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Eugen war am Morgen durch Madame de Nücingen zur Verzweiflung gebracht worden. Er war in seinem Innern ganz Vautrin verfallen, ohne daß er die Motive der Freundschaft prüfen wollte, die ihm dieser seltsame Mensch entgegenbrachte, noch die Folgen einer Verbindung mit ihm. Es war ein Wunder nötig, um ihn aus dem Abgrund zu retten, in den er seit einer Stunde, seit dem Liebesgeplauder mit Fräulein Taillefer, geraten war. Victorine glaubte, die Stimme eines Engels zu hören, die Himmel öffneten sich ihr, das Haus Vauquer glänzte in phantastischen Farben wie ein Märchenschloß im Theater: Sie liebte, sie wurde geliebt – so glaubte sie wenigstens! Und welche Frau hätte es nicht geglaubt, wenn sie, wie sie, während dieser Stunde, in der die Argusse des Hauses Ruhe gaben, Rastignac gesehen und gehört hätte? Er kämpfte mit seinem Gewissen, wußte, daß er Unrecht tat, und tat es doch! Er wollte diesen Fehltritt durch das Glück einer Frau wiedergutmachen. Die Verzweiflung machte ihn schöner, sein Geist leuchtete von all den Freuden der Hölle, die er im Herzen hatte. Zum Glück für ihn geschah das Wunder: Vautrin betrat gutgelaunt das Zimmer. Er las in der Seele der beiden jungen Leute, daß sie durch sein infernalisches Genie zusammengebracht worden waren. Aber er zerstörte ihre Freude, indem er mit seiner spöttischen Baßstimme sang:
»Fanchette ist so reizend
In ihrer Einfachheit . . .«
Victorine verließ das Zimmer, im Herzen ebenso glücklich, wie sie bisher ihr ganzes Leben lang unglücklich gewesen war. Das arme Mädchen! Ihr leidenschaftliches Verlöbnis war nichts als ein Händedruck, das Gleiten der Haare Eugens über ihre Wange, ein ins Ohr geflüstertes Wort, bei dem sie den Atem des Studenten gespürt hatte, das Beben seines Armes, der sie sanft umfaßt hielt, und ein Kuß auf den Nacken! Und die Nähe der dicken Sylvia, die stets in dieses strahlende Speisezimmer zu treten drohte, machte diese Stunde noch glühender, lebhafter und verlockender als die schönsten Szenen der berühmtesten Liebesgeschichten. Aber dies schien dem frommen jungen Mädchen, das alle vierzehn Tage zur Beichte ging, schon ein Verbrechen zu sein. In dieser Stunde hatte sie mehr Schätze ihrer Seele verschwendet, als sie später, reich und glücklich, durch ihre Hingabe schenken konnte.
»Die Sache ist gemacht«, sagte Vautrin zu Eugen. »Unsere beiden Dandys sind aufeinander losgegangen. Alles ist nach Wunsch abgelaufen. Meinungsverschiedenheiten! Unser Täubchen hat meinen Falken beleidigt. Die Geschichte findet morgen auf der Redoute von Clignancourt statt. Um achteinhalb Uhr beerbt Fräulein Taillefer ihren Bruder in der Liebe und im Geld ihres Vaters, während sie ganz ruhig ihr Butterbrot in den Kaffee stippt. Ist die Sache nicht lustig? Der kleine Taillefer ist im Degen sehr stark, er ist voll Zuversicht wie ein alter Raufbold. Aber er wird zur Ader gelassen durch einen Hieb, den ich erfunden habe: Man schlägt den Degen des Gegners hoch und trifft ihn auf die Stirn. Ich werde Ihnen den Stoß einmal zeigen, er ist verdammt zu gebrauchen.«
Rastignac hörte geistesabwesend zu und konnte nichts erwidern. In diesem Augenblick kamen Goriot, Bianchon und einige andere Pensionäre in das Zimmer.
»Sie sind richtig so, wie ich Sie wünsche«, sagte Vautrin zu Rastignac. »Sie wissen jetzt, was Sie zu tun haben. Gut, mein kleiner Adler! Sie werden die Menschen regieren, Sie sind stark, hart und entschlossen. Ich habe Achtung vor Ihnen!«
Er wollte ihm die Hand reichen. Rastignac zog hastig seine Hand zurück und fiel erblassend auf einen Stuhl. Er glaubte, eine Blutlache vor sich zu sehen.
»Ah, wir liegen noch ein wenig in den Tugendwindeln«, sagte Vautrin leise. »Papa d'Oliban hat drei Millionen, ich kenne sein Vermögen. Die Mitgift wird Sie blütenweiß wie einen Brautschleier machen – auch in Ihren eigenen Augen.«
Rastignac zögerte nicht länger. Er beschloß, Taillefer Vater und Sohn während des Abends aufzuklären. Als Vautrin ihn verließ, sagte ihm Vater Goriot ins Ohr:
»Sie sind traurig, mein Kind! Ich werde Sie aufheitern. Kommen Sie mit!«
Er zündete an einer Lampe seine Kerze an. Eugen folgte ihm voller Neugier.
»Gehen wir in Ihr Zimmer«, sagte der Alte, der den Schlüssel des Studenten von Sylvia gefordert hatte. »Sie haben heute morgen sicher geglaubt, daß Delphine Sie nicht liebt, nicht wahr?« fragte er. »Sie hat Sie energisch abgewiesen, und Sie sind wütend und verzweifelt fortgegangen. Sie Dummchen! Sie erwartete mich! Verstehen Sie? Wir wollten die Einrichtung eines Juwels von Wohnung beenden, in die Sie in drei Tagen ziehen werden. Verraten Sie mich aber nicht! Sie will Sie überraschen, aber ich kann Ihnen das Geheimnis nicht länger vorenthalten. Sie werden in der Rue d'Artois, zwei Schritte weg von der Rue Ste-Lazare, wohnen. Wie ein Prinz werden Sie dort hausen. Wir haben für Sie Möbel ausgesucht wie für eine Braut. Seit einem Monat waren wir daran, ohne Ihnen etwas zu sagen. Mein Advokat hat den Kampf begonnen, meine Tochter wird ihre 36 000 Francs im Jahre haben, die Zinsen ihrer Mitgift, und ich werde dafür sorgen, daß ihre 800 000 Francs in guten Papieren angelegt werden.«
Eugen blieb stumm und ging mit gekreuzten Armen in seinem elenden, unordentlichen Zimmer auf und ab. Vater Goriot benutzte einen Moment, in dem der Student ihm den Rücken kehrte, um auf den Kaminsims ein Kästchen aus rotem Maroquinleder zu stellen, auf dem in Gold das Wappen der Rastignacs eingeprägt war.
