einen Toten«, sagte sie ihr ins Ohr.

Eugen, der die Treppe schon einige Stufen hinaufgestiegen war, konnte diese letzten Worte seiner alten Wirtin nicht mehr hören.

»Los«, sagte Bianchon, »wir wollen ihm das Hemd überziehen. Halt ihn aufrecht!«

Eugen trat an das Kopfende des Bettes und hielt den Sterbenden, dem Bianchon das Hemd auszog. Der Alte machte eine Bewegung, um etwas auf der Brust festzuhalten. Er stieß dabei unartikulierte Laute aus, wie ein Tier, das Schmerzen leidet.

»Ah«, sagte Bianchon, »er sucht eine kleine Haarkette mit einem Medaillon, die wir ihm eben, um die Moxa aufzusetzen, fortgenommen haben. Der arme Mann! Man muß sie ihm zurückgeben, sie liegt auf dem Kamin.«

Eugen holte die Kette, die aus aschblonden Haaren, zweifellos denen der Madame Goriot, geflochten war. Auf der einen Seite des Medaillons las er: Anastasie, auf der anderen: Delphine. Es war das Bild seines Herzens, das ständig auf seinem Herzen ruhte. Die Locken im Inneren des Medaillons waren so zart, daß sie aus der ersten Kindheit der beiden Töchter stammen mußten. Als das Medaillon die Brust des Alten berührte, stieß er ein langes »Ah« aus, das ergreifende Zeichen seiner Beglückung. Es war eine der letzten Äußerungen seines Bewußtseins, das sich in das unbekannte Zentrum zurückzuziehen schien, von dem unsere Sympathien ausgehen und zu dem sie zurückkehren. Sein verzerrtes Gesicht bekam einen Ausdruck krankhaften Glückes.

Erschüttert über diese furchtbare Kraft des Gefühls, das Denken und Bewußtsein überlebte, vergossen die beiden Studenten heiße Tränen. Der Sterbende stieß einen grellen Freudenschrei aus.

»Nasie, Fifine«, rief er.

»Er lebt noch«, sagte Bianchon.

»Wozu nutzt ihm das?« fragte Sylvia.

»Um zu leiden«, erwiderte Rastignac.

Bianchon gab seinem Kameraden ein Zeichen und kniete dann nieder, um seine Arme unter die Knie des Kranken zu legen, während Rastignac am anderen Ende des Bettes seine Hände unter den Rücken legte. Sylvia stand da, bereit, die Laken zu wechseln, sobald der Sterbende emporgehoben würde. Goriot, der sicherlich durch die Tränen der beiden getäuscht wurde, nahm seine letzten Kräfte zusammen, um die Arme auszubreiten. Er erreichte die Köpfe der beiden Studenten, griff heftig in ihre Haare und murmelte leise: »Ah, meine Engel!«

Mit diesen beiden Worten hauchte er seine Seele aus.

»Der arme, liebe Mann«, sagte Sylvia. Sogar sie wurde durch diesen Ausruf weich gestimmt, in dem sich ein erhabenes Gefühl widerspiegelte, das durch die schrecklichste, unfreiwilligste Täuschung zum letzten Male zum Ausbruch gekommen war.

Der letzte Seufzer dieses Vaters sollte ein Freudenseufzer sein. Er war der Ausdruck seines ganzen Lebens, auch jetzt noch betrog er sich selbst. Vater Goriot wurde behutsam wieder auf sein Bett zurückgelegt. Von diesem Augenblick an bewahrte sein Gesicht die schmerzhaften Zeichen des Kampfes, den sich Tod und Leben in einem zur Maschine gewordenen Körper lieferten, der nicht mehr über das Bewußtsein verfügte, das den Menschen die Empfindungen von Freude und Schmerz vermittelt. Die Auflösung war nur noch eine Frage der Zeit.

