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»Wir waren, dünkt mich, bei Laokoons Tode stehen geblieben«, begann der Lehrer.
»Aber sagen Sie doch«, unterbrach ihn Anton, »ist das derselbe Laokoon, von dessen Bildsäule neulich bei Tische erzählt wurde?«
»O, wie ist das? Erzählen Sie!« bat Wilhelm.
»Nun«, sagte der Lehrer, »ihr wißt, daß die Griechen in den Zeiten der Blüte ihrer Staaten auch in den bildenden Künsten eine hohe Stufe der Vollkommenheit erreicht haben. Besonders wurden von Athen, Korinth und Sikyon aus fast alle Tempel auch der fernsten Griechenstädte mit marmornen Götterbildern geschmückt; aber ebensowenig fehlten Bildsäulen berühmter Männer den öffentlichen Plätzen und Gebäuden. Viele dieser griechischen Bildhauerarbeiten kamen in der Folge zum Teil als Kriegsbeute nach Rom, wo unter der Kaiserregierung ein neues Kunstleben erblühte, indem die Fürsten und Großen den griechischen Künstlern Beschäftigung gaben. Doch leitete nun nicht mehr der fromme Glaube und die Verehrung der Götter die Künstler, sondern das Streben nach Pracht und überraschender Wirkung. In den vielen Verheerungen, welche dann im Laufe der Jahrhunderte Italien erlitten hat, ging manch schönes Kunstwerk unter. Von denen aber, welche sich noch bis auf unsere Zeit erhalten haben, wird unter andern Meisterstücken der bildenden Kunst, z. B. der mediceischen Venus, dem vatikanischen Apollo u. s. w., von deren hoher Schönheit jeder kundige Beschauer entzückt ist, auch besonders eine Gruppe des Laokoon wegen ihres ergreifenden Ausdrucks bewundert.«
»Wie ist denn der Laokoon dargestellt?« fragte Anton.
»Er steht in der Mitte zwischen seinen beiden jugendlichen Söhnen, am Altare des Gottes beschäftigt. Zwei Schlangen, von den den Troern feindlichen Göttern gesandt, haben den Priester mit seinen beiden Söhnen umschlungen; die eine derselben ist im Begriffe, den mit ihr ringenden Laokoon in die Hüfte zu beißen, wahrend die andere dem jüngern Knaben schon den tötlichen Biß versetzt hat. Die große Schwierigkeit der Aufgabe bestand ebensowohl in den Stellungen dieser so fürchterlich geängstigten Gruppe, als in dem Gesichtsausdruck der Kinder, ganz vorzüglich aber in der Haltung und in der Miene des Alten, in welcher die Würde des Priesters, die Zärtlichkeit des Vaters und der Schmerz des Verwundeten zugleich wiedergegeben werden mußte. Denn der Künstler hat den Augenblick der Darstellung gewählt, wo der Vater, nachdem alle Anstrengung vergeblich gewesen und alle Hoffnung auf Hilfe verschwunden, dem Ende der Qual schon nahe gekommen ist und selbst den Tod herbeizuwünschen scheint. Alles dieses ist ihm so gelungen, daß jeder jetzt lebende Bildhauer verzweifeln würde etwas Ähnliches hervorzubringen. In Bezug auf den feinen und edeln Geschmack in der Behandlung des schwierigen Gegenstandes und auf Kunst und Verständnis in der Ausführung gilt die Gruppe als ein wirkliches Wunderwerk.«
»Wer hat sie denn gemacht?« fragte Julius.
»Man weiß es nicht genau«, antwortete der Lehrer. »Polydoros, Agesandros und Athenodoros von Rhodos sollen die Meister sein; gefunden ist sie im Jahre 1560 zu Rom und von Papst Julius II. gekauft. Aus sechs Steinen hat aber das Ganze erst wieder zusammengesetzt werden müssen, der rechte Arm des Vaters, die zwei Arme der beiden Söhne und auch einiges an den Füßen ist neu. Vgl. u. a. O. Müllers Denkm. der Alten Kunst. Heft IV. Nr. 214.
