Honoré de Balzac
Vater Goriot
Honoré de Balzac

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Herr Goriot war recht genügsam. Die Sparsamkeit, welche für Leute, die ihr Vermögen selbst erwerben wollen, notwendig ist, war bei ihm zur Gewohnheit geworden. Suppe, ein Stück Fleisch und etwas Gemüse waren immer seine Lieblingsspeisen gewesen und waren es geblieben. Es war daher für Madame Vauquer sehr schwer, ihren Pensionär zu quälen, denn er nahm mit allem vorlieb. Verzweifelt darüber, einen unverwundbaren Gegner vor sich zu haben, suchte sie ihn verächtlich zu machen. Sie übertrug ihre Abneigung gegen Herrn Goriot auf ihre Pensionäre, die zu ihrer eigenen Belustigung die Rachsucht der Witwe unterstützten. Gegen Ende des ersten Jahres war die Witwe Goriot gegenüber so mißtrauisch geworden, daß sie sich fragte, warum dieser reiche Kaufmann mit seinen 7000 bis 8000 Francs Rente, mit seinem reichen Silberschatz und mit Schmuckstücken, die einer Mätresse Ehre machen konnten, bei ihr für einen Pensionspreis wohnte, der in so gar keinem Verhältnis zu seinem Vermögen stand. Während des größten Teiles dieses ersten Jahres hatte Goriot öfter ein- oder zweimal in der Woche auswärts diniert. Allmählich aber kam es dazu, daß er nur noch zweimal monatlich auswärts aß. Diese kleinen Partien Goriots entsprachen zu sehr den Interessen der Madame Vauquer, als daß sie nicht über die zunehmende Regelmäßigkeit unzufrieden werden konnte, mit der er seine Mahlzeiten bei ihr einnahm. Diese Veränderungen schrieb man ebensosehr einer langsamen Vermögensminderung Goriots zu wie seinem Wunsch, die Wirtin zu ärgern.

Es ist eine der abscheulichsten Gewohnheiten dieser kleinen Geister, ihre eigene Kleinlichkeit auch bei anderen vorauszusetzen. Unglücklicherweise rechtfertigte Goriot dieses Gerede gegen Ende des zweiten Jahres, indem er auf die zweite Etage zog und nur noch 900 Francs Pension zahlte. Er schränkte sich so sehr ein, daß er den Winter über nicht mehr heizen ließ. Frau Vauquer wollte nun im voraus bezahlt werden. Hierauf ging Monsieur Goriot, den Madame Vauquer von nun an Vater Goriot nannte, ein. Man konnte sich die Gründe für diesen Abstieg nicht erklären. Wie die falsche Gräfin so richtig bemerkt hatte, war Vater Goriot ein Heimlichtuer und Schweiger. Nach der Logik der Leute mit leeren Köpfen, die alle redselig sind, weil sie nur Nichtigkeiten zu erzählen haben, muß es um die Leute, die nichts von ihren Geschäften erzählen, schlecht stehen. So wurde der angesehene Kaufmann zu einem Lumpen, der Lebemann zum alten Eigenbrötler. Bald war nach Ansicht Vautrins, der um diese Zeit in das Haus Vauquer einzog, der Vater Goriot ein Mann, der an der Börse spielte und der nunmehr im kleinen arbeitete, nachdem er sich früher ruiniert hatte. Bald war er einer von den kleinen Spielern, die jeden Abend ihre 10 Francs im Hasard riskieren und gewinnen, bald machte man aus ihm einen Spitzel der Geheimpolizei; aber Vautrin behauptete, daß er nicht schlau genug sei, um »dazu zu gehören«. Schließlich wurde Vater Goriot zu einem Wucherer und zum Lotteriespieler. Man machte aus ihm alles, was nur Laster, Schande und Erbärmlichkeit an geheimnisvollen Früchten hervorbringen können. Aber so gemein auch sein Benehmen und seine Laster sein sollten, die Abneigung gegen ihn reichte nicht aus, um ihn zu verbannen: Er zahlte seine Pension pünktlich. Und schließlich war er ja auch nützlich, denn jeder ließ an ihm mit Spöttereien und kleinen Rippenstößen seine guten oder schlechten Launen aus. Die wahrscheinlichste Ansicht über ihn, die schließlich auch allgemein angenommen wurde, war die der Madame Vauquer. Wenn sie recht hatte, war dieser noch rüstige Mann, der so gesund wie ein Fisch im Wasser war und der einer Frau noch viel Vergnügen bereiten konnte, ein Wüstling mit fremdartigen Gelüsten. Und dies sind die Tatsachen, auf die die Witwe Vauquer ihre Verleumdungen stützte. Einige Monate nach dem Verschwinden der falschen Gräfin, die es verstanden hatte, sechs Monate auf ihre Kosten zu leben, hörte Madame Vauquer eines Morgens vor dem Aufstehen auf der Treppe das Rauschen eines seidenen Kleides und den leichten Schritt einer jungen Dame, die in Goriots Zimmer, dessen Tür sich wie in stillem Einverständnis öffnete, verschwand. Sofort erschien die dicke Sylvia, um ihrer Herrin mitzuteilen, daß ein junges Mädchen, zu hübsch, um anständig zu sein, »gekleidet wie eine Göttin«, in zierlichen hauchzarten Schühchen, sich wie ein Aal von der Straße zur Küche geschlichen habe, um nach der Wohnung Goriots zu fragen. Madame Vauquer und ihre Köchin zogen auf Horchposten. Sie konnten feststellen, wie während des Besuches, der geraume Zeit dauerte, zarte Worte gewechselt wurden. Als Goriot »seine Dame« hinausbegleitete, ergriff die dicke Sylvia sofort ihren Korb, um angeblich zum Markt zu gehen, in Wirklichkeit aber, um dem Liebespaar zu folgen.

»Madame«, sagte sie bei der Rückkehr, »Goriot muß verflucht reich sein, wenn er seine Geliebte auf solchem Fuß leben läßt. Stellen Sie sich vor, daß an der Ecke der Rue Estrapade eine herrliche Kutsche stand, in die ›sie‹ eingestiegen ist.«

Während des Mittagessens stand Madame Vauquer auf und zog den Vorhang zu, um Goriot vor einem Sonnenstrahl zu schützen, der ihm in die Augen fiel.

»Sie werden von schönen Frauen geliebt, Herr Goriot, die Sonne sucht Sie!« sagte sie, um auf den Besuch anzuspielen. »Zum Teufel! Sie haben einen guten Geschmack, die war wirklich hübsch.«

»Das war meine Tochter«, erwiderte er mit einer Art von Stolz; die Pensionäre sahen in seiner Antwort nur die Geckenhaftigkeit eines Greises, der das äußere Dekorum wahren will.

Einen Monat nach diesem Besuch erschien wieder eine Dame bei Goriot. Seine Tochter, die das erstemal in Morgentoilette gekommen war, kam jetzt nach dem Mittagessen und zum Ausgehen angezogen. Die Pensionäre, die im Salon plauderten, bekamen eine hübsche blonde Dame von zarter Figur zu sehen, viel zu vornehm, um die Tochter des alten Goriot zu sein.

»Nr. 2«, sagte die dicke Sylvia, die die Besucherin nicht wiedererkannte.

Einige Tage später verlangte ein anderes junges Mädchen, groß und hübsch, eine Brünette mit schwarzen Haaren und lebhaftem Blick, Monsieur Goriot zu sprechen.