»Mein teures Kind«, sagte der arme Alte, »ich habe bis an den Hals in der Arbeit gesteckt. Aber, sehen Sie, bei mir sprach auch der Egoismus mit, denn ich bin an Ihrem Wohnungswechsel interessiert. Sie werden mir doch nicht abschlagen, wie, wenn ich Sie um etwas bitte?«
»Was wünschen Sie denn?«
»Über Ihrem Appartement ist im fünften Stock ein Zimmer, das dazugehört. Dort möchte ich wohnen, nicht wahr? Ich werde alt, ich bin zu weit von meinen Töchtern entfernt. Ich werde Ihnen nicht lästig fallen. Ich werde nur da sein. Sie müssen mir jeden Abend von meinen Töchtern erzählen. Sie haben doch nichts dagegen, nein? Wenn Sie nach Hause kommen und ich zu Bett liege, werde ich Sie hören und mir sagen: Er war mit meiner kleinen Delphine zusammen. Er hat sie zum Ball geführt. Sie ist glücklich durch ihn. Wenn ich krank wäre, so wäre es ein Balsam für mein Herz, wenn ich Sie kommen und gehen hörte. Sie sind doch ein Stück von meiner Tochter! Ich brauche nur einen Schritt bis zu den Champs-Élysées zu gehen, wo sie jeden Tag vorbeifahren, ich werde sie immer sehen, während ich jetzt manchmal zu spät komme. Und vielleicht kommt sie dann auch zu Ihnen! Ich werde sie hören, ich werde sie in ihrem Morgenkleidchen sehen, wie sie graziös dahertrippelt wie ein kleines Kätzchen. Seit einem Monat ist sie wieder geworden, wie sie früher war, das lustige, strahlende junge Mädchen. Ihre Seele ist in Genesung – Ihnen verdankt sie ihr Glück. Oh! Ich werde für Sie das Unmöglichste tun. Eben sagte sie mir, als wir zurückkamen: ›Papa, ich bin sehr glücklich!‹ Wenn sie zeremoniell zu mir sagen: ›Mein Vater!‹, so wird es mir kalt, aber wenn sie mich Papa nennen, dann scheinen sie mir noch klein zu sein, und meine alten Erinnerungen werden lebendig. Dann bin ich richtig ihr Vater. Ich glaube dann, daß sie niemand anders gehören.«
Der Alte trocknete sich die Tränen, die ihm über die Wangen liefen.
»Es ist lange her, daß sie mich so genannt hat, lange her, daß sie mir den Arm gab. Ah, ja! Es sind bald zehn Jahre, daß ich Seite an Seite mit einer meiner Töchter ging. Wie tut es gut, ihr Kleid zu fühlen, mit ihr Schritt zu halten, die Wärme, die sie ausströmt, zu spüren!
Nun also, ich habe heute morgen Delphine überallhin begleitet. Ich bin mit ihr in die Läden gegangen, und ich habe sie wieder nach Hause gebracht. Oh, behalten Sie mich bei sich! Wenn Sie einmal jemanden für irgendeinen Dienst brauchen, ich bin immer da. Ach, wenn dieser grobe Klotz von Elsässer stürbe, wenn die Gicht so schlau wäre, ihm in den Magen zu steigen, wie glücklich wäre meine Tochter! Sie wären dann mein Schwiegersohn und vor aller Welt ihr Gatte. Sie weiß so gar nichts von den Freuden dieser Welt, sie ist so unglücklich, daß ich ihr alles verzeihe. Der liebe Gott muß auf der Seite der Väter sein, die wirklich lieben. Sie liebt Sie zu sehr!« sagte er nach einer Pause, indem er den Kopf hob. »Unterwegs sprach sie mit mir von Ihnen: ›Nicht wahr, Vater, er ist gut, er hat ein gutes Herz; spricht er viel von mir?‹ Bände hat sie mir so erzählt, von der Rue d'Artois bis zur Passage des Panoramas! Sie hat mir so richtig ihr Herz ausgeschüttet. Den ganzen Morgen über fühlte ich mich jung und leicht. Ich habe ihr gesagt, daß Sie mir den Tausendfrancschein gegeben haben. Ach, das liebe Kind, sie war bis zu Tränen gerührt. Was haben Sie denn da auf Ihrem Kamin?« fragte er schließlich. Er verging fast vor Ungeduld, weil Rastignac sich nicht rührte.
Eugen sah ganz verdutzt seinen Nachbar an. Das Duell, das Vautrin für den folgenden Tag angekündigt hatte, stand so im Widerspruch zu der Verwirklichung seiner schönsten Hoffnungen, daß er das Gefühl eines wahren Alpdruckes hatte. Er wandte sich zum Kamin, sah das kleine Kästchen, öffnete es und fand darin einen Zettel, der eine Uhr von Breguet bedeckte. Auf dem Zettel stand:
»Ich will, daß Sie zu jeder Stunde an mich denken, weil . . .
Delphine.«
Dieses »weil« enthielt ohne Zweifel die Anspielung auf eine Szene, die sie miteinander gehabt hatten. Eugen war gerührt. Im inneren Uhrdeckel war sein Wappen eingraviert. Dieses so lange begehrte Schmuckstück, die Kette, der Schlüssel, die Machart, die Verzierungen, alles entsprach seinen Wünschen. Vater Goriot strahlte vor Freude. Er hatte gewiß seiner Tochter versprochen, ihr die kleinsten Einzelheiten des Eindruckes, den die Überraschung auf Eugen machen würde, zu berichten. Er nahm als dritter an diesen Freuden der Jugend teil, und er schien nicht weniger glücklich zu sein. Er liebte Rastignac bereits, um seiner Tochter und um seiner selbst willen.
»Sie werden sie heute abend sehen, sie erwartet Sie. Der grobe Klotz von Elsässer soupiert bei seiner Tänzerin. Ah! er hat ein recht dummes Gesicht gemacht, als mein Advokat ihm den Standpunkt klarmachte. Behauptet er nicht, meine Tochter bis zur Vergötterung zu lieben? Er soll nur an sie rühren, und ich bringe ihn um. Bei dem Gedanken, daß meine Delphine einem . . . (er seufzte) angehört, könnte ich zum Verbrecher werden. Aber das wäre kein Mord, denn der Kerl ist nichts als ein Kalbskopf auf einem Schweinsrumpf. Also, Sie behalten mich bei sich, nicht wahr?«
»Ja, mein guter Vater Goriot, Sie wissen doch, wie sehr ich Sie liebe.«
»Ich sehe es wohl, Sie schämen sich meiner nicht! Lassen Sie mich Sie umarmen!«
Er drückte den Studenten an sich.