»Und dieses Kunstwerk war eine Zeitlang in Frankreich?«
»Ja. Als die Franzosen in den Zeiten der Revolution Italien überschwemmten, plünderten sie die Kunstschätze dieses Landes so völlig aus, daß nur wenig Vorzügliches dort zurückblieb. Bei dieser Gelegenheit wurden denn auch die vorhin genannten Meisterwerke mit fortgeschleppt und in Paris aufgestellt, wo sie zu sehen waren, bis im Jahre 1815 auf Veranlassung Englands alle Kunstwerke zurückgegeben werden mußten. Seit der Zeit hat denn auch der Laokoon seine alte Stelle im Vatikan (dem größten der päpstlichen Paläste) wieder eingenommen. Er steht dort in einem, unter dem Namen »Belvedere« bekannten offenen Säulengange, und heißt daher auch der Apollo von Belvedere.«
»Kehren wir jedoch jetzt zu Laokoon vor Troja zurück. Er war, wie gesagt, dem Schlangenbiß erlegen, und die Trojaner betrachteten sein Schicksal als eine verdiente Götterstrafe. Dagegen schien ihnen jetzt die Wahrheit von Sinons Aussage unzweifelhaft. Mit religiösem Eifer griffen sie sogleich das Werk an. Wenn es nur darauf ankommt, meinten sie, das Pferd in die Stadt zu führen, so sollen unsere Thore nicht zu eng und niedrig erfunden werden. Ein Teil läuft voran und stößt die obere Wölbung des Thores ein, ein anderer spannt sich vor die gewaltige Maschine oder schiebt von hinten nach. Langsam bewegt sie sich fort, unter lautem Jubel der Kinder und Weiber, und unter Festgesängen des ach! so jämmerlich betrogenen Volks. Jeder drängt sich heran und freut sich, das heilige Gebäude mit der Hand zu berühren oder mit an den hanfenen Seilen ziehen zu helfen. Endlich ist man an der Schwelle. Ein starker Ruck, und die vorderen Räder sind hinüber gehoben. Der gewaltige Koloß schwankt und wird heftig erschüttert. Da klirren abermals die im Inneren verborgenen Waffen, aber die bethörte Menge achtet nicht darauf und stößt auch die hinteren Räder glücklich hinüber. Und nun eilen sie damit zur Akropolis hinauf und stellen es neben den Tempel der Pallas hin.«
»Akropolis? Was ist das?« fragte Julius.
»Die alten griechischen Fürsten legten ihre Wohnungen, gerade wie die Ritter des Mittelalters ihre Burgen, und auch aus den nämlichen Gründen, gern auf Bergen und Anhöhen an. Ringsum im Thale siedelten sich dann allmählich ihre Unterthanen an und bildeten dadurch, wenn zuletzt der Häuser viele wurden, eine Stadt. Daher hatten die meisten griechischen Städte innerhalb ihrer Mauern einen besonders hochgelegenen Ort, den man die Akropolis, die Oberstadt nannte und der, auch wenn kein König mehr dort wohnte, doch eine besondere Heiligkeit behielt. Gewöhnlich befand sich daselbst der Tempel der Schutzgottheit; auch war er fast immer mit Verteidigungswerken versehen. In Athen war die Akropolis ganz vorzüglich berühmt wegen ihrer kunstvollen Gebäude, Tempel und Bildsäulen, von denen sich noch bis auf den heutigen Tag viele prächtige Trümmer erhalten haben.«
»Auf der Akropolis von Troja nun stand das unheilbringende Pferd. Die versteckten Bewohner desselben aber hielten sich noch immer ruhig, bis gegen Abend endlich das neugierige Volk sich verlief und jeder nach seiner Wohnung zurückging. Mancher überließ sich dem Gefühle der Freude beim traulichen Mahle und sank dafür mit desto schwererem Haupte dem Schlaf in die Arme. Jeder aber bestieg sein Lager mit der glücklichen Empfindung, die der Glaube gewähren mußte, daß nun endlich die Stadt wieder beruhigt sei, und daß kein Schlummernder mehr von einem feindlichen Überfall etwas zu fürchten habe.«