»Nr. 3«, sagte Sylvia.

Diese zweite junge Dame, die gleichfalls zuerst am Morgen gekommen war, um ihren Vater zu besuchen, kam einige Tage später am Abend wieder, mit Equipage und in Balltoilette.

»Das ist Nr. 4«, sagten Madame Vauquer und die dicke Sylvia, die in dieser großen Dame das einfach gekleidete junge Mädchen nicht wiedererkannten, das den Besuch am Morgen gemacht hatte.

Goriot zahlte damals immer noch 1200 Francs Pension. Madame Vauquer hielt es für ganz natürlich, daß ein reicher Mann vier bis fünf Geliebte habe, und fand es sogar sehr schlau, sie für seine Töchter auszugeben. Sie erhob auch keine Einwände dagegen, daß diese Besuche im Hause Vauquer stattfanden. Da ihr aber nun die Besuche den Gleichmut erklärlich machten, den Goriot ihr gegenüber an den Tag legte, so erlaubte sie sich, ihn zu Beginn des zweiten Jahres einen »alten Kater« zu nennen. Endlich, als ihr Pensionär auf 900 Francs herabgestiegen war, fragte sie ihn in barschem Ton, was er aus ihrem anständigen Haus zu machen gedenke, als sie wieder eine der Damen absteigen sah. Vater Goriot erwiderte, diese Dame sei seine älteste Tochter.

»Sie haben wohl 36 von der Sorte«, erwiderte Madame Vauquer schnippisch.

»Ich habe nur zwei«, war die Antwort des Pensionärs, die mit der ganzen Sanftmut eines ruinierten Mannes erteilt wurde, den das Unglück bescheiden macht.

Gegen Ende des dritten Jahres schränkte sich Vater Goriot noch mehr ein, indem er auf die dritte Etage zog und nur noch 45 Francs für die Pension bezahlte. Er entsagte dem Tabak, entließ seinen Friseur und puderte sein Haar nicht mehr. Als Goriot zum ersten Male ungepudert erschien, ließ seine Wirtin beim Anblick der Farbe seiner Haare einen Ausruf der Überraschung vernehmen. Die Haare waren von einem grünlich-schmutzigen Grau; das Gesicht des Vaters Goriot, das ein geheimer Kummer von Tag zu Tag unmerklich trauriger gemacht hatte, war jetzt das trostloseste von allen denen, die den Tisch umgaben. Es konnte keinen Zweifel mehr geben: Vater Goriot war ein alter Wüstling, dessen Augen nur durch die Geschicklichkeit eines Arztes vor dem unheilvollen Einfluß der Mittel bewahrt worden waren, mit denen er seine Krankheit kurieren mußte. Die widerliche Farbe seiner Haare war eine Folge seiner Ausschweifungen und der Drogen, die er zu sich genommen hatte, um sie fortzusetzen. Der gesamte physische und moralische Zustand des Alten gab Anlaß zu diesen Redereien. Als sein Wäschevorrat verbraucht war, kaufte er Kattun für 14 Sous die Elle, um ihn zu ersetzen. Seine Diamanten, seine goldene Tabatiere, seine Uhrkette und seine Schmuckstücke verschwanden nacheinander. Er trug nicht mehr seinen kornblumenblauen Rock und seine sonstigen guten Kleider, er ging Sommer wie Winter in einem Überrock aus grobem braunem Tuch, einer Weste aus Ziegenleder und einer grauen Hose aus Buckskin. Er wurde zusehends magerer, seine Waden verloren ihre Fülle, sein Gesicht, das früher eine bürgerliche Zufriedenheit ausstrahlte, war von Falten übersät, die Backenknochen traten hervor, und die Stirn wurde runzlig.

Als er das vierte Jahr in der Rue Neuve-Ste-Geneviève wohnte, war er nicht mehr wiederzuerkennen. Der gutgenährte Nudelfabrikant von 62 Jahren, der aussah wie ein Vierziger, der dicke Bürger mit seiner gutmütigen Miene, dessen fröhliches Wesen jedem Vergnügen machte, der beim Lächeln wirklich jung zu werden schien, wurde zu einem stumpfen, gebrochenen, fahlen, siebzigjährigen Greis. Seine so lebhaften blauen Augen nahmen eine müde graue Färbung an, sie schienen blasser zu werden, tränten nicht mehr, und ihr roter Rand schien Blut zu weinen. Bei den einen erregte er Abscheu, bei den anderen Mitleid. Junge Studenten der Medizin, die sich lange mit ihm beschäftigten, ohne aus ihm etwas herausholen zu können, erklärten auf Grund seiner herabhängenden Unterlippe und nach Messung seines Schädelwinkels, er sei von Kretinismus befallen. –

Eines Abends nach dem Essen fragte ihn Madame Vauquer spöttisch: »Ihre Töchter kommen wohl nicht mehr auf Besuch zu Ihnen?«

Sie wollte damit seine Vaterschaft in Zweifel ziehen. Vater Goriot fuhr zusammen, als hätte man ihn mit einem glühenden Eisen gezwickt, und antwortete: »Sie kommen noch gelegentlich.«

»Ah, doch noch hin und wieder?« riefen die Studenten. »Bravo, Vater Goriot!«

Aber der Greis hörte nicht auf die Spötteleien, die ihm seine Antwort zuzog, er war wieder in sein Nachdenken zurückgesunken, das oberflächliche Beobachter für greisenhaften Stumpfsinn hielten. Hätten sie ihn besser gekannt, so würden sie sich vielleicht für das Problem seines physischen und moralischen Zustandes interessiert haben. Aber es war sehr schwierig, Vater Goriot zu kennen. Wohl konnte man leicht feststellen, ob er wirklich Nudelfabrikant gewesen war und wieviel er besaß. Aber die alten Tischgenossen, deren Neugier rege geworden war, verließen das Stadtviertel nicht und lebten in der Pension wie Austern auf ihrem Felsen. Die jüngeren ließ das lebhafte Pariser Leben den alten Mann, an dem sie ihren Spott geübt hatten, vergessen, sobald sie die Rue Neuve-Ste-Geneviève hinter sich hatten. Für jene beschränkten Geister wie für die sorglosen jungen Leute schien das graue Elend des Vaters Goriot und sein Stumpfsinn unvereinbar mit größerem Vermögen und irgendwelchen Fähigkeiten. Über die Frauen, die er seine Töchter nannte, teilten alle die Ansicht der Madame Vauquer, die mit der banalen Logik, mit der Schwätzerinnen Verdächtigungen ausstreuen, erklärte:

»Wenn Vater Goriot Töchter hätte, die so reich sind, wie die Damen es wohl sein müssen, die ihn besucht haben, so würde er nicht im dritten Stock meines Hauses wohnen, für 45 Francs im Monat, und er würde nicht wie ein Bettler gekleidet herumlaufen.«

 

Nichts konnte diese Argumentation entkräften, und so hatte gegen Ende November 1819, zur Zeit, wo unsere Geschichte beginnt, jeder in der Pension seine feststehenden Vorstellungen von dem armen Greis. Er hatte niemals eine Tochter oder eine Frau gehabt; seine Ausschweifungen hatten ihn zu einem schneckenartigen Wesen gemacht, zu einem Wesen, halb Mensch, halb Molluske – wie sich ein Beamter des naturwissenschaftlichen Museums ausdrückte, der auf das Diner abonniert war. Poiret war ein Adler, ein Gentleman neben Goriot! Poiret plauderte, äußerte Meinungen, antwortete! In Wirklichkeit sagte er freilich nichts, denn er hatte die Gewohnheit, in anderen Wendungen das zu wiederholen, was sein Gegenüber bereits gesagt hatte. Aber er trug doch zur Unterhaltung bei, er war lebendig und schien Gefühle zu haben, während Vater Goriot, wie sich derselbe Museumsbeamte ausdrückte, ständig auf null Grad Reaumur stand.