»Sie müssen sie recht glücklich machen, versprechen Sie es mir? Sie gehen heute abend hin, nicht wahr?«
»Ach ja, mir fällt ein, ich muß eine dringende Angelegenheit erledigen, die ich unmöglich aufschieben kann.«
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
»Aber gewiß. Während ich zu Madame de Nücingen gehe, gehen Sie zu dem alten Taillefer und sagen ihm, daß er für heute abend eine Stunde angeben soll, zu der ich ihn in einer höchst wichtigen Angelegenheit sprechen kann.«
»Ist es also wahr«, rief Vater Goriot mit plötzlich verändertem Gesichtsausdruck, »Sie machen seiner Tochter den Hof, wie die Dummköpfe da unten erzählen? Heiliger Donner! Sie wissen nicht, was es heißt, wenn Vater Goriot zuhaut. Wenn Sie uns betrügen, dann genügt ein Faustschlag. Aber – das ist ja nicht möglich.«
»Ich schwöre Ihnen, daß ich nur eine Frau auf der Welt liebe«, sagte der Student, »ich weiß es seit diesem Augenblick.«
»Ah! Welches Glück!« antwortete Vater Goriot.
»Aber«, sagte der Student weiter, »der junge Taillefer duelliert sich morgen, und ich habe gehört, daß er getötet werden wird.«.
»Was geht das Sie an?« sagte Vater Goriot.
»Aber man muß dem Vater sagen, daß er seinen Sohn hindert . . .«, rief Eugen.
In diesem Augenblick wurde er unterbrochen durch die Stimme Vautrins, der vor seiner Tür sang:
»O Richard, o mein König,
Die Welt läßt dich im Stich!
Brumm, brumm, brumm, brumm!
Überall bin ich zu Hause,
Überall bin ich bekannt!
Tra la la la!«
»Meine Herren«, rief Christoph, »die Suppe wartet, alles ist schon zu Tisch.«
»Heda«, rief Vautrin, »hol eine Flasche von meinem Bordeaux herauf.«
»Ist sie hübsch, die Uhr?« sagte Vater Goriot. »Sie hat einen guten Geschmack, wie?«
Vautrin, Vater Goriot und Rastignac stiegen gemeinsam die Treppe hinunter und kamen infolge der Verspätung nebeneinander zu sitzen.
Eugen war während des Diners zu Vautrin sehr kühl, obwohl dieser, der in den Augen der Madame Vauquer doch stets ein netter Mann war, noch nie soviel Witz aufgebracht hatte wie heute. Er machte launige Bemerkungen und wußte die Tischgäste in Schwung zu bringen. Diese Sicherheit und Kaltblütigkeit machten Eugen starr.
»Was ist denn heute in Sie gefahren?« sagte Madame Vauquer, »Sie sind ja lustig wie ein Buchfink.«
»Ich bin immer lustig, wenn die Geschäfte gut gehen.«
»Geschäfte?« fragte Eugen.
»Nun ja: Geschäfte. Ich habe eine Partie Ware geliefert, die mir eine gute Kommission einbringt. Fräulein Michonneau«, sagte er, als er merkte, daß die alte Jungfer ihn beobachtete, »gefällt Ihnen etwas an meinem Gesicht nicht, daß Sie mich so finster anschauen? Dann müssen Sie es sagen, ich kann es ändern, wenn ich Ihnen damit einen Gefallen tue. Poiret, wir werden es deswegen doch nicht miteinander verderben, was?« sagte er, den ehemaligen Beamten ins Auge fassend.
»Sapperlot! Sie wären ein gutes Modell für Herkules als Spaßmacher«, sagte der junge Maler zu Vautrin.
»Nicht übel, wenn Ihnen Fräulein Michonneau als Venus vom Père Lachaise sitzen will«, meinte Vautrin.
»Und Poiret?« fragte Bianchon.
»Poiret ist einfach Poiret, der Gott der Gärten«, rief Vautrin. »Er stammt ja von der Birne (poire) her!«
»Das ist ja alles Unsinn«, ließ sich Madame Vauquer vernehmen. »Aber ich sehe da eine Flasche Bordeaux, die mir in die Nase sticht. So was macht lustig und ist gut für den Magen.«
»Meine Herren«, sagte Vautrin, »unsere Präsidentin ruft uns zur Ordnung. Madame Couture und Fräulein Victorine werden an Ihren losen Reden keinen Anstoß nehmen, aber achten Sie die Unschuld des Vaters Goriot. Ich schlage Ihnen ein kleines Bordeauxrama vor, dem der Name Laffitte doppelten Ruhm verleiht! Los, Chinese«, sagte er, Christoph ansehend, der sich nicht rührte. »Hierher, Christoph! Nun, du hörst nicht auf deinen Namen? Chinese, sorge für Stoff!«
»Schon da«, sagte Christoph, der eine Flasche brachte.
Vautrin füllte die Gläser Eugens und Goriots und goß sich dann selbst einige Tropfen ein, um zu probieren, während die beiden anderen ihre Gläser austranken. Plötzlich machte er eine Grimasse:
»Pfui Teufel! Der schmeckt nach Korken. Nimm die Pulle für dich, Christoph, und bring uns andere. Rechts, weißt du? Wir sind sechzehn, also acht Flaschen.«
»Da Sie was springen lassen«, sagte der Maler, »stifte ich auch etwas: hundert geröstete Kastanien.«
»Oh! Oh! Buuuuh! Prrrr!«
Jeder versuchte sich in Ausrufen, die das Platzen einer Rakete imitierten.
»Dann los, Madame Vauquer, her mit zwei Flaschen Champagner«, sagte Vautrin.
»Das wäre so was! Warum nicht gleich das ganze Haus verlangen? Zwei Flaschen Champagner, das kostet zwölf Francs! Soviel verdiene ich ja gar nicht. Wenn Herr Eugen sie aber bezahlt, spendiere ich Johannisbeerlikör.«
»Das beste Abführmittel, Ihr Johannisbeerlikör!« sagte der Mediziner leise.