»Er wird noch einige Stunden so bleiben und dann sterben, ohne daß man es bemerkt, er wird nicht einmal mehr röcheln. Das Gehirn muß vollständig gelähmt sein.«

Man hörte, wie eine junge Frau eilends die Treppe heraufkam.

»Sie kommt zu spät«, sagte Rastignac.

Es war nicht Delphine, es war Therese, ihre Kammerzofe.

»Herr Eugen«, sagte sie, »zwischen Monsieur und Madame hat es eine heftige Auseinandersetzung gegeben wegen des Geldes, das die arme Madame für ihren Vater forderte. Sie ist ohnmächtig geworden. Der Arzt mußte kommen, man hat sie zur Ader gelassen, sie schrie: ›Mein Vater stirbt, ich will Papa sehen!‹ Es waren Schreie zum Herzzerreißen.«

»Genug Therese, auch wenn sie käme, wäre es zu spät, Herr Goriot ist nicht mehr bei Bewußtsein.«

»Der arme, liebe Herr, so schlecht geht es ihm!« sagte Therese.

»Sie brauchen mich wohl nicht mehr«, sagte Sylvia, »ich muß nach meinem Essen sehen, es ist halb fünf.«

Auf der Treppe wäre sie beinahe mit Madame de Restaud zusammengestoßen.

Es war ein ernster, schrecklicher Augenblick, als die Gräfin im Zimmer erschien. Ihr Blick fiel auf das Totenbett, das von einer einzigen Kerze kümmerlich beleuchtet wurde. Sie vergoß heiße Tränen, als sie das maskenhafte Gesicht ihres Vaters sah, auf dem das letzte Leben verzuckte. Bianchon zog sich diskret zurück.

»Ich konnte nicht früher wegkommen«, sagte die Gräfin zu Rastignac.

Der Student machte eine traurige, zustimmende Kopfbewegung. Madame de Restaud ergriff die Hand ihres Vaters und küßte sie.

»Verzeih mir, Vater! Du sagtest, meine Stimme würde dich aus dem Grabe zurückrufen. So kehre für einen Augenblick wenigstens ins Leben zurück, um deine reuige Tochter zu segnen. Höre mich! Es ist schrecklich. Dein Segen ist das einzige, was mir hienieden noch zuteil werden kann. Alle Welt haßt mich, du allein liebst mich. Meine Kinder selbst werden mich hassen. Nimm mich mit dir, ich will dich lieben, ich will dich pflegen. Er hört nicht mehr . . ., ich werde wahnsinnig.«

Sie sank auf die Knie und betrachtete die irdische Hülle ihres Vaters mit dem Ausdruck des Wahnsinns.

»Das Maß meines Unglücks ist voll«, sagte sie, Eugen ansehend. »Herr de Trailles ist verschwunden, er hat enorme Schulden zurückgelassen, ich habe erfahren, daß er mich betrog. Mein Gatte wird mir niemals verzeihen, und ich habe ihn zum Herrn meines Vermögens machen müssen. Alle meine Illusionen habe ich verloren. Ah! Für wen habe ich dieses einzige Herz verraten« – sie wies auf ihren Vater, »das mich anbetete. Ich habe ihn mißachtet, ich habe ihn verstoßen, ich habe ihm tausend Leiden zugefügt, Elende, die ich bin.«

»Er wußte alles«, sagte Rastignac.

Vater Goriot schlug noch einmal die Augen auf, aber nur infolge eines Krampfes. Die Geste der Hoffnung, die die Gräfin machte, war nicht weniger schrecklich anzusehen als das Auge des Sterbenden.

»Ob er mich noch hört?« rief die Gräfin. »Nein«, sagte sie und setzte sich neben das Bett.

Da Madame de Restaud den Wunsch äußerte, bei ihrem Vater zu wachen, ging Eugen hinunter, um etwas zu essen.