 

Eugen de Rastignac war aus seinen Ferien in einer Geistesverfassung zurückgekehrt, wie sie bei jungen, höher veranlagten Menschen recht häufig ist und die sich auch bei denen findet, denen eine zeitweilig schwierige Lage die Eigenschaften der Elitemenschen verleiht. Während seines ersten Jahres in Paris hatte das geringe Maß von Arbeit, das für die Anfangsexamen der juristischen Fakultät erforderlich ist, ihm die Freiheit gelassen, die sichtbaren Reize der großen Stadt kennenzulernen. Ein Student hat nicht allzuviel Zeit, wenn er das Repertoire eines jeden Theaters kennen, wenn er das Labyrinth von Paris studieren, wenn er die besonderen Gebräuche und den Jargon der Hauptstadt lernen und sich an deren spezielle Vergnügungen gewöhnen will. Er muß gute und schlechte Lokale kennen, amüsante Vorlesungen hören und sich unter den Schätzen der Museen umsehen. Ein Student pflegt sich im allgemeinen für Torheiten zu begeistern, die ihm gleichwohl großartig vorkommen. Er hat seinen großen Mann – vielleicht einen Professor des Collège de France –, der dafür bezahlt wird, daß er sich auf der geistigen Höhe seines Auditoriums hält. Er zupft an seiner Krawatte und wirft sich für die Damen auf dem ersten Rang der Opéra Comique in Positur. Bei diesen Bemühungen wird er allmählich zu einem neuen Menschen, er erweitert seinen Horizont und lernt schließlich die Schichtungen der menschlichen Gesellschaft verstehen. Wenn er zunächst noch die Equipagen auf den Champs-Élysées an einem schönen Sommertag bewundert, so wird er bald ihre Insassen beneiden.

Eugen hatte diese Lehrzeit unbewußt absolviert, als er nach seinem Bakkalaureat in die Ferien fuhr. Seine Kindheitsillusionen, seine Provinzideen waren dahin. Sein geschärfter Blick, sein gesteigerter Ehrgeiz öffneten ihm vollends die Augen, als er sich auf seinem väterlichen Gut im Schoße seiner Familie wiederfand. Auf der kleinen Besitzung der Rastignacs lebten sein Vater, seine Mutter, seine beiden Brüder, seine beiden Schwestern und eine Tante, die eine kleine Pension bezog. Die Besitzung warf ein Einkommen von etwa 3000 Francs ab, aber da das Geld zum größten Teil aus dem Weinbau hereinkam, waren die Einnahmen schwankend. Und doch mußten jedes Jahr 1200 Francs für ihn aufgebracht werden. Der Anblick dieser ständigen Not, die man ihm voller Großmut niemals eingestanden hatte, der Vergleich zwischen seinen Schwestern, die ihm in seiner Jugend so schön vorgekommen waren, mit den Frauen von Paris, die die Gestalten seiner Träume verwirklichten, die ungewisse Zukunft seiner großen Familie, die von ihm abhing, die ängstliche Sparsamkeit, zu der seine Angehörigen gezwungen waren, die sich ihren Haustrank selbst aus den Überresten der Kelter herstellten – kurz, eine ganze Reihe anderer Umstände, die aufzuzählen unmöglich ist, entwickelten in ihm den Drang, vorwärtszukommen und sich auszuzeichnen. Wie alle großen Naturen wollte er alles nur seinem eigenen Verdienst verdanken, aber er war ein richtiger Südfranzose. Wenn es zu handeln galt, war er Hemmungen ausgesetzt, die junge Menschen so oft befallen, wenn sie sich gleichsam auf offenem Meer befinden und nicht wissen, wohin sie steuern, wohin sie ihre Segel stellen sollen. Wenn er sich anfangs verzweifelt in die Arbeit stürzte, so sah er bald ein, daß er Verbindungen nötig habe. Er erkannte den Einfluß der Frauen auf das soziale Leben, und er beschloß, die große Gesellschaft aufzusuchen, um Protektion zu finden. Wie konnte sie einem kühnen, geistreichen jungen Mann fehlen, dessen feuriger Sinn durch ein elegantes Auftreten und durch eine Art nervöser Schönheit unterstützt wurde, der die Frauen so leicht zum Opfer fallen!

Diese Gedanken beschäftigten ihn oft, wenn er lange Spaziergänge mit seinen Schwestern machte. Die Mädchen fanden ihn sehr verändert. Seine Tante, Madame de Marcillac, die früher am Hofe verkehrte, hatte noch einige Bekanntschaften unter dem hohen Adel. Mit einem Schlage erkannte der ehrgeizige junge Mann in diesen Erinnerungen seiner Tante die Grundlagen für zukünftige Eroberungen in der Gesellschaft, die mindestens ebenso bedeutend werden konnten wie die, die er sich für die Universität vornahm. Er unterzog jetzt die alte Dame einem Kreuzverhör über alle verwandtschaftlichen Verbindungen, die sich wieder anknüpfen ließen. Nachdem man alle Zweige des Stammbaumes geschüttelt hatte, kam die Tante zu der Ansicht, daß unter der ganzen egoistischen Clique der reichen Verwandtschaft allein die Vicomtesse de Beauséant in Frage käme, um ihrem Neffen zu helfen. Sie schrieb einen Brief an diese junge Frau im Stil des ancien régime, gab ihn Eugen und versicherte ihm, daß er, wenn er bei der Vicomtesse Glück habe, mit ihrer Hilfe auch seine anderen Verwandten auffinden könne. Einige Tage nach seiner Ankunft in Paris sandte Rastignac den Brief seiner Tante an Madame de Beauséant. Die Vicomtesse antwortete mit einer Einladung zum Ball am nächsten Tage.

Dies waren die Verhältnisse in der Familienpension Ende November 1819. Einige Tage später kehrte Eugen vom Ball der Madame de Beauséant nach Hause zurück; es war gegen 2 Uhr nachts. Beim Tanz hatte sich der junge Mann vorgenommen, bis zum Morgen durchzuarbeiten, um die verlorene Zeit wieder einzuholen: Es war das erstemal, daß er eine ganze Nacht in diesem stillen Viertel wachend zubringen wollte. Er stand ganz im Banne einer trügerischen Energie, die beim Anblick der glänzenden Gesellschaft über ihn gekommen war. Er hatte an dem Abendessen bei Madame Vauquer nicht teilgenommen, die Pensionäre konnten daher annehmen, daß er erst am nächsten Morgen bei Tagesgrauen zurückkehren würde, wie er gelegentlich von einem Fest im Prado und einem Ball im Odéon zurückgekehrt war, mit schmutzbespritzten Seidenstrümpfen und schiefgetretenen Lackschuhen. Der Hausdiener Christoph, der die Tür abriegeln wollte, hatte sie noch einmal geöffnet, um auf die Straße zu sehen. Rastignac benutzte diesen Augenblick und konnte auf sein Zimmer eilen, ohne Geräusch zu verursachen, gefolgt von Christoph, der dafür um so mehr machte.