»Willst du still sein, Bianchon«, rief Rastignac. »Mir wird schon bei dem Wort übel . . . Also her mit dem Champagner, ich bezahle.«
»Sylvia«, rief Madame Vauquer, »bringen Sie die Biskuits her und die kleinen Kuchen.«
»Ihre kleinen Kuchen sind zu groß«, meinte Vautrin, »sie haben schon Bärte. Aber was die Biskuits angeht, her damit.«
Der Bordeaux machte die Runde, die Gäste wurden lebhafter und die Heiterkeit immer größer. Alles lachte durcheinander, dazwischen hörte man Imitationen von Tierstimmen. Der Museumsbeamte begann, den Ruf eines Pariser Straßenhändlers wiederzugeben, der Ähnlichkeit mit dem Miauen eines verliebten Katers hatte, und sofort brüllte alles gleichzeitig los:
»Messerschleifer, Messerschleifer!« – »Vogelfutter, gutes, für die kleinen Vögel!« – »Schöne Ausklopfer. Für die Kleider und für die Weiber!« – »Wer verkauft alte Kleider, alte Hüte?«
Die anderen ahmten die Rufe des Schaubudenbesitzers, des Kesselflickers und der Obstverkäufer nach. Die Palme aber gebührte Bianchon, der mit näselnder Stimme den Ruf des Händlers mit alten Regenschirmen zum besten gab.
Es entstand ein ohrenbetäubender Lärm; überall wurden Witze und Wortspiele gemacht. Vautrin dirigierte sein Orchester, überwachte aber zugleich Eugen und Vater Goriot, die schon betrunken zu sein schienen. Beide lehnten sich in ihren Stühlen zurück und sahen mit ernster Miene dem ungewohnten Wirrwarr zu, ohne viel zu trinken. Sie dachten an die Pflichten des Abends, waren aber nicht imstande, sich zu erheben.
Vautrin, der sich durch Seitenblicke von den Veränderungen ihres Gesichtsausdruckes überzeugte, neigte sich zu Rastignac, dessen Augen bereits zuzufallen drohten, und flüsterte ihm ins Ohr:
»Mein Jungchen, wir sind noch nicht gerieben genug, um gegen Papa Vautrin aufzutrumpfen. Er liebt Sie auch zu sehr, als daß er Sie diese Dummheiten begehen lassen könnte. Wenn ich etwas beschlossen habe, so ist nur der liebe Gott stark genug, um mir die Passage zu sperren. Also wir wollten einen Schuljungenstreich begehen und den alten Taillefer warnen. Der Ofen ist geheizt, der Teig geknetet, das Brot auf der Schaufel; morgen wird es schön knusprig sein, wenn wir dreinbeißen – und wir wollen verhüten, daß es in den Ofen kommt? Nein, nein, es wird gebacken! Wenn wir unsere kleinen Gewissensbisse bekommen, die werden wir schon verdauen. Während wir heute nacht hübsch ruhig schlafen, wird der Oberst Graf Franchessini Sie mit seiner Degenspitze zum Erben des Michel Taillefer machen. Als Erbin ihres Bruders hat Victorine ihre 15 000 Francs Rente. Ich habe mich bereits erkundigt, ich weiß, daß der Nachlaß der Mutter 300 000 Francs beträgt.«
Eugen hörte diese Worte, ohne antworten zu können. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, und er verspürte ein unbezwingliches Schlafbedürfnis. Er sah den Tisch und die Gäste nur noch wie durch einen hellen Nebel. Der Lärm legte sich allmählich, und die Gäste verließen einer nach dem anderen das Zimmer. Als nur noch Madame Vauquer, Madame Couture, Fräulein Victorine, Vautrin und Vater Goriot anwesend waren, sah Rastignac wie im Traum Madame Vauquer damit beschäftigt, die Weinreste zusammenzugießen, um einige Flaschen zu bekommen.
»Ah, sind sie jung, sind sie toll«, sagte sie.
Dies waren die letzten Worte, die Eugen vernahm.
»Nur Vautrin kann solche Späße anstellen«, sagte Sylvia. »Sehen Sie nur, Christoph ist fest eingeschlafen; er schnarcht wie ein Kreisel.«
»Adieu, Mama,« sagte Vautrin. »Ich gehe zum Boulevard, um Marty im ›Mont Sauvage‹ zu bewundern, ein großes Stück nach dem Roman ›Solitaire‹ . . . Wenn Sie Lust haben, kommen Sie mit – die Damen auch?«
»Ich danke, nein«, sagte Madame Couture.
»Wie, Frau Nachbarin«, rief die Vauquer, »Sie wollen nicht mit in ein Stück gehen, das nach dem ›Solitaire‹ gemacht ist, einem Werk im Stile der ›Atala‹ von Chateaubriand, den wir so gern lasen, daß wir im Sommer über seine Bücher wie die Magdalenen weinten, ein moralisches Stück, das nur dazu dienen kann, das Fräulein zu belehren?«
»Wir dürfen nicht in die Komödie gehen«, sagte Victorine.
»Na, die sind fertig«, sagte Vautrin, der die Köpfe Eugens und des Vaters Goriot komisch hin und her bewegte. Er legte den Kopf des Studenten behutsam auf die Stuhllehne, damit er bequemer schlafen konnte, küßte ihn gefühlvoll auf die Stirn und sang:
»Schlafe, mein Kindchen; schlafe recht fein,
Ich werde stets dein Wächter sein.«
»Ich fürchte, daß er krank ist«, sagte Victorine.
»Bleiben Sie bei ihm, um ihn zu pflegen«, erwiderte Vautrin. »Das ist Ihre Pflicht«, flüsterte er ihr ins Ohr, »als zukünftige gehorsame Hausfrau. Er betet Sie an, der junge Mann, und Sie werden einmal sein Frauchen, ich prophezeie es Ihnen.« Dann sagte er laut: »Und sie waren geachtet im ganzen Lande, lebten glücklich und hatten viele Kinder. So enden alle Liebesromane.« Er wandte sich zu Madame Vauquer und drückte sie an sich: »Also, Mama, setz den neuen Hut auf, zieh das Kleid mit den Blumen an, und nimm den Komtessenschal. Ich gehe los und hole einen Fiaker.« Er verließ das Zimmer und sang:
»Sonne, Sonne, göttliche Sonne,
Die den Kürbis bringt zur Reife . . .«
»Mein Gott, sagen Sie bloß, Madame Couture«, meinte die Vauquer, »dieser Mensch würde einen glücklich machen, auch wenn man unterm Dach hausen müßte.« Dann wandte sie sich zu Vater Goriot: »Der Alte ist hinüber. Der alte Geizkragen ist niemals auf den Gedanken gekommen, mich wohin zu führen. Mein Gott, er fällt ja gleich vom Stuhl! Wie unanständig von so einem alten Mann, so den Verstand zu verlieren! Aber man kann sagen: Was man nicht hat, kann man nicht verlieren. Sylvia, bring ihn nach oben.«
Sylvia faßte den Alten unter die Arme, schleppte ihn die Treppen hinauf und warf ihn in seinen Kleidern, wie ein Paket, auf das Bett.