»Indem so die ganze Stadt in Weinrausch und Schlaf begraben lag, die Lampen in den Häusern erloschen und auch das letzte, leiseste Geräusch verstummt war, gab Sinon die mit seinen Landsleuten verabredeten Feuerzeichen, und die von Tenedos zurückgesegelten Schiffe landeten hierauf in heller, stiller Mondnacht an dem wohlbekannten Gestade. Welche Freude, als sie das Pferd nicht mehr fanden und die Spur desselben im Sande auf dem nach der Stadt führenden Wege bemerkten! Wohlbewaffnet macht sich das ganze Heer auf und nähert sich dem Thore. Dort finden sie bereits die Flügel geöffnet und die Wächter ermordet. Die Bewohner des Pferdes hatten es nämlich durch Sinons Hilfe bereits verlassen und ihren erwarteten Genossen vorgearbeitet. Ungehindert treten sie alle ein, und dumpf hallen durch die stillen Gassen die Schritte der Kommenden wider. Noch tappen sie im Dunkeln an den Häusern herum, aber bald leuchten ihnen die Flammen brennender Dächer, und nun erhebt sich auf einmal aus tausend Kehlen ein Geschrei, das Tote hätte erwecken können. Denkt euch die ruhig in dem Schlummer Liegenden, wie sie plötzlich erwachen und ihre Kammern von den überall auflodernden Flammen mit Tageshelle erleuchtet sehen, wie sie diese fürchterlichen Stimmen hören und im Augenblick den Racheruf der zurückgekehrten Feinde erkennen! Konnte ein Erwachen schrecklicher sein?«
»Im entlegensten Teile der Stadt stand das Haus des alten Anchises. Dorthin drang am spätesten das Getöse des Kampfes und der verheerende Brand, und erst als in der übrigen Stadt der Greuel der Verwüstung aufs höchste gestiegen war, erwachte Äneas an der Seite seiner Gemahlin Krëusa. Erschrocken springt er empor und eilt auf die Zinne seines Hauses. Seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen! Die halbe Stadt in Flammen, die weite Ebene ringsum bis an die Küste des Meeres vom schrecklichen Brande strahlend; in den Gluten selber hin und her irrende Männer und Weiber; durch die Straßen wildjauchzende Scharen mit Schwert und Speer; hier und da ein kurzes Gefecht und nach allen Thoren hin verworrene Flucht! Hier schleppen die Sieger geraubte Schätze fort, dort jagen sie nach Weibern und Jungfrauen, da schleudern sie Kinder und Greise mit grauser Wut in die Flammen. Ein Haus nach dem andern stürzt krachend zusammen. Der mordgierige Schrei der Sieger mischt sich mit dem Hilferufe und dem Klagegestöhn der Besiegten; der geängstigte Äneas glaubt bekannte Stimmen zu unterscheiden. Immer näher wälzt sich der Brand, schon sinkt De ïphobos' Palast in Asche, schon bricht aus Ukalegons nachbarlichem Hause der feurige Strahl.
Fast besinnungslos taumelt Äneas die Stufen hinunter, greift blindlings zu den Waffen und stürzt zum Hause hinaus. Da begegnete ihm Panthoos (Panthus), der Priester Apollons, in der Rechten die geretteten Heiligtümer des Tempels haltend, mit der Linken seinen kleinen Enkel fortreißend. Er war den Schwertern der Griechen glücklich entronnen, und jetzt trieb ihn die Angst, sich, seinen Enkel und die Heiligtümer in die entlegensten Hütten jenseit der Stadt zu retten. »Ha! Panthoos!« ruft ihn Äneas an, »sprich, wo wütet der Kampf am gräßlichsten? Laß uns nach der Burg eilen, um sie zu retten!«
»Retten?« fragte der Greis im höchsten Schmerze. »Flieh, Unglücklicher! hier ist an Hilfe nicht mehr zu denken! Der Feind hat die Mauern inne; die Hälfte der Stadt liegt in Asche, und o ihr Götter! auch die Hälfte der Bürger ist bereits ermordet. Ilion ist gewesen, und Troer hießen wir einst! Fuimus Troes, fuit Ilium heißt es bei Vergil (II, V. 325), und dieser Ruf ist seitdem fast zum Sprichwort geworden.