»Nun«, fragte der Maler, »es scheint wohl, daß wir einen kleinen Totorama da oben haben?«

»Charles«, erwiderte Eugen, »ich glaube, Sie sollten nicht über so grausige Dinge scherzen.«

»Können wir denn hier nicht mal mehr lachen?« sagte der Maler. »Was macht das schon, da Bianchon sagt, daß der Alte nicht mehr bei Besinnung ist?«

»Na«, meinte der Museumsbeamte, »dann stirbt er so, wie er gelebt hat.«

»Mein Vater ist tot«, schrie die Gräfin.

Auf diesen schrecklichen Ruf eilten Sylvia, Rastignac und Bianchon nach oben. Sie fanden Madame de Restaud ohnmächtig. Nachdem sie sie wieder zu sich gebracht hatten, schafften sie sie in den Fiaker, der gewartet hatte. Eugen vertraute sie Therese an und trug ihr auf, sie zu Madame de Nücingen zu bringen.

»Ja, jetzt ist er wirklich tot«, sagte Bianchon, als er wieder herunterkam.

»Zu Tisch, meine Herren«, rief Madame Vauquer, »die Suppe wird kalt.«

Die beiden Studenten setzten sich nebeneinander.

»Was gibt es jetzt zu tun?« fragte Eugen Bianchon.

»Nun, ich habe ihm die Augen zugedrückt und ihn richtig gelegt. Wenn der Bezirksarzt den Tod festgestellt hat, den wir anmelden werden, wird man ihn in das Leichentuch nähen, und er wird beerdigt. Was soll sonst geschehen?«

»Er wird nicht mehr an seinem Brot riechen«, meinte ein Pensionär und machte die Grimasse des Alten nach.

»Sakrament noch mal«, sagte der Repetitor, »lassen Sie doch den Vater Goriot. Wir haben genug davon. Man hat ihn uns seit einer Stunde mit allen möglichen Soßen vorgesetzt. Es ist eines der Privilegien der guten Stadt Paris, daß man hier geboren werden, leben und sterben kann, ohne daß irgendwer acht darauf gibt. Freuen wir uns dieser Vorteile der Zivilisation. Es gibt heute sechzig Tote, sollen wir über diese Pariser Hekatomben jammern? Wenn Vater Goriot krepiert ist, um so besser für ihn! Wenn Sie ihn anbeten, wachen Sie bei ihm, aber lassen Sie uns andere in Ruhe essen!«

»Ja, ja«, sagte die Witwe, »besser für ihn, daß er tot ist! Es scheint, daß der arme Mann viel Kummer in seinem Leben gehabt hat.«

Das war die einzige Leichenrede für ein Wesen, das für Eugen zum Sinnbild der Vaterliebe geworden war. Die fünfzehn Tischgäste unterhielten sich wie gewöhnlich. Als Eugen und Bianchon gegessen hatten, packte sie das Entsetzen über das Klappern der Gabeln und Löffel, die lustige Unterhaltung, das sorglose Aussehen dieser gefräßigen und gleichgültigen Gesellschaft. Sie gingen fort, um einen Priester zu holen, der während der Nacht bei dem Toten beten und wachen sollte. Sie mußten bei diesen letzten Pflichten gegenüber dem Alten das wenige Geld, über das sie noch verfügten, gut einteilen. Um neun Uhr abends wurde die Leiche zwischen zwei Kerzen in dem kahlen Zimmer aufgebahrt, und der Priester nahm seinen Platz ein. Vor dem Schlafengehen erkundigte sich Rastignac bei dem Geistlichen nach dem Preis des Begräbnisses und der Seelenmesse. Er schrieb darauf an Herrn von Nücingen und Herrn von Restaud und bat sie, ihre Sachwalter zu schicken, um für die Kosten der Bestattung aufzukommen. Er entsandte Christoph mit den Briefen und legte sich dann, von Müdigkeit übermannt, schlafen. Am folgenden Morgen waren Rastignac und Bianchon gezwungen, selbst den Tod anzumelden, der gegen Mittag konstatiert wurde. Zwei Stunden später hatten die Schwiegersöhne noch kein Geld geschickt, niemand ließ sich in ihrem Namen melden, und Rastignac war gezwungen, die Kosten für den Priester selbst zu bezahlen. Als Sylvia zehn Francs für die Einsargung des Alten und das Einnähen in das Leichentuch verlangte, rechneten Eugen und Bianchon aus, daß sie, wenn die Verwandten sich um nichts kümmern wollten, kaum für die Kosten der Bestattung aufkommen könnten. Der junge Mediziner legte daher selbst den Leichnam in einen Armensarg, den er vom Hospital kommen ließ, wo er ihn billiger erhielt.