»Armer junger Mann«, sagte Madame Couture, die Eugen die Haare zurückstrich, die ihm über die Augen fielen, »er ist wie ein junges Mädchen, er ist solche Exzesse nicht gewöhnt.«
»Ja, ich kann wohl behaupten, daß mir in den einunddreißig Jahren, die ich meine Pension habe«, sagte Madame Vauquer, »viele junge Leute durch die Hände gegangen sind, wie man so sagt, aber ich habe niemals einen so netten und distinguierten Herrn gehabt wie Herrn Eugen. Wie schön er ist, wenn er schläft! Nehmen Sie doch seinen Kopf auf Ihre Schulter, Madame Couture. Ah, er will zu Fräulein Victorine. Ja, es gibt einen Gott für die Jugend! Beinahe hätte er sich noch den Kopf an der Lehne aufgeschlagen. Die würden ein hübsches Paar geben!«
»Aber seien Sie doch ruhig«, rief Madame Couture, »Sie sagen da Dinge . . .«
»Bah! Er hört ja nichts. Sylvia, hilf mir beim Anziehen! Ich nehme das große Korsett.«
»So! Das große Korsett, nach dem Essen!« sagte Sylvia. »Dann müssen Sie sich jemand anders zum Zuschnüren suchen, ich will nicht Ihre Mörderin werden. Das kann Ihnen ja das Leben kosten, wenn Sie solche Dummheiten machen!«
»Das ist mir egal. Ich muß Herrn Vautrin die Ehre antun.«
»Sie meinen es wohl gut mit Ihren Erben?«
»Los, Sylvia, keine Widerrede«, sagte die Vauquer, die das Zimmer verließ.
»Bei ihrem Alter!« sagte Sylvia zu Victorine, auf ihre Herrin weisend.
Madame Couture und Victorine, an deren Schulter Eugen schlummerte, blieben allein im Speisezimmer. Das Schnarchen Christophs schallte durch das stille Haus. Dagegen schlummerte Eugen friedlich wie ein Kind. Auf Victorines Gesichtszügen malte sich der Stolz über die Rolle der mütterlichen Beschützerin, die ihr zufiel. Sie war glücklich in ihrer Fürsorge, die ihr ganzes weibliches Gefühl in Anspruch nahm und die ihr das Herz des jungen Mannes näherbrachte. Alle ihre Gedanken standen unter dem Einfluß jenes Lustgefühls, das ihr die junge und reine Wärme des neben ihr ruhenden Körpers verursachte.
»Armes teures Kind!« sagte Madame Couture mit einem Händedruck.
Bewundernd sah die alte Dame, wie eine Gloriole des Glücks die reinen Züge des jungen Mädchens überstrahlte. Victorine ähnelte jetzt dem Madonnenbild eines mittelalterlichen Künstlers: Die Magie seines ruhigen und stolzen Pinsels gibt seiner Gestalt einen gleichmäßig gelblichen Gesichtston, aber der Himmel scheint sich auf ihr mit goldenen Farben widerzuspiegeln.
»Er hat doch nur zwei Glas getrunken, Mama«, sagte Victorine, die Eugen über das Haar strich.
»Ja, wenn er ein Wüstling wäre, meine Tochter, so hätte er den Wein wie die anderen vertragen.«
Von der Straße her drang das Geräusch eines Wagens.
»Mama«, sagte das junge Mädchen, »da kommt Herr Vautrin. Nehmen Sie Eugen. Ich möchte nicht so von dem Manne gesehen werden. Er gebraucht Ausdrücke, die die Seele beschmutzen, und er hat Blicke, daß man sich vorkommt, als würde man ausgezogen.«
»Nein!« erwiderte Madame Couture, »du täuschst dich! Vautrin ist ein braver Mann, ein wenig in der Art des verstorbenen Herrn Couture, derb, aber doch brav, ein edles Herz in einer rauhen Schale.«
Vautrin trat sacht ein und betrachtete die Gruppe der beiden jungen Leute, die das Licht der Lampe zu liebkosen schien.
»Das sind Szenen«, sagte er, die Arme kreuzend, »die den guten Bernardin de Saint-Pierre, den Autor von ›Paul und Virginie‹, zu seinen schönsten Stellen hätten inspirieren können. Wie schön ist die Jugend, Madame Couture! Armes Kind, schlafe nur«, sagte er, Eugen betrachtend, »das Glück kommt manchmal im Schlafe. Madame«, wandte er sich an die Witwe, »das, was mich an diesem jungen Mann festhält, das, was mich so bewegt, ist, daß die Schönheit seiner Seele im Einklang mit der seiner Gestalt steht. Ist er nicht wie ein Cherub, der sich auf die Schulter eines Engels stützt? Der ist es wert, geliebt zu werden. Wenn ich eine Frau wäre, möchte ich für ihn sterben – nein, so dumm sind wir nicht –, möchte ich für ihn leben. Wenn ich sie so sehe«, sagte er dann weiter leise der Witwe ins Ohr, »kann ich nur glauben, daß Gott sie füreinander geschaffen hat. Die Vorsehung geht verborgene Wege, sie prüft die Herzen und Nieren«, fuhr er laut fort. »Wenn ich euch so vereinigt sehe, meine Kinder, vereinigt durch die gleiche Reinheit des Herzens, durch alle schönen menschlichen Gefühle, so sage ich mir: Es ist unmöglich, daß ihr jemals in Zukunft getrennt werden könnt. Gott ist gerecht. Halt«, sagte er zu dem jungen Mädchen, »ich glaube, ich habe in Ihrer Hand Glückslinien gesehen. Geben Sie mir Ihre Hand, Fräulein Victorine, ich kenne mich aus im Handdeuten, ich habe oft richtig vorhergesagt. Na, haben Sie nur keine Furcht. Oh! Was sehe ich? Auf mein Ehrenwort, Sie werden binnen kurzem eine der reichsten Erbinnen von Paris sein. Sie werden den, der Sie liebt, glücklich machen. Ihr Vater wird Sie wieder bei sich aufnehmen. Sie werden einen jungen, schönen, adligen Herrn heiraten, der Sie vergöttert.«
Die schweren Schritte der koketten Madame Vauquer unterbrachen die Prophezeiungen Vautrins.
»Da ist ja Mama Vauquer, schön wie ein Stern, geschnürt wie eine Wespe. Na, geht es auch mit dem Atmen?« fragte er, ihr die Hand auf die Büste legend. »Ein bißchen stark geschnürt, Mama! Wenn wir weinen, gibt es eine Explosion, ich muß dann mit der Sorgfalt eines Altertumsforschers die Trümmer zusammensuchen.«
»Der weiß, wie man sich bei uns in Frankreich galant ausdrückt«, sagte die Witwe, sich geschmeichelt fühlend, leise zu Madame Couture.