Eugen zog sich um, holte seine Pantoffeln hervor und hüllte sich in einen abgetragenen Überrock. Dann zündete er sein Torffeuer an und setzte sich hurtig an die Arbeit, während Christoph durch sein Getrampel es unmöglich machte, daß man im Hause etwas von diesen Vorbereitungen hören konnte. Bevor Eugen sich auf seine juristischen Bücher stürzte, gab er sich einige Minuten dem Nachdenken hin. Er hatte in der Vicomtesse de Beauséant eine der Modeköniginnen der Pariser Gesellschaft kennengelernt, deren Haus als eines der angenehmsten des Faubourg St-Germain galt. Sowohl ihr Name wie ihr Vermögen machten sie zu einer der Spitzen der Aristokratie. Dank seiner Tante de Marcillac war er, der arme Student, in diesem Hause gut aufgenommen worden, ohne daß er sich der ganzen Bedeutung dieser Gunst bewußt geworden wäre. In diesen goldüberladenen Salons zugelassen zu sein, bedeutete soviel wie ein hoher Adelsbrief. Dadurch, daß er sich in dieser exklusiven Gesellschaft zeigen konnte, hatte er das Recht erlangt, sich überall zu bewegen. Die glänzende Gesellschaft blendete ihn zunächst. Aber bald, nachdem er kaum einige Worte mit der Vicomtesse gewechselt, hatte Eugen in der Menge der Pariser Gottheiten, die sich in diesem Rout drängten, eine Frau entdeckt, wie sie ein junger Mensch auf den ersten Blick anbeten muß. Die Gräfin Anastasie de Restaud galt mit ihrem schlanken Wuchs als eine der hübschesten Erscheinungen von ganz Paris. Sie hatte große schwarze Augen, wundervolle Hände, einen zierlichen Fuß, ihre Bewegungen waren feurig, kurz, sie war eine Frau, die der Marquis de Ronquerolles ein »Vollblut« nannte. Ihre nervöse Rassigkeit war aber nicht unweiblich, sie hatte volle runde Formen, ohne doch allzu stark zu sein. »Vollblutpferd«, »Rasseweib«: Diese Ausdrücke begannen damals die Engelsfiguren der Frauen à la Ossian zu verdrängen, diese ganze alte Liebesmythologie, mit der das Dandytum nichts mehr zu tun haben wollte. Für Rastignac war jedoch Anastasie de Restaud nichts als die begehrenswerte Frau. Zwei Tänze hatte er sich in der Liste der Kavaliere, die sie auf ihren Fächer schrieb, gesichert, und es gelang ihm, beim ersten Contre einige Worte mit ihr zu wechseln.

»Wo kann ich Sie wiedersehen, Madame?« hatte er sie brüsk, mit der Kraft der Leidenschaft gefragt, die den Frauen so sehr gefällt.

»Überall«, hatte sie erwidert, »im Bois, im Theater, bei mir zu Hause.«

Der abenteuerdurstige Sohn des Südens hatte sich alle Mühe gegeben, der reizenden Gräfin näherzutreten, sosehr ein junger Mann nur mit einer Frau während eines Contres und eines Walzers in Verbindung kommen kann. Da er sich als Vetter der Madame de Beauséant ausgab, wurde er von seiner Tänzerin, die er für eine große Dame hielt, eingeladen. Nach dem letzten Lächeln, das sie ihm zuwarf, glaubte Rastignac, daß sein Besuch dringend gewünscht und notwendig sei. Dann hatte er das Glück gehabt, einen Mann zu treffen, der sich einmal über seine Unwissenheit nicht lustig machte. Sonst war Naivität der schlimmste Fehler bei dieser Lebewelt, bei den Maulincourt, Ronquerolles, de Trailles, de Marsey, Ajuda Pinto, Vandenesse, die im ganzen Glanz ihrer Einbildung strahlten und an deren Seite die elegantesten Frauen erschienen. Lady Brandon, die Herzogin, de Langeais, die Gräfin Kergarouet, Madame de Sérizy, die Herzogin de Carigliano, die Gräfin Ferraud, Madame de Lanty, die Marquise d'Aiglemont, Madame Firmiani, die Marquise de Listomère, die Marquise d'Espard, die Herzogin de Maufrigneuse und die beiden Grandlieus. Glücklicherweise stieß der Student auf den Marquis de Montriveau, den Liebhaber der Herzogin de Langeais, einen General, der schlicht war wie ein Kind und von dem er erfuhr, daß die Gräfin de Restaud in der Rue du Helder wohnte. Wenn man jung ist, nach der großen Welt dürstet, nach einer Frau hungert – welch ein Ereignis ist es dann, wenn sich einem zwei Häuser öffnen! Er konnte im Faubourg St-Germain bei der Gräfin Beauséant ein und aus gehen, und er durfte in der Chaussee d'Antin sein Knie vor der Gräfin de Restaud beugen. Mit einem Blick konnte er die ganze Reihe der Salons von Paris erfassen, und er durfte sich für hübsch genug halten, um bei einem Frauenherzen Hilfe und Gunst zu finden. Er war ehrgeizig genug, um das straff gespannte Seil des Lebens mit unfehlbarer Sicherheit zu betreten, nachdem er in einer entzückenden Frau die beste Balance dafür gefunden hatte. Wer hätte nicht mit solchen Gedanken und mit dem Bild einer solchen Frau vor Augen, auch neben einem armseligen Torffeuer, zwischen den Pandekten und in der grauen Not wie Eugen von der Zukunft geträumt, wer hätte sich nicht die zukünftigen Erfolge ausgemalt? Sein schweifender Geist sah so deutlich seine zukünftigen Freuden vor sich, daß er sich schon an der Seite der Madame de Restaud glaubte.

Da störte plötzlich ein schwerer Seufzer das Schweigen der Nacht. Er fand seinen Widerhall im Herzen des jungen Mannes. Es klang wie das Röcheln eines Sterbenden. Rastignac öffnete leise die Tür. Als er auf dem Korridor war, sah er unter der Tür von Vater Goriots Zimmer einen Lichtstreifen. Eugen fürchtete, daß sein Nachbar krank sei; er näherte sein Auge dem Schlüsselloch, spähte ins Zimmer und erblickte den Greis mit Hantierungen beschäftigt, die ihm fast verbrecherisch vorkamen. Er glaubte daher der menschlichen Gesellschaft einen Dienst zu erweisen, wenn er das nächtliche Treiben des angeblichen früheren Nudelfabrikanten weiter überwachte. Vater Goriot, der offenbar an der unteren Platte eines umgestülpten Tisches eine Schale und eine Suppenschüssel aus vergoldetem Silber befestigt hatte, band eine Art Strick um diese reichverzierten Gegenstände, um sie zu Barren zusammenzudrehen.

Donnerwetter, ist das ein Kerl! sagte sich Rastignac, als er die sehnigen Arme des Greises sah, die mit Hilfe des Stricks das vergoldete Silber ganz geräuschlos wie Teig zusammenkneteten. Sollte Vater Goriot etwa ein Dieb oder ein Hehler sein, der sich, um sich ganz ungestört seinem Treiben zu widmen, dumm und schwach stellt und wie ein Bettler lebt, fragte sich Eugen, indem er sich einen Augenblick aufrichtete.

