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»Weil ich öfters Gelegenheit gehabt habe«, fuhr der Lehrer fort, »der Thaten des Theseus in meinen andern Erzählungen zu gedenken, so glaube ich, können wir von einer weitern Schilderung derselben absehen. Das meiste davon ist ohnehin Erfindung der Dichter, und das wirklich Geschichtliche darin läßt sich ganz kurz etwa so zusammenfassen: Theseus war ein begabter Held, wie Herakles, der nicht bloß durch Tapferkeit, sondern auch durch neue Gedanken, durch Verbesserungen in den geselligen Verhältnissen und durch zweckmäßige bürgerliche Einrichtungen auf seine Zeitgenossen wohlthätig gewirkt hat. Da er besonders den Athenern angehörte, so haben ihn diese als ihren Nationalhelden auch immer vorzüglich erhoben und ihn in Trauerspielen und andern Gedichten verherrlicht. Da fehlte es denn natürlich auch in seiner Geschichte nicht an kühnen Abenteuern.«
»O, die müssen Sie uns erzählen!« bat Wilhelm.
»Nun, wenn du meinst. Wohlan denn!«
Die Landschaft Attika, deren Hauptort die in der Folge so berühmt gewordene Stadt Athen war, ward etwa zwanzig Jahre vor dem Argonautenzuge von einem Könige, Namens Ägeus, beherrscht, der als der älteste von den vier Söhnen seines Vaters Pandion den Thron bestiegen hatte. Dieser hatte schon die zweite Gemahlin, aber noch keine Kinder. Das betrübte ihn sehr; denn er sah nun schon im Geiste voraus, wie seine Brüder sich vielleicht noch bei seinem Leben in seine Güter teilen und ihn, wenn er alt und schwach geworden, der Herrschaft berauben würden. Da fiel er auf eine List. Ich will insgeheim einen dritten Ehebund schließen, dachte er; vielleicht daß mir die Götter auf diesem Wege endlich einen Erben schenken. Unter einem erdichteten Vorwande trat er hierauf eine Reise nach dem Peloponnes an und kehrte bei seinem Gastfreunde Pittheus ein. Dieser, ein Sohn des Pelops, war Beherrscher von Trözene und hatte eine Tochter Namens Äthra. Ägeus eröffnete demselben seinen geheimen Plan und bat ihn um seinen Rat, ja er wagte es um die Hand der Äthra zu werben.
In der That ein seltsames Ansinnen! Ägeus, der daheim schon eine Gattin hatte, wollte hier noch eine zweite nehmen, bald nach der Hochzeit wieder nach Athen zurückreisen und seine neue Gemahlin bei ihrem Vater zurücklassen. Gewiß würden auch weder Vater noch Tochter dazu gestimmt haben, hätte nicht dem Pittheus ein Orakel verkündigt, seine Tochter werde übel verheiratet, aber Mutter eines berühmten Sohnes werden. Das bewog ihn auf gut Glück einzuschlagen, und so ward die Vermählung in aller Stille vollzogen. Ägeus verweilte hierauf nur wenige Tage noch in Trözene und schickte sich dann zur Abreise an. Ehe er aber sein Schiff bestieg, ging er mit Äthra an die einsame, klippenstarrende Meeresküste und hob mit starken Händen einen Felsblock auf, indem er sein Schwert und seine Sandalen darunter legte.
»Seine Sandalen?« fragte Julius.
»Nun ja, du wirst dich erinnern, daß die Griechen keine Schuhe oder Stiefel nach unserer Art trugen, sondern sich einfache Sohlen (das heißt eben Sandalen) unter die Füße banden.« »Sieh, Äthra«, sprach Ägeus zu ihr, »wenn dir ein Sohn heran wächst und er wird stark wie ich, so führe ihn hierher an diesen Stein und laß ihn denselben aufheben. Kann er das, dann erst sage ihm, wer sein Vater ist, und sehe ich dann einmal einen Jüngling in diesen Sohlen und mit diesem Schwerte gegürtet zu mir kommen, so werde ich ihn mit Freuden für meinen Sohn erkennen.«
Äthra versprach das und trennte sich mit traurigem Herzen von ihrem neuen Gemahl. Dieser kam bald darauf glücklich wieder in Athen an und ließ gegen niemand merken, wo er gewesen war.