»Adieu, liebe Kinder«, rief Vautrin Eugen und Victorine zu. »Ich segne euch«, sagte er, ihnen die Hand auf den Kopf legend. »Glauben Sie, mein Fräulein, das heißt etwas: die Segenswünsche eines ehrlichen Mannes. Sie bringen Glück, Gott hört sie.«
»Adieu, teure Freundin«, sagte Madame Vauquer zu ihrer Pensionärin. Dann fügte sie leise hinzu: »Glauben Sie, daß Vautrin ein Auge auf mich geworfen hat?«
»Hm, hm!«
»Ach, meine gute Mutter«, sagte Victorine, seufzend mit einem Blick auf ihre Hände, als die beiden Frauen allein waren, »wenn der gute Herr Vautrin richtig prophezeit hätte!«
»Aber dazu brauchte es nur«, erwiderte die alte Dame, »daß dein Ungeheuer von Bruder vom Pferde stürzte.«
»Ah! Mama!«
»Mein Gott, vielleicht ist es eine Sünde, seinem Feinde Böses zu wünschen. Nun, ich werde dafür Buße tun. Aber ich würde wirklich mit frohem Herzen Blumen auf sein Grab tragen. Der böse Mensch! Er hat nicht den Mut, für seine Mutter einzutreten, deren Erbschaft er dir mit allerhand Schlichen vorenthält. Meine Cousine hatte ein schönes Vermögen. Zu deinem Unglück ist niemals davon im Heiratsvertrag die Rede gewesen.«
»Mein Glück wäre mir schwer zu tragen«, sagte Victorine, »wenn es jemanden das Leben kosten sollte. Wenn mein Bruder sterben müßte, damit ich glücklich werde, so würde ich lieber immer hierbleiben.«
»Mein Gott«, erwiderte Madame Couture, »wie sagte doch der gute Herr Vautrin, der, wie du siehst, recht fromm ist, nicht ungläubig wie die anderen, die von Gott mit weniger Respekt sprechen als der Teufel selbst? Wer weiß, welche Wege die Vorsehung uns führen will?«
Mit Hilfe Sylvias gelang es den beiden Frauen, Eugen in sein Zimmer zu schaffen, wo ihm die Köchin die Kleider auszog. Bevor sie das Zimmer verließ, benutzte Victorine einen Augenblick, als ihre Beschützerin ihr den Rücken wandte, um Eugen auf die Stirn zu küssen. Welches Glück gewährte ihr dieser kleine Raub! Sie betrachtete das Zimmer, sammelte gewissermaßen in einem einzigen Gedanken die ganze Freude dieses Tages und schlief als das glücklichste Geschöpf von Paris ein.
Vautrins Schicksal wurde durch das Gelage besiegelt, das er inszeniert hatte, um Eugen und Vater Goriot narkotisierten Wein zu trinken zu geben. Bianchon, der ein wenig trunken war, vergaß, Fräulein Michonneau nach Trompe-la-Mort zu fragen. Wenn er dieses Wort ausgesprochen hätte, so wäre sicher die Wachsamkeit Vautrins rege geworden – oder, um ihn beim richtigen Namen zu nennen, Jacques Collins, dieser Berühmtheit des Bagnos. Schließlich bestimmte der Spitzname »Venus vom Père Lachaise« Fräulein Michonneau dazu, den Sträfling auszuliefern, gerade als sie sich in Anbetracht seiner Generosität schon überlegte, ob es nicht besser sei, ihn zu warnen und ihn während der Nacht entkommen zu lassen. Begleitet von Poiret suchte sie den bewußten Chef der Geheimpolizei in der Petite Rue Ste-Anne auf, im Glauben, sie habe es mit einem höheren Beamten namens Goudureau zu tun. Der Direktor der Polizei empfing sie sehr gnädig. Nach einer Unterredung, in der alle Einzelheiten besprochen wurden, verlangte Fräulein Michonneau den Trank, mit Hilfe dessen sie das Sträflingszeichen feststellen sollte. An der Befriedigung, mit der der große Mann der Petite Rue Ste-Anne das Fläschchen aus seinem Schreibtisch holte, merkte Fräulein Michonneau, daß es sich bei diesem Fang um Wichtigeres als um die bloße Verhaftung eines Sträflings drehte. Nach langem Kopfzerbrechen argwöhnte sie schließlich, daß die Polizei auf Grund von Enthüllungen einiger Verräter des Bagnos hoffte, rechtzeitig zu kommen, um beträchtliche Summen zu beschlagnahmen. Als sie über ihre Vermutungen zu diesem Fuchs sprach, lächelte er und wollte sie von ihrem Verdacht abbringen.
»Sie täuschen sich«, sagte er, »Collin ist der gefährlichste Kopf, den es jemals auf seiten der Verbrecher gegeben hat. Das ist alles. Die Schufte wissen es gut, er ist ihre Fahne, ihre Zuflucht, ihr Bonaparte; sie lieben ihn alle. Dieser Schuft wird niemals seinen Rumpf auf dem Richtplatz lassen. Collin spielt mit uns. Wenn wir es mit diesen Kerlen aus Stahl zu tun haben, so haben wir nur eine einzige Hoffnung: Wir können sie niedermachen, falls sie bei ihrer Verhaftung den geringsten Widerstand leisten. Wir hoffen auf einige Gewalttätigkeiten Collins, um ihn morgen früh zu erledigen. So vermeidet man den Prozeß, die Bewachungskosten, die Ernährung, und die Gesellschaft wird eine Last los. Das Verfahren, die Zeugenvernehmungen, die Hinrichtung, alles, was wir tun müssen, um uns dieser Übeltäter zu entledigen, kostet mehr als die dreitausend Francs, die Sie erhalten. Und man spart auch Zeit. Ein guter Bajonettstich in den Bauch Trompe-la-Morts, und wir haben Hunderte von Verbrechen verhütet, die Korruption von fünfzig üblen Burschen, die sich dann hübsch vernünftig benehmen werden. So arbeitet eine gute Polizei. So handeln nennt der wahre Philanthrop: Verbrechen verhindern.«
»Und man dient seinem Vaterlande«, sagte Poiret.