»Spiel diesen Burschen einen Streich«, sagte er zu Eugen. »Kauf ein Terrain für fünf Jahre auf dem Père Lachaise und bestell einen Dienst dritter Klasse für die Kirche und die Bestattung. Wenn die Schwiegersöhne und die Töchter dir das Geld nicht zurückgeben, läßt du auf dem Grabstein folgende Inschrift anbringen: ›Hier ruht Goriot, Vater der Gräfin de Restaud und der Baronin de Nücingen. Er wurde auf Kosten zweier Studenten beerdigt.‹«

Eugen befolgte diesen Rat seines Freundes erst, nachdem er vergebens bei Herrn und Frau de Nücingen und bei Herrn und Frau de Restaud gewesen war.

Er kam nicht weiter als bis zum Tor. Die beiden Hausmeister hatten strikte Anweisungen.

»Monsieur und Madame«, sagten sie, »empfangen niemanden, ihr Vater ist gestorben, sie sind in tiefster Trauer.«

Eugen kannte das Pariser Leben zur Genüge, um zu wissen, daß weiteres Drängen nutzlos sei. Das Herz krampfte sich ihm zusammen, als er sah, daß es unmöglich war, zu Delphine zu gelangen.

»Verkaufen Sie ein Schmuckstück«, schrieb er ihr beim Pförtner, »auf daß Ihr Vater würdig zu seiner letzten Ruhestätte geführt werde.«

Er steckte den Zettel in einen Umschlag und bat den Hausmeister, ihn Therese zu überbringen. Aber der Hausmeister gab den Brief dem Baron de Nücingen, der ihn ins Feuer warf. Gegen drei Uhr kehrte Eugen zur Pension zurück. Er konnte die Tränen nicht unterdrücken, als er vor der Tür den kaum mit schwarzem Tuch bedeckten Sarg sah, der in der einsamen Straße auf zwei Stühlen stand. Ein armseliger Weihwedel, an den noch niemand gerührt hatte, lag in einem versilberten Kupferbecken mit Weihwasser. Die Tür war nicht einmal schwarz ausgeschlagen. Es war der Tod der Armen, ohne Gepränge, ohne Gefolge, ohne Freunde und Verwandte. Bianchon, der im Hospital bleiben mußte, hatte Rastignac schriftlich über die Besorgung des Gottesdienstes berichtet. Er teilte mit, daß eine Messe zu teuer sei, daß man sich mit einem weniger kostspieligen Vesperdienst begnügen müsse und daß er Christoph zu den Leichenbestattern geschickt habe. Als Eugen das Gekritzel Bianchons las, sah er in den Händen der Madame Vauquer das goldgeränderte Medaillon.

»Wie konnten Sie wagen, das an sich zu nehmen?« sagte er.