Auch du wirst keinen Ruhm mehr erringen. Alles, alles hat der harte Zeus den Griechen zugewandt! O komm, komm! was willst du dort? Mit jedem Augenblicke entsteigen ihren Schiffen neue Scharen der Mordbrenner, und unsere tapfersten Helden sind bereits erschlagen.«
Auf Äneas hatten diese Worte keinen Eindruck gemacht. Ohne Antwort läßt er den alten Priester stehen und eilt dem Gedränge zu. Siehe, da stößt er auf Rhipeus, Epytos, Hypanis, Dymas und den jugendlichen Koröbos, der um die schöne Kassandra, Priamos' Tochter, freiend nach Troja gekommen war. Er sammelt sie um sich: »Jünglinge«, ruft er, »wohlauf! Seid ihr entschlossen, zu retten was noch zu retten ist und Trojas Untergang nicht ungerächt zu lassen, so folgt mir nach! Ihr seht, die Götter haben uns verlassen! Ha! laßt uns sterbend es bezeugen, daß wir zu siegen wert gewesen wären. Auf! mir nach in das dichteste Gewühl! Ein ehrenvoller Tod sei unser letztes Heil!«
So werfen sie sich hastig den ersten Feindeshaufen entgegen. Es wird ihnen leicht, die Griechen, die keinen Widerstand mehr erwarten und mit Plündern beschäftigt sind, einzeln und zum Teil von hinten zu durchstoßen. Hier und dort stürzen diese unter ihren Händen, und noch merkt kein Grieche, daß es Troer sind, welche sie überfallen. Einer der Feinde, Androgeos mit Namen, ein tapferer Heerführer, hält sie für seinesgleichen und redet sie an: »Freunde, was zögert ihr doch? Seht, andere haben sich schon reiche Beute geholt und viele Feinde erschlagen, und ihr kommt jetzt erst säumig von den Schiffen daher?« »O«, rief Äneas, indem er ihn niederstieß, »wir hoffen auch noch Feinde zu erschlagen!« Indem er schon weiter ziehen will, hat Koröbos einen trefflichen Einfall! »Hört«, spricht er, »laßt uns diesen Wink des Schicksals, das uns wohl will, nutzen und die Täuschung mit klugem Sinn unterhalten. Du, Äneas, waffne dich mit Androgeos' Helm und Schild, wir andern wollen uns auch griechische Waffen suchen; so sollen die Feinde ihren eigenen Schwertern erliegen. Und was ist es denn weiter? Gewalt oder List im Kriege gilt alles.«
Der Vorschlag findet Beifall; ein eben vorüberziehender Trupp Griechen wird unversehens überfallen und giebt die Waffen her. Eine kleine Zeitlang thut die List die erwünschte Wirkung; die Griechen sinken, nichts ahnend, unter den Streichen ihrer vermeintlichen Brüder; aber in kurzem verändert sich wiederum die Scene. Äneas und die Seinen kommen an den Tempel der Pallas, den bis jetzt noch die Flamme verschont hatte, und ein entsetzliches Getöse dringt ihnen von dorther entgegen. Jetzt öffnen sich die Thüren, und eine wilde Feindesschar schleppt die schöne Kassandra mit Gewalt heraus. Aufgelöst wallt das Haar der Jungfrau um ihre Schultern und Hüften, einen Teil der Kleidung haben ihr die Räuber vom Leibe gerissen, und die zarten Hände sind ihr grausam auf den Rücken gebunden. Bei diesem Anblick seiner geliebten Braut hält sich Koröbos nicht; er stürzt sich mitten unter die Feinde, und getreulich folgen die Freunde ihm nach. Auch andere Troer stürzen mit Schwertern herbei, um die teure Königstochter zu retten, und von den benachbarten Dächern herab werden von den verzweifelten Einwohnern Ziegel und Quadern und Balken geschleudert. Wie teuer mußten jetzt die armen Männer ihre Verkleidung bezahlen! Unter den Würfen und Stößen ihrer eignen Mitbürger hauchten die meisten ihr Leben aus; auch der treue Koröbos fiel im Kampfe für seine Braut, von Peneleus vor dem Altäre der Pallas selbst durchbohrt. Nur Äneas blieb am Leben; doch verdankte er's hier wahrlich nicht feiger Flucht. Schon manchen hatte sein kräftiger Arm in dieser nächtlichen Schlacht zum Hades hinabgeschickt; er selber suchte den Tod und wollte ihn verdienen, aber seine göttliche Mutter hatte ihn zu höheren Zwecken bestimmt.