Der Student näherte sein Auge erneut dem Schlüsselloch. Vater Goriot hatte den Strick abgewickelt und legte jetzt die Silbermasse auf den Tisch, über den er eine Decke gebreitet hatte. Mit erstaunlicher Leichtigkeit rollte er die Masse zu einem Barren zusammen.

Er muß so stark sein wie König August von Sachsen, dachte Eugen, als der Barren ungefähr fertig war.

Vater Goriot betrachtete sein Werk mit traurigen Augen. Tränen liefen ihm über die Wangen, er blies die Lampe aus, bei deren Schein er gearbeitet hatte, und Eugen hörte, wie er sich seufzend zu Bett legte.

»Er ist sicher verrückt«, sagte der Student. Da hörte er wie Vater Goriot laut aufseufzte: »Armes Kind!«

Nach diesem Ausruf hielt es Rastignac für klüger, Schweigen über den Vorfall zu bewahren und seinen Nachbarn nicht voreilig zu verdammen. Er wollte gerade in sein Zimmer zurückgehen, als er plötzlich ein unerklärliches Geräusch vernahm. Es hörte sich an, als ob Männer auf Filzsohlen die Treppe heraufkämen. Eugen horchte und vernahm auch bald die Atemzüge zweier Personen. Ohne daß er das Knarren einer Tür oder den Schritt eines Menschen gehört hätte, sah er plötzlich ein schwaches Licht in der zweiten Etage bei Herrn Vautrin.

Für eine Familienpension sind das ja ganz nette Geheimnisse hier, sagte er sich.

Er stieg einige Stufen herab und horchte. Bald vernahm er das Klimpern von Goldmünzen. Darauf erlosch das Licht. Abermals hörte er dann die beiden Atemzüge, ohne daß er das Öffnen einer Tür wahrgenommen hätte. Die beiden Männer stiegen die Treppe herab, und das Geräusch wurde schwächer.

»Wer ist da?« rief Madame Vauquer, die ihr Fenster öffnete.

»Ich bin's, Madame Vauquer, ich komme eben nach Hause«, sagte Vautrin mit seiner tiefen Stimme.

Seltsam! Christoph hatte doch die Tür zugeriegelt, sagte sich Eugen, als er in sein Zimmer zurückkehrte. Man muß in Paris gut aufpassen, um zu wissen, was um einen herum vor sich geht.

Durch diese kleinen Ereignisse in seinen Träumen von Liebe und Ehrgeiz gestört, machte er sich wieder an die Arbeit. Aber schließlich wurde er durch die Gedanken an Vater Goriot und noch mehr durch die Gestalt der Madame de Restaud abgelenkt, die ihm wie die Botin eines glänzenden Geschickes erschien. Er ging zu Bett und schlief wie ein Murmeltier. Von zehn Nächten, die junge Menschen für die Arbeit bestimmen, schlafen sie sieben. Man muß älter sein als zwanzig Jahre, um wachen zu können.

Am folgenden Morgen herrschte in Paris einer jener dicken Nebel, die die Stadt so einhüllen und verschleiern, daß selbst die pünktlichsten Leute sich in der Zeit irren. Die Geschäftsleute verpaßten ihre Verabredungen, jeder glaubte, es sei erst acht Uhr, als es Mittag schlug. Es war schon neuneinhalb, und Madame Vauquer hatte sich noch nicht aus ihrem Bett gerührt. Christoph und die dicke Sylvia, die sich gleichfalls verspätet hatten, tranken in Ruhe ihren Kaffee und verzehrten den Rahm der Milch, die für die Pensionäre bestimmt war. Sylvia ließ die Milch dann recht lange kochen, damit Madame Vauquer von diesem unrechtmäßig erhobenen Zehnten nichts merke.

»Sylvia«, sagte Christoph bei der ersten Schnitte, »Vautrin, der doch sonst ein ordentlicher Mann ist, hat wieder zwei Männer heute nacht bei sich eingelassen. Wenn Madame sich deshalb beunruhigt, darfst du nichts sagen.«

»Hat er dir was gegeben?«

»Er hat mir fünf Francs für den Monat gegeben, was heißen soll: Halt den Mund!«

»Außer ihm und Madame Couture, die nicht auf den Sou sehen, möchten die anderen uns am liebsten mit der linken Hand das wieder nehmen, was sie uns mit der rechten zu Neujahr geben«, sagte Sylvia.

»Aber was geben sie denn überhaupt schon?« meinte Christoph, »ein schäbiges Fünffrancstück! Es sind jetzt zwei Jahre her, daß Vater Goriot seine Schuhe selbst putzt. Dieser Knicker von Poiret nimmt keine Wichse und würde sie lieber austrinken als sie auf seine Schuhe schmieren. Und dieser Windhund von Student, der gibt nur 40 Sous; damit kann ich nicht einmal meine Bürsten bezahlen. Und nicht mal seine alten Kleider kriegt man, die verkauft er selbst. Eine elende Bude ist das!«

»Bah«, meinte Sylvia, indem sie ihren Kaffee in kleinen Schlucken schlürfte, »uns geht es hier im Viertel immer noch mit am besten, wir haben zu leben. Aber über Papa Vautrin – hast du da was Neues gehört?«

»Ja, ich habe vor einigen Tagen auf der Straße einen Herrn getroffen, der mich gefragt hat: ›Wohnt bei Ihnen nicht ein starker Herr mit gefärbtem Backenbart?‹ Da habe ich gesagt: ›Nein, mein Herr, er färbt seinen Bart nicht. Ein Mann, der so lustig ist wie der, hat dazu keine Zeit.‹ Das habe ich Vautrin erzählt, und er hat zur Antwort gegeben: ›Das hast du gut gemacht, mein Junge! Antworte nur immer so! Nichts ist schlimmer, als wenn man seine kleinen Schwächen zu erkennen gibt. Darüber kann sogar eine Heirat kaputtgehen.‹«

»Und mich hat man auch auf dem Markt herankriegen wollen. Ich sollte sagen, ob ich schon einmal gesehen hätte, wenn er sein Hemd anzieht. Solch ein Unsinn! Höre«, sagte sie, sich unterbrechend, »da schlägt es im Val-de-Grâce Viertel vor zehn, und niemand rührt sich im Hause.«

»Sie sind ja alle ausgegangen. Madame Couture und das junge Mädchen sind um acht Uhr zur Messe gegangen in Saint-Étienne. Vater Goriot ist mit einem Paket fort, und der Student kommt erst nach seiner Vorlesung zurück um zehn Uhr. Ich habe sie alle fortgehen sehen, als ich die Treppe fegte, und Vater Goriot hat mir noch einen Stoß mit seinem Paket gegeben, das war hart wie Eisen. Was treibt er bloß, der Alte? Die anderen machen sich über ihn lustig, aber er ist doch ein guter Kerl und besser als alle anderen. Er gibt zwar nicht viel, aber bei den Damen, zu denen er mich schickt, und die sind fein ausstaffiert, gibt es anständige Trinkgelder.«

»Ach, das sind die, die er für seine Töchter ausgibt. Ja? Das ist sicher ein ganzes Dutzend.«

»Ich bin nur bei zweien gewesen, bei denselben, die hier ins Haus gekommen sind.«