»Wirklich«, erwiderte der Chef, »Sie sprechen heute abend sehr vernünftig. Ja, gewiß, wir dienen dadurch dem Vaterlande. Leider ist die Welt gegen uns sehr ungerecht. Die großen Dienste, die wir der Gesellschaft leisten, werden nicht anerkannt. Es ist das Zeichen eines höheren Menschen, sich über Vorurteile hinwegzusetzen, und ein Christ muß auch das Unglück mit in Kauf nehmen, das das Gute oft nach sich zieht, wenn es nicht immer nach unseren vorgefaßten Ideen abgeht. Paris ist nun einmal Paris, sehen Sie! Dies Wort erklärt mein Leben. Ich habe die Ehre, mich von Ihnen zu verabschieden, mein Fräulein. Ich bin morgen mit meinen Leuten im Jardin du Roi. Schicken Sie Christoph zur Rue de Buffon, zu Herrn Goudureau. Mein Herr, ich habe die Ehre. Wenn Ihnen jemals etwas gestohlen werden sollte, wenden Sie sich an mich, ich stehe zu Ihren Diensten.«
»Es gibt doch Dummköpfe«, sagte Poiret zu Fräulein Michonneau, »die das Wort ›Polizei‹ ganz aus dem Häuschen bringt. Dabei ist dieser Herr sehr liebenswürdig, und was er verlangt, ist ein wahres Kinderspiel.«
Der folgende Tag war einer der außergewöhnlichsten in der Geschichte des Hauses Vauquer. Bis dahin kannte das friedliche Leben der Pension als hervorstechendes Ereignis nur die meteorartige Erscheinung der falschen Gräfin de l'Ambermesnil. Aber alles das sollte verblassen vor den Geschehnissen dieses großen Tages, dem in den späteren Unterhaltungen der Madame Vauquer mit ihren Gästen eine große Rolle zufiel. Zunächst einmal schliefen Goriot und Eugen bis elf Uhr. Madame Vauquer, die um Mitternacht aus dem Theater zurückkehrte, blieb bis ein halb elf Uhr im Bett. Der lange Schlaf Christophs, der dem Wein Vautrins die letzte Ehre angetan hatte, verursachte Verspätungen in der Bedienung. Poiret und Fräulein Michonneau waren nicht böse darüber, daß das Frühstück hinausgeschoben wurde. Auch Victorine und Madame Couture schliefen lange. Vautrin war vor acht Uhr fortgegangen und kam gerade zurück, als das Frühstück serviert war. Niemand beschwerte sich daher, als Sylvia und Christoph erst um Viertel nach elf Uhr an allen Türen klopften, um das Frühstück anzukündigen. Während der Abwesenheit Sylvias und des Hausdieners goß Fräulein Michonneau, die zuerst heruntergekommen war, die Flüssigkeit in das Silberkännchen Vautrins, in dem die Milch für seinen Kaffee warm gehalten wurde. Es ging nicht ohne Schwierigkeiten ab, bis die sieben Pensionäre alle versammelt waren. Eugen war der letzte. Als er, die Arme reckend, die Treppe herabkam, wurde ihm durch einen Kommissionär ein Brief von Madame de Nücingen überbracht. Er hatte folgenden Wortlaut:
»Ich schreibe Ihnen weder aus falscher Eitelkeit noch im Zorn, mein Freund. Ich habe Sie bis zwei Uhr nachts erwartet. Jemanden erwarten, den man liebt – wer diese Qual kennt, wird sie niemandem zumuten. Ich hoffe wohl, daß Sie zum ersten Male lieben. Was ist geschehen? Ich bin in größter Unruhe. Wenn ich nicht gefürchtet hätte, die Geheimnisse meines Herzens zu verraten, wäre ich selbst gekommen, um zu sehen, was sich an Glücklichem oder Unglücklichem ereignet hat. Aber um diese Stunde zu Fuß oder im Wagen aufbrechen, hieße das nicht, sich verraten? Ich habe gefühlt, welch ein Unglück es ist, Frau zu sein. Beruhigen Sie mich, erklären Sie mir, warum Sie, nachdem Sie von meinem Vater meine Bestellung erhalten haben, nicht gekommen sind! Ich werde vielleicht böse werden, aber ich werde Ihnen verzeihen. Sind Sie krank? Warum wohnen Sie auch so weit? Ein Wort nur, bitte. Auf baldiges Wiedersehen, nicht wahr? Ein Wort genügt mir, wenn Sie beschäftigt sind. Sagen Sie: Ich komme, oder: Ich leide. Aber, wenn Sie krank wären, wäre mein Vater gekommen, um es mir zu sagen. Was ist denn geschehen?«
»Ja, was ist geschehen?« rief Eugen, der in den Speisesaal stürzte, in der Hand den Brief zerknitternd, den er kaum zu Ende gelesen hatte. »Wieviel Uhr ist es?«
»Elfeinhalb Uhr«, sagte Vautrin, seinen Kaffee schlürfend. Er sah Eugen mit jenem kalten faszinierenden Blick an, über den gewisse besonders magnetisch veranlagte Menschen verfügen, jenen Blick, durch den, wie man sagt, in den Irrenhäusern die gefährlichen Geisteskranken beruhigt werden. Eugen zitterte an allen Gliedern. Da hörte man von der Straße her das Geräusch eines Fiakers. Ein Diener in der Livree des Hauses Taillefer, die Madame Couture sofort erkannte, stürzte mit verstörter Miene in das Zimmer.
»Gnädiges Fräulein«, rief er, »Ihr Herr Vater verlangt nach Ihnen . . . Ein großes Unglück ist geschehen. Ihr Herr Bruder hat sich duelliert, er hat einen Säbelhieb über die Stirn erhalten. Die Ärzte haben die Hoffnung aufgegeben. Sie haben kaum Zeit, ihm Lebewohl zu sagen; er ist ohne Bewußtsein.«
»Armer junger Mann!« rief Vautrin. »Wozu streitet man sich auch, wenn man gute 30 000 Francs Rente hat. Ganz gewiß, die heutige Jugend treibt es zu toll.«
»Herr Vautrin!« rief ihm Eugen zu.
»Nun, was denn, Sie großes Kind?« sagte Vautrin, der ruhig seinen Kaffee weitertrank. Fräulein Michonneau verfolgte seine Bewegungen so gespannt, daß sie das Ereignis, über das alle entsetzt waren, kaum bemerkte. »Gibt es nicht jeden Morgen Duelle in Paris?« fuhr Vautrin fort.
»Ich komme mit, Victorine«, sagte Madame Couture.
Die beiden Frauen eilten ohne Hut und Schal davon. Bevor Victorine weinend das Zimmer verließ, warf sie Eugen einen Blick zu, der ihm bedeuten sollte: »Ich glaubte nicht, daß unser Glück nur Tränen bringen würde.«
»Was? Sie sind also wirklich ein Prophet, Herr Vautrin?« sagte Madame Vauquer.
»Ich bin alles«, sagte Jacques Collin.