Alsbald riß ihn das Gedränge nach dem nahen Wohnsitze der Königsfamilie hin. Um nicht länger der Gefahr ausgesetzt zu sein, von Freundeshand zu sterben, warf er die trügerische Verkappung von sich und erschien wieder als Äneas. Mit neuem Mute belebte seine Ankunft alle die wackern Männer, die in dieser schrecklichen Stunde ihre eigene Rettung vergessend, nur das teure Leben ihres alten Königs zu schützen strebten. Wer von den Trojanern noch Besonnenheit genug gehabt hatte, um nach den Waffen zu greifen, der war hierher geeilt, und so war denn hier der Mittelpunkt des Streites, das heftigste Gewühl, der lauteste Tumult. Der größte Teil der Troer stand oben auf dem platten Dache des Hauses und sandte einen Hagel von Pfeilen und Wurfspießen auf die Stürmenden; ja, als diese Geschosse fehlten, brachen sie Steine aus dem Gemäuer los, rissen das obere Gebälk auseinander und schmetterten es auf die Griechen nieder. Wie viele der letzteren aber auch dadurch ihren Tod fanden, so schreckte das doch die übrigen nicht ab ihre Angriffe auf dieses Gebäude zu erneuern; denn teils hoffte die Raubsucht gerade hier die reichste Beute zu finden, teils spornte Mordlust und Ehrgeiz die Jünglinge zum hitzigsten Wetteifer an, wer zuerst den König töten und seine noch übrigen Töchter als Sklavinnen heimführen würde. Man wirft Leitern an die Mauern und klimmt mit vorgehaltenem Schilde hinauf. Mancher ergreift schon den obersten Balken, um sich keck hinaufzuschwingen, wird aber noch zu rechter Zeit von einem mutigen Troer hinabgestoßen. Andern ist es gelungen, und diese sind schon oben mit den Verteidigern im Handgemenge. Unten eilen die Anführer geschäftig hin und her und feuern mit lautem Zuruf die ihrigen zu beharrlicher Tapferkeit an.
Auch Äneas hält es für das Beste, sich unter die Verteidiger auf der Zinne des Hauses zu begeben. Er kennt einen geheimen Eingang an der hintern Seite des Hauses, der vom Feinde noch nicht besetzt ist. Von da führt eine enge Treppe zu einem Turme hinauf. Diese ersteigt er mit einigen Gefährten in größter Eile, und kaum ist er oben, so reißt er mit mächtiger Hand das Mauerwerk des Turmes ein und wälzt Tod und Verderben auf die Häupter der Griechen. Aber mit all seinen Würfen konnte er doch das Schilddach nicht durchbrechen, welches soeben ein Haufen auserlesener Griechen über dem Neoptolemos gebildet hatte, der nun unter dem Schutze desselben mit gewaltigen Axtschlägen eine Thür des Hauses zu spalten versuchte, um dadurch allen übrigen einen Eingang zu eröffnen. Es gelingt dem Rasenden, denn er hatte seines Vaters Kräfte geerbt. Kaum war die erste Öffnung gemacht, so griffen alle Gefährten an und brachen mit vereinter Kraft das Gemäuer heraus. Und nun ward das Innere des Hauses sichtbar; aber es war leer; die Bewohner desselben hatten sich geflüchtet. In dem innersten Hofe hatten sie sich alle um einen Altar geschart, auf dem sie den Göttern noch in der letzten Not ein Opfer gebracht hatten. Da die Wüteriche die Unglücklichen nicht sogleich fanden, so durchsuchten sie die vorderen Gemächer nach Schätzen, und Menelaos und Agamemnon, vor allem aber Achilleus' Sohn wehrten an den Eingängen die treuen Trojaner ab, welche jetzt das Dach verlassen hatten, um ihren König mit ihren Leibern zu beschützen. Auch ließen diese nicht eher ab, als bis sie selbst alle auf der Schwelle hingestreckt lagen, zu deren Verteidigung sie herbeigeeilt waren.