Der starke Knabe erschien indessen, wie es das Orakel dem Pittheus verheißen hatte. Dieser nannte ihn Theseus und erzog ihn mit der größten Sorgfalt zu allen jenen Künsten körperlicher Kraft und Gewandtheit, die damals den Mann schmückten und ehrten. Theseus wuchs zu einem schönen und klugen Heldenjünglinge heran, und sein Anblick allein tröstete die Mutter über die Öde eines ehrlosen und einförmigen Lebens im väterlichen Hause, das auch nicht durch einen einzigen Besuch ihres fernen Gemahls unterbrochen ward.
Als Theseus seine volle Manneskraft erreicht hatte, äußerte er das lebhafteste Verlangen die Welt zu sehen und sich in Abenteuern zu versuchen. Dazu feuerten ihn besonders die Reden und die Riesengestalt des Herakles an, der oft auf seinen Zügen bei dem gastfreundlichen Pittheus einzukehren pflegte und sich mehrmals über den Ehrgeiz des kühn aufstrebenden Knaben mit Beifall geäußert hatte. Damals stand dieser Held schon auf der Höhe seines Ruhms und war, wohin er kam, ein Gegenstand der allgemeinen Bewunderung. Ihn beschloß der junge Theseus zu seinem Vorbilde zu nehmen, und da er ihm wirklich in der Kraft der Muskeln und in der Festigkeit der Glieder nahe kam, nur daß die vieljährige Übung ihm noch abging, so hoffte er desselben nicht lange unwürdig zu erscheinen.
Als seine zärtliche Mutter ihn zuletzt nicht länger halten konnte, führte sie ihn zu dem großen Steine hin, unter welchem Ägeus vor zwanzig Jahren sein Schwert und seine Sandalen verborgen hatte. Hier sollte die Stärke des Sohnes erprobt werden. Mit Leichtigkeit wälzte Theseus den Felsblock weg, gürtete das Schwert um seine Schultern und band die Sohlen unter seine Füße. Nun zeigte die Mutter ihm die Stelle am Ufer, von welcher sein Vater damals abgesegelt war, zeigte ihm die Richtung des Seeweges nach Athen und empfahl ihn dem Schutze der Götter.
Aber der kühne Jüngling verwarf den vorsichtigen Rat zur See nach Attika zu reisen. Das hätte ja das Ansehen gehabt, als scheue er, was er eben suchte: Abenteuer und Gefahr. Nein, gerade weil damals der Weg durch Argolis und den waldigen Isthmos wegen einzelner ihn durchstreifenden Räuberhorden so verrufen war, wollte er diesen gehen und versuchen, ob er sich nicht, wie Herakles, das Verdienst erwerben könne, solche unsichere Schlupfwinkel von ihren furchtbaren Bewohnern zu säubern. Denn alle Wunderthaten des Herakles beiseite gesetzt ward ja dieser Held eben dadurch der Wohlthäter seines Vaterlandes, daß er dasselbe von ungerechten Menschen und von wilden Tieren befreit hatte. Beides machte daher Theseus gleichfalls zur Aufgabe seines Lebens.
Sogleich auf der ersten Tagereise fand er Gelegenheit seinen Mut in Thaten zu bewähren. Auf dem Grenzgebirge zwischen Trözene und Epidauros wohnte nahe an der Straße ein übermütiger Unhold, mit Namen Periphetes, der allen Vorübergehenden mit einer eisenbeschlagenen Keule auflauerte und sie niederschlug. Theseus, wohlgewarnt, durchsuchte die Gegend vorsichtig, und als er ihn erblickte, forderte er ihn laut zum Kampfe heraus. Der Wilde kam trotzig hervor und schwang seine furchtbare Waffe über ihm, aber ehe er sie niederschmettern konnte, war ihm schon des Jünglings scharfes Schwert in den Leib gefahren, so daß er laut stöhnend zurücktaumelte und rücklings zur Erde niederstürzte. Freudig steckte Theseus sein Schwert in die Scheide und ergriff die Keule des Periphetes, um sie zum Andenken an seinen ersten Sieg mit sich zu nehmen.