»Ist das nicht merkwürdig«, meinte Madame Vauquer, die eine ganze Folge nichtssagender Bemerkungen über das Ereignis zum besten gab. »Der Tod holt uns, ohne uns zu fragen. Die jungen Leute gehen oft vor den alten dahin. Wir können glücklich sein, wir Frauen, daß wir uns nicht zu duellieren brauchen. Aber wir haben dafür andere Krankheiten, die die Männer nicht haben. Wir bekommen die Kinder, und das Wochenbett dauert so lange. Welch ein Glückslos für Victorine: Ihr Vater muß sie jetzt anerkennen.«
»Da haben Sie's«, sagte Vautrin, der dabei Eugen ansah, »gestern war sie noch ohne einen Sou, heute ist sie einige Millionen reich.«
»Ja, Herr Eugen«, rief Madame Vauquer, »Sie haben eine glückliche Hand gehabt.«
Auf diese Bemerkung der Witwe hin sah Vater Goriot den Studenten an und erblickte den Brief, den Eugen zerknüllt in der Hand hielt.
»Sie haben ihn nicht zu Ende gelesen! Was soll das bedeuten? Sind Sie auch so wie die anderen?« fragte er.
»Ich werde niemals Fräulein Victorine heiraten«, sagte Eugen zu Madame Vauquer mit einem Ausdruck des Entsetzens und Abscheus, der die Anwesenden überraschte.
Vater Goriot drückte Eugen die Hand, er hätte sie küssen mögen.
»Oh, oh!« machte Vautrin, »die Italiener haben einen hübschen Ausdruck: con tempo!«
»Ich warte auf Antwort«, sagte der Kommissionär der Madame de Nücingen zu Eugen.
»Sagen Sie: Ich komme.«
Der Mann ging fort. Eugen war in einem Zustand so heftiger Erregung, daß er alle Vorsicht außer acht ließ.
»Was kann man tun?« sagte er laut zu sich selbst. »Keine Beweise.«
Vautrin wollte über diese Worte lachen. Im gleichen Augenblick begann der Trank zu wirken. Aber der Sträfling war so stark, daß er sich noch erheben konnte. Er sah Rastignac an und sagte zu ihm mit hohler Stimme:
»Junger Mann, das Glück kommt im Schlaf.«
Und er stürzte jäh, wie zu Tode getroffen, zu Boden.
»Es gibt doch eine göttliche Gerechtigkeit«, sagte Eugen.
»Na, was hat er denn, unser guter armer Herr Vautrin?«
»Ein Schlaganfall«, schrie Fräulein Michonneau.
»Sylvia, schnell mein Kind, hol einen Arzt«, sagte die Witwe. »Ach, Herr Rastignac, laufen Sie doch zu Herrn Bianchon, Sylvia wird unseren Arzt, Herrn Grimprel, nicht erreichen.«
Rastignac, froh, dieser schrecklichen Höhle zu entkommen, lief eilends fort.
»Christoph, schnell zum Apotheker und verlang etwas gegen den Schlaganfall.« Christoph machte sich davon.
»Aber, Vater Goriot, helfen Sie uns doch, ihn nach oben in sein Zimmer zu bringen!«
Man schleppte Vautrin die Treppe hinauf und legte ihn auf sein Bett. »Ich kann Ihnen doch nichts nützen, ich gehe zu meiner Tochter«, sagte Goriot.
»Alter Egoist!« rief Madame Vauquer, »ich wollte, du stirbst wie ein Hund!«
»Sehen Sie doch nach, ob Sie etwas Äther haben«, rief Fräulein Michonneau, die, von Poiret unterstützt, Vautrin seiner Kleider entledigt hatte.
Madame Vauquer ging in ihr Zimmer und ließ die Michonneau als Herrin des Schlachtfeldes zurück.
»Ziehen Sie ihm schnell das Hemd aus, und legen Sie ihn auf den Rücken! Ersparen Sie es mir, den nackten Menschen zu sehen! Seien Sie doch zu etwas gut!« sagte sie zu Poiret. »Sie stehen da wie ein Ölgötze.«
Er tat, wie sie ihm geheißen. Sie gab dem Bewußtlosen einen starken Schlag auf die Schulter. Inmitten des roten Flecks erschienen weiß die beiden fatalen Buchstaben.
»Na, da haben Sie Ihre 3000 Francs bequem verdient«, sagte Poiret, der Vautrin aufrecht hielt, während die Michonneau ihm das Hemd überwarf. »Uff! Ist der schwer«, sagte er, als er ihn wieder auf das Bett legte.
»Still. Wenn er die Kasse hier hätte!« sagte die alte Jungfer aufgeregt, während sie gierig die Möbel des Zimmers musterte. Ihre Blicke schienen die Wände durchbohren zu wollen. »Wenn man den Sekretär unter irgendeinem Vorwand öffnen könnte!« fuhr sie fort.
»Das wäre vielleicht nicht gut«, meinte Poiret.
»Weshalb?« erwiderte sie. »Gestohlenes Geld, das aller Welt gehört hat, gehört niemandem mehr. Aber wir haben keine Zeit dazu, die Vauquer kommt.«
»Hier ist Äther«, sagte die Vauquer. »Das ist ja heute ein wahrer Unglückstag. Gott! Er kann doch gar nicht krank sein, er ist weiß wie ein Hühnchen.«
»Wie ein Hühnchen«, wiederholte Poiret.
»Das Herz schlägt regelmäßig«, sagte die Witwe, die Vautrin die Hand auf die Brust legte.
»Regelmäßig?« fragte Poiret erstaunt.
»Ihm fehlt gar nichts.«
»Finden Sie?« fragte Poiret wieder.
»Er scheint bloß zu schlafen. Sylvia holt den Arzt. Sehen Sie nur, Fräulein Michonneau, wie er am Äther riecht! Bah, das ist nur ein Krampf! Sein Puls ist in Ordnung, er ist stark wie ein Türke. Der wird noch hundert Jahre alt. Seine Perücke hält gut. Ach so, sie ist angeklebt, damit man seine roten Haare nicht sieht. Man sagt, daß die Rothaarigen entweder ganz gut oder ganz schlecht sind. Dann wäre er also gut?«
»Gut zum Hängen«, sagte Poiret.
»Sie meinen wohl am Hals einer schönen Frau«, rief Fräulein Michonneau schnell. »Machen Sie doch, daß Sie fortkommen, Herr Poiret! Das ist Sache von uns Frauen, euch zu pflegen, wenn ihr krank seid. Für das, was Sie hier helfen, können Sie ebensogut spazierengehen. Madame Vauquer und ich, wir werden schon den lieben Herrn Vautrin pflegen.«
Poiret verschwand lautlos, ohne zu murren, wie ein Hund, dem sein Herr einen Fußtritt versetzt hat.