Einer dieser Tapferen war Polites, des Priamos jüngster Sohn, der gern für seiner Eltern Leben das seinige hingeben wollte. Als aber des wilden Neoptolemos Lanze ihn tötlich verwundet hatte, da trieb der Schmerz den zarten Jüngling zur Flucht, und hinwegspringend über die Leichen seiner Freunde, eilte er durch die wohlbekannten Thüren von Gemach zu Gemach, bis er den eng umbauten Hof erreichte, in welchem ihres Schicksals gewärtig sein Vater, seine Mutter und die geängsteten Schwestern dicht um den Altar zusammengedrängt saßen, auf dem soeben die Opferflamme erloschen war. Aber nur bis hierher reichte der Rest seiner Lebenskraft; er hatte seinen alten Vater noch einmal gesehen, um vor dessen Augen seinen Geist auszuhauchen. Hinter ihm her stürzte sein Verfolger mit blutiger Lanze. Die Unglücklichen, noch durch des sterbenden Bruders Anblick im Innersten erschüttert, schauderten zusammen, da sie jetzt das Ärgste kommen sahen. Welche Scene! Neoptolemos selber hielt einen Augenblick inne. Nur des Greises ohnmächtiger Zorn erweckte in ihm wieder die frühere Wut. »Verwegener Bube!« schrie ihn der von seines Sohnes Blut zur Rache entflammte Vater an, »mögen dich die Götter verderben für deinen Frevel, der des Sohnes vor den Augen der Eltern nicht schont und den väterlichen Altar mit Blut besudelt! Ha, wenn noch irgend im Himmel ein Rächer lebt, so wirst du deinem Schicksal nicht entgehen! Wahrlich, dein Vater war ein harter Mann, aber mein Jammer rührte ihn doch, so daß er mir meine Bitte gewährte und den Hektor herausgab, wie fest er's auch verschworen hatte. Er bereitete mir bei sich ein Lager zur Nacht und entließ mich am Morgen sicher in meine Heimat. Du aber bist nimmer sein Sohn; so unähnliche Kinder zeugt ein braver Vater nicht! Stirb, Schändlicher, von meiner Hand!« Er warf einen Speer nach ihm, aber die kraftlosen Arme versagten ihm den Dienst, und der Speer prallte matt von der Rüstung des Jünglings ab.