»Da, Madame wird munter, jetzt geht der Hexensabbat los, ich muß mich tummeln. Paß auf die Milch auf, Christoph, du weißt ja, wegen der Katze!«

Sylvia stieg zu ihrer Herrin nach oben. »Was, Sylvia, ein Viertel vor zehn, und du läßt mich wie ein Murmeltier schlafen? So was ist doch noch nicht dagewesen.«

»Das kommt vom Nebel, man kann ihn mit dem Messer schneiden.«

»Und das Frühstück?«

»Bah, Ihre Pensionäre hatten heute den Teufel im Leib, sie haben sich alle aus dem Staube gemacht. Nur Michonnette und Poiret haben sich noch nicht gerührt. Das sind die beiden einzigen im Haus, die wie Klötze schlafen – was sie ja auch sind.«

»Aber, Sylvia, du bringst die beiden zusammen, als wenn . . .«

»Als wenn was?« erwiderte Sylvia mit ihrem breiten, blöden Lachen, »die beiden sind ja ein richtiges Pärchen.«

»Übrigens, das ist komisch, Sylvia: Wie ist denn Vautrin ins Haus gekommen, nachdem Christoph die Tür zugeriegelt hatte?«

»Im Gegenteil, Madame. Christoph hat Herrn Vautrin gehört und ist heruntergegangen, um ihm aufzumachen. Wenn Sie gedacht hätten . . .«

»Gib mir meine Unterjacke und sieh nach dem Essen! Tu die Kartoffeln an den Rest vom Hammel und gib dazu gekochte Birnen, von denen zu zwei Centimes das Stück.«

Einige Augenblicke später begab sich Madame Vauquer nach unten, gerade als die Katze mit einem Pfotenhieb den Deckel von einem Milchnapf fortschlug und ihn mit aller Hast ausschleckte.

»Mistigris!« rief Madame Vauquer.

Die Katze rannte fort, kam aber bald zurück, um sich an ihre Herrin anzuschmiegen.

»So ist es recht, du alter Gauner!« rief sie.

»Sylvia! Sylvia!«

»Ja, was ist denn, Madame?«

»Siehst du nicht, daß die Katze an die Milch gegangen ist?«

»Da hat dieses Kamel von Christoph schuld, ich habe ihm gesagt, er soll die Schüssel zudecken! Aber wo ist er denn nur hin? Regen Sie sich nur nicht auf, die Milch geb' ich Vater Goriot zum Kaffee. Ich tue Wasser zu, da merkt er nichts. Er achtet ja überhaupt auf nichts, nicht einmal aufs Essen.«

»Wo ist er denn hin, der alte Chinese?« fragte Madame Vauquer, indem sie die Teller forträumte.

»Weiß man denn, was er treibt? Das ist ein Hans Dampf in allen Gassen!«

»Ich habe zu lange geschlafen«, meinte Madame Vauquer.

»Aber Madame ist dafür auch so frisch wie eine Rose . . .«

In diesem Augenblick ertönte die Hausglocke, und Vautrin betrat den Salon. Er sang mit seiner tiefen Stimme:

Ȇberall bin ich zu Hause,
Überall bin ich bekannt . . .«

Als er seine Wirtin bemerkte, schloß er sie galant in die Arme und rief: »Ah, guten Morgen, Madame.«

»Aber so hören Sie doch auf . . .«

»Sagen Sie nur ruhig: Sie unverschämter Kerl!« rief er. »Nur zu, sagen Sie es doch! Wollen Sie es wohl sagen! Warten Sie, ich werde Ihnen beim Tischdecken helfen. Bin ich nicht ein netter Kerl?

Ich liebe die Braune, die Blonde,
Ich liebe . . .

Übrigens – ich habe etwas Seltsames erlebt . . .«

»Was denn?« rief die Witwe neugierig.

»Vater Goriot war um halb neun in der Rue Dauphiné bei dem Juwelier, der altes Silberzeug und Uniformtressen kauft. Er hat ihm für ein gutes Stück Geld Tischgeschirr aus vergoldetem Silber verkauft, das für einen Mann, der nicht vom Fach ist, ganz hübsch zu einem Barren verarbeitet war.«

»Was? Wirklich?«

»Ja, ja. Ich wollte nach Haus zurückkehren, nachdem ich einen Freund, der ins Ausland geht, zu den Messageries Royales begleitet hatte. Ich habe auf Vater Goriot gewartet, um zuzusehen. Es gab ja doch etwas zu lachen. Er ist durch die Rue des Grès hierher ins Viertel zurückgekehrt und zu dem bekannten Wucherer Gobseck gegangen, zu diesem schweren Jungen, der mit den Knochen seines eigenen Vaters Domino spielen würde: Das ist ein Jude, ein Araber, ein Grieche, ein Mann, bei dem sich nicht einmal ein Einbruch lohnt; er hat seine Taler hübsch auf der Bank.«

»Was macht er denn bloß, der Vater Goriot?«

»Och, er macht gar nichts«, meinte Vautrin, »er macht nur alles kaputt! Dieser Trottel ist blöde genug, sich für die Weiber zu ruinieren . . .«

»Da kommt er!« rief Sylvia.

»Christoph!« rief Vater Goriot, »komm mit mir nach oben!«

Christoph folgte dem Vater Goriot und kam bald wieder herunter.

»Wohin gehst du?« fragte Madame Vauquer ihren Hausdiener.

»Ich mache einen Gang für Goriot.«

»Was hast du da?« rief Vautrin, indem er Christoph einen Brief entriß, der die Aufschrift trug: An Gräfin Anastasie de Restaud. »Und wohin gehst du?« fragte er, als er Christoph den Brief zurückgab.

»Rue du Helder. Ich darf den Brief nur an die Frau Gräfin persönlich abgeben.«

»Was ist darin?« sagte Vautrin, indem er den Brief gegen das Licht hielt. »Eine Banknote? Nein!«

Dann öffnete er den Umschlag ein wenig. »Ein eingelöster Wechsel!« rief er. »Verflucht nochmal, er ist galant, der alte Stockfisch. Na, alter Räuber«, sagte er, indem er Christoph mit seiner breiten Hand über die Haare fuhr und ihn wie einen Kreisel herumdrehte, »du wirst ein hübsches Trinkgeld bekommen.«

Der Tisch war gedeckt, Sylvia ließ die Milch aufkochen, und Madame Vauquer machte im Ofen Feuer, wobei sie von Vautrin unterstützt wurde, der immer noch summte:

Ȇberall bin ich zu Hause,
Überall bin ich bekannt . . .«

Als alles bereit war, kamen Madame Couture und Mademoiselle Taillefer zurück.

»Woher kommen Sie denn so früh, meine Liebe?« fragte Madame Vauquer.

»Wir haben in St-Étienne du Mont gebeichtet. Wir wollen doch heute zu Herrn Taillefer gehen. Das arme Mädchen zittert wie Espenlaub«, fuhr Madame Couture fort und setzte sich vor den Ofen, vor den sie ihre dampfenden Schuhe hielt.

»Wärmen Sie sich doch auch ein wenig auf, Victorine«, sagte Madame Vauquer.