»Nanu? Soll man das mit begraben?« erwiderte Sylvia. »Es ist doch aus Gold.«

»Gewiß«, erwiderte Eugen empört, »er soll wenigstens das einzige mitnehmen, was ihn an seine Töchter erinnern kann.«

Als der Leichenwagen kam, ließ Eugen den Sarg noch einmal nach oben schaffen, öffnete ihn und legte fromm auf die Brust des Alten das Bild einer Zeit, als Anastasie und Delphine noch Kinder, jungfräulich und rein waren, als sie nicht »räsonierten«, wie der Alte in seinen Todesschreien gesagt hatte. Rastignac und Christoph begleiteten allein mit zwei Leichenträgern den Wagen, der den Alten zur nahen Kirche St-Étienne du Mont brachte. Dort wurde die Leiche in einer kleinen dunklen Kapelle aufgebahrt. Der Student suchte vergebens die beiden Töchter und ihre Gatten. Er war allein mit Christoph, der sich verpflichtet fühlte, einem Mann die letzte Ehre zu erweisen, von dem er einige gute Trinkgelder bekommen hatte. Während sie auf die beiden Priester, den Chorknaben und den Kirchendiener warteten, drückte Rastignac Christoph stumm die Hand.

»Ja, Herr Eugen«, sagte Christoph, »er war ein braver und ehrlicher Mann, der niemals ein Wort zu laut sagte, der niemandem was zuleide tat und keine böse Tat auf dem Gewissen hatte.«

Die beiden Priester und ihr Gefolge kamen und leisteten alles, was man für siebzig Francs haben kann in einer Zeit, in der die Kirche nicht reich genug ist, um gratis zu beten. Die Kirchenleute sangen einen Psalm, das »Libera« und das »De Profundis«. Der Gottesdienst dauerte zwanzig Minuten. Es war nur ein Trauerwagen da für den Priester und einen Chorknaben, die aber Eugen und Christoph mitnahmen.

»Es ist kein Trauergefolge da«, sagte der Priester, »wir können schnell fahren, damit wir uns nicht verspäten, es ist fünfeinhalb Uhr!«

Als jedoch der Sarg auf den Leichenwagen gesetzt wurde, erschienen zwei wappengeschmückte Wagen, die des Grafen Restaud und des Barons de Nücingen. Die Wagen waren leer. Sie folgten dem Zuge bis zum Père Lachaise. Um sechs Uhr wurde der Leichnam des Vaters Goriot in die Gruft gesenkt. Ringsumher standen die Diener seiner Töchter, die mit den Geistlichen verschwanden, sobald das kurze Gebet gesprochen war, das der Student mit seinem Gelde bezahlt hatte. Als die beiden Totengräber einige Schaufeln Erde auf den Sarg geworfen hatten, um ihn zu bedecken, richteten sie sich auf. Der eine wandte sich an Rastignac und bat um ein Trinkgeld. Eugen durchsuchte seine Taschen, fand aber nichts. Er mußte sich bei Christoph ein Francstück leihen. Diese Tatsache, so unbedeutend sie an sich sein mochte, übte auf Eugen eine niederschmetternde Wirkung aus. Der Tag ging zur Neige, eine feuchte Dämmerung stieg herauf und legte sich beängstigend auf die Nerven. Er warf noch einmal einen Blick auf das Grab. Eine letzte Träne tropfte auf die Schollen, die letzte Träne des Jünglings, die aus reinen Empfindungen und reinem Herzen kam, eine dieser Tränen, die von der Erde, auf die sie fallen, zum Himmel aufsteigen. Er kreuzte die Arme und sah dem Spiel der Wolken zu. Christoph, der ihn so sah, ließ ihn allein.

Er war mit einigen Schritten auf dem höchsten Punkt des Friedhofes angelangt und sah Paris sich längs der beiden Ufer des Flusses dahinwinden. Hier und da begannen die Lichter aufzuflammen. Seine Augen hingen beinahe gierig an dem Raum zwischen der Vendômesäule und dem Invalidendom, dort, wo die vornehme Welt lebte, in die er einst hatte eindringen wollen. Er warf auf diesen summenden Bienenkorb einen Blick, als wollte er allen Honig daraus einsaugen. Dann sprach er das stolze Wort:

»Jetzt haben wir zwei es miteinander zu tun.« Und der erste Akt seiner Herausforderung an die Gesellschaft bestand darin, daß er zum Diner der Madame de Nücingen ging.

 


 


 << zurück