Neoptolemos, noch mehr gereizt durch That und Rede des Greises, sprang auf ihn zu, ergriff mit der Linken den Schopf des grauen Haares, riß ihn daran zu Boden und hieb mit einem raschen Schwertstreich das ehrwürdige Haupt herunter. Da fiel der Rumpf am Altar nieder, und aus dem Halse quoll ein Strom schwarzen Blutes hervor und überschwemmte den Boden. »Wohlan, Alter«, rief der trotzige Sieger, indem er den Kopf auf den Altar stellte, »melde es nun meinem Vater, wie entartet sein Sohn ist!«
Bewußtlos lagen die unglücklichen Weiber während dieser unmenschlichen Scene auf dem Boden: die alte Hekabe und ihre Töchter und die Gattinnen ihrer erschlagenen Söhne, nur die edle Andromache, ihren lieblichen Knaben Astyanax fest in die Arme drückend, saß starr wie eine Bildsäule in einem Winkel. Neoptolemos rief seine Gefährten herbei. Es kamen die Anführer Menelaos, Agamemnon, Idomeneus und wer sonst in der Nähe war, und jeder ergriff die, welche von den jungen Frauen ihm zunächst lag, band ihr die Hände und übergab sie seinen Begleitern, um sie gefangen nach den Schiffen zu führen. So ward an der armen Andromache erfüllt, was das ahnende Herz ihr schon weissagte, als sie von ihrem geliebten Hektor den letzten Abschied nahm. Ihr Sohn Astyanax ward auf Odysseus' Rat von der Mauer geschleudert, sie selbst ward dem Neoptolemos zu teil, und Kassandra Agamemnons Beute. Das schrecklichste Schicksal aber stand der jungfräulichen Polyxena, einer der jüngsten Tochter des Priamos, bevor; sie ward auf Befehl eines Orakels zur Erlangung einer glücklichen Rückfahrt auf Achills Grabhügel den Göttern geopfert! Der Schrecken dieses Anblicks kostete der unglücklichen Mutter, die gleichfalls in Sklavenfesseln daneben stand, das Leben. Äneas, noch immer bemüht, die Griechen von der Seite des Gebäudes, auf der er stand, abzuwehren, erfuhr endlich mit Grausen, was ihnen endlich auf der andern Seite gelungen sei. Der Fall des ehrwürdigen Königs rief ihm das graue Haupt seines eigenen Vaters Anchises ins Gedächtnis, den er unbeschützt zurückgelassen hatte, und der jetzt vielleicht ebenso das Opfer eines Mörders geworden sein konnte. Er dachte an Krëusa, an seinen geliebten Knaben Askanios, und das geängstigte Herz schlug ihm vor Verlangen sie zu sehen. Er verläßt die unglückseligen Ruinen, für die nun alle Hoffnung verloren ist, und eilt seinem Hause zu. Der Weg dahin führt ihn an dem Tempel der Hestia (Vesta) vorüber, dessen Inneres von dem Widerscheine der brennenden Stadt fast ganz erhellt war. Er wirft einen Blick durch die länglichen Fensteröffnungen und sieht hinter dem Altar ein weißes Gewand schimmern; ihn treibt die Sorge, näher zu gehen, und siehe! es ist Helena, die unselige Urheberin des ganzen langen Unheils, die sich hierher geflüchtet hatte, um der Wut der Troer zu entgehen und zuletzt vielleicht mit den siegreich heimkehrenden Griechen nach ihrem Vaterlande zurückzusegeln. Unwillkürlich fährt dem Äneas die Hand ans Schwert. »Ha!« denkt er, »sie sollte ungestraft entrinnen, indes um ihretwillen die ganze Stadt zu Grunde geht? und während die edelsten der Troerinnen als Sklavinnen übermütiger Sieger aus der Heimat weggeführt werden, sollte sie ihr väterliches Sparta wiedersehen und in Sparta als Königin im Triumphe einziehen? Nein nimmermehr! So gering auch der Ruhm ist, ein schwaches Weib getötet zu haben, so wird man mich doch loben, daß ich gerechte Rache geübt und die Verbrecherin gestraft habe.« Eben wollte er über die Schwelle des Tempels schreiten, als auf einmal in hellem Strahlenglanze, so schön als er sie noch nie gesehen, Aphrodite, seine göttliche Mutter, vor ihm stand. Er fuhr zurück, stand dann einige Augenblicke in Staunen versunken und vernahm zuletzt in wunderbar ans Herz dringenden Lauten die Mahnung:
»Sohn, welche unzeitige Raserei ergreift dich? vergissest du Vater und Weib und Kind über diese? Nicht sie hat schuld an diesem Jammer: der Götter Wille hat Trojas Untergang beschlossen! Gehe und versuche nichts weiter mit Gewalt, nichts zur Rettung oder zur Rache! Du wirst das unwiderrufliche Schicksal nicht mehr abwenden. Fliehe und lebe, mehr für die Deinen, als für dich selbst!«
Nach diesen Worten verschwand die Göttin wieder. Und Helena war gerettet und fiel dem Menelaos wieder zu, bei dem ihre siegreiche Schönheit alsbald jeden Gedanken einer Rache und Strafe an der Treulosen zu Schanden machte.