»Es ist sehr schön, mein Fräulein, daß Sie zum lieben Gott beten, er möge das Herz Ihres Vaters erweichen«, meinte Vautrin, indem er der Waise einen Stuhl hinschob. »Aber das genügt nicht, Sie brauchen einen Freund, der diesem Schweinehund einmal den Standpunkt klarmacht, diesem Barbaren, der 3 Millionen haben soll und der Ihnen keine Mitgift gibt. Auch ein hübsches Mädchen braucht heutzutage eine Mitgift!«

»Armes Kind!« sagte Madame Vauquer. »Warten Sie nur, mein Engel, dieses Ungeheuer von Vater wird sich noch selbst ins Unglück stürzen.«

Bei diesen Worten füllten sich Victorines Augen mit Tränen, und auf ein Zeichen von Frau Couture verstummte die Witwe. »Wenn wir ihn nur mal sehen könnten, wenn ich ihn nur sprechen könnte, um ihm den letzten Brief seiner verstorbenen Frau zu zeigen«, seufzte die Witwe des Zahlmeisters. »Ich habe niemals gewagt, den Brief zur Post zu geben: Er kennt meine Handschrift . . .«

»Oh, ihr unschuldigen, unglücklichen und verfolgten Frauen!« zitierte Vautrin, »so steht es also um euch? Nur noch einige Tage, dann nehme ich die Sache in die Hand, und alles geht gut.«

»Ach!« rief Victorine, indem sie Vautrin einen innigen, tränenfeuchten Blick zuwarf, der ihn jedoch wenig zu berühren schien. »Wenn Sie ein Mittel wissen, um zu meinem Vater zu gelangen, so sagen Sie ihm doch, daß seine Liebe und die Ehre meiner Mutter für mich die kostbarsten Schätze der Welt sind. Wenn Sie seine Härte ein wenig mildern könnten, so will ich zu Gott für Sie beten. Seien Sie von meiner Dankbarkeit überzeugt!«

»Überall bin ich zu Hause . . .«, sang Vautrin ironisch. –

In diesem Moment kamen Goriot, Mademoiselle Michonneau und Poiret herunter, vielleicht durch den Geruch der Soße angelockt, mit der Sylvia die Reste des Hammels anmachte. In dem Augenblick, als die sieben Tischgenossen sich unter gegenseitigen Begrüßungen niederließen, schlug es 10 Uhr. Von der Straße her hörte man die Schritte des Studenten.

»Na, Monsieur Eugen«, sagte Sylvia, »heute frühstücken Sie mal mit der ganzen Gesellschaft zusammen.«

Der Student begrüßte die Pensionäre und setzte sich neben Vater Goriot.

»Mir ist ein seltsames Abenteuer zugestoßen«, sagte er, indem er sich eine gewaltige Portion Hammelfleisch auflegte und sich ein Stück Brot abschnitt, das Madame Vauquer wie gewöhnlich mit den Augen abwog. –

»Ein Abenteuer?« fragte Poiret.

»Nun, wieso erstaunt Sie das? Sie alte Schlafmütze?« fragte Vautrin Herrn Poiret. »Der junge Herr sieht doch wohl so aus, als wenn er schon mal ein Abenteuer haben könnte.«

Fräulein Taillefer warf dem jungen Studenten einen furchtsamen Blick zu. »Also los, erzählen Sie uns Ihr Abenteuer!« sagte Madame Vauquer.

»Gestern war ich auf dem Ball der Vicomtesse de Beauséant, meiner Cousine, die ein herrliches Haus besitzt. Salons mit Seidentapeten! Es war ein wundervolles Fest, und ich habe mich amüsiert wie ein König . . .«

»Wie ein Zaunkönig«, unterbrach Vautrin.

»Was wollen Sie damit sagen?« erwiderte Eugen heftig.

»Ich sage Zaunkönig, weil Zaunkönige sich besser amüsieren als Könige.«

»Das ist wahr, ich möchte auch lieber so ein kleiner Vogel ohne Sorgen sein als ein König, und zwar aus dem Grunde . . .«, meinte das Echo Poiret.

Der Student schnitt ihm das Wort ab. »Ich tanzte also mit der schönsten Frau des Abends, einer entzückenden Gräfin, dem herrlichsten Geschöpf, das ich jemals gesehen habe. Ihr Kopfschmuck bestand aus Pfirsichblüten, sie hatte ein herrliches Blumenbukett angesteckt aus natürlichen Blüten, die einen betäubenden Duft ausströmten. Aber man müßte sie selbst sehen, es ist unmöglich, eine Frau zu schildern, die vom Tanz belebt wird. Und nun heute morgen treffe ich diese göttliche Frau in der Rue des Grès zu Fuß. Das Herz schlug mir, ich stellte mir vor . . .«

»Sie käme hierher«, sagte Vautrin, indem er dem Studenten einen scharfen Blick zuwarf. »Sie ging sicher zu Papa Gobseck, dem Wucherer. Wenn man die Herzen der Pariserinnen prüft, so wird man darin eher den Wucherer als den Liebhaber finden. Ihre Gräfin heißt Anastasie de Restaud und wohnt Rue du Helder.«

Der Student starrte Vautrin fassungslos an. Vater Goriot fuhr hoch und warf den beiden einen Blick voller Unruhe zu, der die Pensionäre überraschte.

»Christoph wird zu spät kommen, sie ist doch schon hingegangen«, murmelte er traurig.

»Ich habe richtig vermutet«, flüsterte Vautrin Madame Vauquer ins Ohr.

Goriot aß mechanisch, ohne auf die Speisen zu achten. Niemals hatte er einen stumpfsinnigeren und versunkeneren Eindruck gemacht als in diesem Augenblick.

»Wer in aller Welt, Monsieur Vautrin, hat Ihnen den Namen verraten?« fragte Eugen.

»Na, was denn«, erwiderte Vautrin, »Vater Goriot kannte ihn doch auch, warum sollte ich ihn nicht kennen?«

»Monsieur Goriot?« rief der Student.

»Wie?« entgegnete der arme Greis »sie war also gestern abend sehr schön?«

»Wer denn?«

»Madame de Restaud!«

»Nun sehen Sie diesen alten Lumpen!« meine Madame Vauquer zu Vautrin, »wie seine Augen leuchten!«

»Er hält sie wohl aus?« fragte Mademoiselle Michonneau leise den Studenten.

»Oh, Sie war hinreißend schön!« erwiderte Eugen, und der alte Goriot hing gierig an den Lippen des jungen Mannes.

»Ohne Madame de Beauséant wäre meine göttliche Gräfin die Königin des Balls gewesen. Die jungen Herren hatten nur Augen für sie, ich war der zwölfte auf ihrer Tanzliste, sie hat alle Contres getanzt. Alle anderen Frauen waren rasend vor Neid. Wenn irgend jemand glücklich war gestern, so war sie es. Es ist wirklich wahr, es gibt nichts Schöneres als eine Fregatte unter Segeln, ein Pferd im Galopp und eine Frau, wenn sie tanzt.«

»Gestern noch auf stolzen Rossen bei einer Herzogin«, sagte Vautrin, »heute durch die Brust geschossen beim Wucherer: Das sind die Pariserinnen! Wenn die Gatten ihren wahnsinnigen Luxus nicht bestreiten können, so verkaufen sie sich. Wenn sie sich nicht verkaufen können, so würden sie ihre eigene Mutter umbringen, um sich ihren Flitter zu verschaffen. Sie machen alles, was man sich nur denken kann, man kennt das, man kennt das!«

Das Gesicht des Vaters Goriot, das bei den Worten des Studenten wie die Sonne an einem schönen Tage aufgeleuchtet hatte, verdüsterte sich bei den grausamen Bemerkungen Vautrins.

»Aber wo bleibt nun Ihr Abenteuer?« fragte Madame Vauquer.

»Haben Sie mit ihr gesprochen? Haben Sie sie gefragt, ob sie Jura studieren wolle?«

»Sie hat mich gar nicht gesehen«, erwiderte Eugen. »Aber eine der schönsten Frauen von Paris, eine Frau, die um 2 Uhr morgens vom Ball heimgekehrt ist, früh um 9 Uhr in der Rue des Grès zu treffen, ist das nicht ein Erlebnis? Solche Abenteuer gibt es nur in Paris.«

»Bah, es gibt noch ganz andere!« rief Vautrin.

Fräulein Taillefer hatte kaum zugehört, so sehr war sie mit dem Schritt, den sie vorhatte, beschäftigt. Madame Couture bedeutete ihr aufzustehen, um sich umzukleiden. Vater Goriot folgte den beiden Damen, als sie das Zimmer verließen. –

»Na, haben Sie gesehen?« fragte Madame Vauquer Herrn Vautrin und die anderen Pensionäre. »Es ist doch wohl klar, daß er sich für diese Weiber ruiniert.«

»Niemals wird man mich davon überzeugen können, daß die schöne Gräfin zu Vater Goriot gehört«, bemerkte Eugen.

Vautrin unterbrach ihn: »Aber wir wollen Sie auch gar nicht zu dem Glauben bekehren. Sie sind noch viel zu jung, um Paris zu kennen. Erst später werden Sie einsehen, daß es hier Menschen gibt, die man als ›Menschen mit Passionen‹ bezeichnet . . .«

Bei diesen Worten warf Fräulein Michonneau Vautrin einen verständnisvollen Blick zu. Man hätte sie mit einem Kavalleriepferd vergleichen können, das den Klang der Trompete hörte.

»Ja, ja«, unterbrach sich Vautrin, indem er sie gleichfalls verständnisvoll ansah, »haben wir nicht auch unsere kleinen Leidenschaften?«

Die alte Jungfer senkte verschämt die Augen, wie eine Nonne, die nackte Statuen erblickt.

Vautrin fuhr fort: »Diese Menschen haben sich nun einmal in eine Idee verrannt. Sie haben Durst nur nach dem Wasser einer bestimmten Quelle, auch wenn es trübe ist. Um daraus trinken zu können, würden sie ihre Frauen und ihre Kinder verkaufen und schließlich auch dem Teufel ihre eigene Seele! Für die einen ist diese Quelle das Spiel, die Börse, das Sammeln von Bildern oder von Insekten, die Musik; für andere ist es eine Frau, die ihnen ihre Leckerbissen darreicht. Ihnen könnte man alle Frauen der Erde anbieten, es wäre ihnen ganz egal, sie wollen nur die Frau, die ihre Leidenschaft befriedigt. Oft liebt diese Frau sie nicht ein bißchen, behandelt sie hart und verkauft ihnen ihre kleinen Gunstbezeigungen sehr teuer. Aber diese Toren lassen nicht von ihr, und sie werden die letzte Decke zum Pfandhaus bringen, um ihr das letzte Silberstück zu bieten. Der Vater Goriot ist einer von dieser Sorte. Die Gräfin beutet ihn aus, weil er verschwiegen ist: Das ist die große Gesellschaft! Der arme Kerl denkt nur an sie. Abgesehen von seiner Leidenschaft, das sieht man ja, ist er dumm wie ein Stück Holz. Aber wenn die Sprache auf dieses Kapitel kommt, so funkelt sein Gesicht wie ein Diamant. Es ist nicht schwer, dieses Geheimnis herauszubekommen. Heute morgen hat er vergoldetes Silber einschmelzen lassen, und ich sah ihn, wie er zu Papa Gobseck in der Rue des Grès ging. Jetzt hören Sie genau zu! Als er zurückkam, hat er diesen Dummkopf Christoph mit einem Brief zur Gräfin de Restaud geschickt, in dem sich ein bezahlter Wechsel befand. Es ist klar, daß die Sache dringend war, denn auch die Gräfin ist zu dem Wucherer gegangen. Vater Goriot hat ihr galant seine Hilfe angeboten. Man braucht kaum zwei Gedanken zu kombinieren, um die Sache zu durchschauen. Das beweist, mein junger Herr Student, daß Ihre Gräfin der Schuh drückte, wie man zu sagen pflegt, während sie lachte und tanzte und tausend Torheiten beging, während sie mit ihren Pfirsichblüten und ihrer Robe paradierte. Sie mußte an einen protestierten Wechsel und an den Brief ihres Liebhabers denken.«

»Sie machen mich wirklich wahnsinnig gespannt, die Wahrheit zu erfahren. Ich werde morgen zu Madame de Restaud gehen«, rief Eugen.

»Ja, Sie müssen morgen zu Madame de Restaud gehen«, sagte Poiret.

»Sie werden dann vielleicht den braven Goriot treffen, der den Lohn für seine Unterstützungen einkassiert.«

»Aber dieses Paris ist ja ein wahrer Schmutzpfuhl!« rief Eugen mit Abscheu.

»Und was für ein Schmutzpfuhl!« erwiderte Vautrin. »Die Leute, die mit dem Wagen hindurchfahren, sind anständige Leute; die Fußgänger, die die Spritzer treffen, sind die Schufte. Hat man das Unglück, eine Kleinigkeit zu klauen und dabei erwischt zu werden, so wird man vor dem Justizpalast als moralische Abnormität präsentiert. Stehlen Sie eine Million, so werden Sie in den Salons als Ehrenmann behandelt. Dafür zahlt das Volk dreißig Millionen an die Gendarmerie und an die Justiz, um diese Moral aufrechtzuerhalten . . . Eine hübsche Geschichte!«

»Wie?« rief Madame Vauquer. »Vater Goriot hat sein Dejeunerservice eingeschmolzen?«

»Waren nicht zwei Tauben als Verzierung auf dem Deckel?« fragte Eugen.

»Das stimmt!«

»Er muß sehr daran gehangen haben, er hat geweint, als er einen Barren daraus machte. Ich habe es zufällig gesehen.«

»Er hing daran wie an seinem Leben«, erwiderte die Witwe.

»Da sehen Sie, wie leidenschaftlich der Brave ist!« rief Vautrin. »Diese Frau weiß ihm die Seele aus dem Leib zu ziehen.«

Der Student begab sich auf sein Zimmer. Vautrin verließ das Haus. Einige Augenblicke später stiegen Madame Couture und Victorine in einen Fiaker, den Sylvia ihnen geholt hatte. Poiret reichte Mademoiselle Michonneau seinen Arm, und die beiden unternahmen einen Spaziergang in den Jardin des Plantes, um die beiden schönen Stunden des Tages auszunutzen.

»Sie sind so gut wie verheiratet«, sagte die dicke Sylvia, »sie gehen zum ersten Male zusammen aus. Sie sind beide so dürr, daß sie bei der bloßen Berührung Feuer geben müßten wie ein Feuerzeug.«

»Wenn nur der Schal von Mademoiselle Michonneau nicht als Zunder wirkt!« rief Madame Vauquer lachend.


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