Indem er gutes Mutes weiter ging, kam er in bewohntere Gegenden, in welchen er schreckliche Geschichten von einem andern Räuber hörte, den die Leute nur schlechtweg den Fichtenbeuger ( Pityokamptes) oder auch wohl Sinis (den Bösewicht) nannten. Er hatte eine Höhle am Eingange zur korinthischen Landenge, und da er selbst so übermäßig stark war, daß er zwei hohe nebeneinanderstehende Fichten mit seinen Armen umspannen und ihre Wipfel zusammenbeugen konnte, so verlangte er unter Androhung des Todes von jedem Vorüberreisenden, ihm das Kunststück nachzumachen, und konnte dieser es nicht, so hängte er ihn an einer der Fichten auf. Theseus hatte bis jetzt außer dem Herakles noch keinen Mann gesehen, der ihm an Stärke gleich gekommen wäre, und brannte vor Begier sich mit diesem Riesen zu messen. Er kam, sah die schlanken Bäume und schloß sie so fest zusammen, daß ihre Spitzen sich durchkreuzten. Da erblaßte Sinis zum erstenmale in seinem Leben, er ahnte die nahe Rache, und in der That packte ihn gleich darauf Theseus und hängte ihn an einen der beiden Stämme dem letzten Unglücklichen gegenüber, den seine Grausamkeit auf die nämliche Weise ums Leben gebracht hatte. Nach einer andern Erzählung bestand des Sinis Grausamkeit darin, daß er die Fremden zwischen zwei zur Erde niedergebeugten Fichten festzubinden und von den wieder zurückschnellenden Bäumen zu seiner Belustigung zerreißen zu lassen pflegte. Durch dieselbe Todesart ließ ihn Theseus für seine früheren Frevel büßen. Nach einer dritten Überlieferung zwang er die Wanderer mit ihm eine Fichte niederzubeugen, worauf er plötzlich losließ, so daß jene zerschmettert wurden.
Hierauf zog Theseus weiter, indem er sich zunächst gegen einige Eber wendete, welche die zerstreuten Äcker der damals noch sparsamen Bewohner des Isthmos schon lange verwüstet hatten. Solch ein Jäger war in diese Gegend bisher nicht gekommen. Die Einwohner dankten ihm herzlich als ihrem Wohlthäter und bewirteten ihn, wie billig, mit den besten Stücken der schönen Wildbraten, die er ihnen verschafft hatte.
Zwischen Korinth und Megara ging ein Weg an einem Felsenabhange hin, an welchem tief unten im Grunde das Meer vorüberflutete. Auch vor diesem engen Passe warnte man den Theseus; denn auch dort lauerte ein Riese. Er hieß Skiron und stürzte die arglos vorüberziehenden Wanderer plötzlich, nachdem er sie gezwungen vor ihm niederzuknieen und seine Füße zu waschen, von dem Felsenrande ins Meer hinab. Die Einwohner beschworen den Theseus doch ja einen andern Weg zu nehmen; aber wäre eine solche Vorsicht nicht Furchtsamkeit, wäre sie nicht eines Helden unwürdig gewesen? Nach einem langen Kampfe fand auch Skiron in denselben Fluten seinen Tod, in welche er so manchen Reisenden hinabgeworfen hatte.
Ich übergehe einen andern Kampf, zu welchem Theseus von dem Kerkyon, einem Sohne des Hephästos, in der Nähe von Eleusis herausgefordert ward, und nenne nur noch den einen, in welchem er den Damastes, der unter dem Namen des Ausrenkers (Prokrustes) berüchtigt war, für seine Grausamkeiten büßen ließ. Dieser Barbar wohnte am Ufer des Kephisos; zogen Fremdlinge vorüber, so lud er sie freundlich in seine Wohnung ein, bewirtete sie bestens, und wenn sie schlafen gehen wollten, führte er sie in eine Kammer, in der zwei eiserne Bettgestelle, ein großes und ein kleines, standen. War der Gast von kleiner Gestalt, so legte er ihn in das große Bettgestell, band ihn mit den Füßen fest an das untere Ende an, packte ihn dann am Kopfe und zerrte ihn so lange, bis der Scheitel das obere Ende berührte: eine Art von Folter, die wenige mit ihrem Leben überstanden. War der Gast dagegen groß, so warf er denselben in das kurze Bett und hackte ihm so viel von den Füßen ab, bis das Mißverhältnis gehoben war. Theseus, von dem Brauch des Unholds unterrichtet, kehrte freiwillig bei ihm ein, stellte sich schwach und schläfrig und ließ sich geduldig von dem Prokrustes in die Marterkammer führen. Dieser wies ihm sogleich das kurze Bett an und lauerte schon tückisch auf den Augenblick, da Theseus sich niederlegen würde. Aber zu seinem Schrecken fühlte er sich plötzlich umschlungen, aufgehoben und selbst auf jene Folterbank niedergedrückt. Kein Bitten half; der Kopf ward ihm mit den dazu vorhandenen Schlingen festgeschnürt, die Beine ausgestreckt und was hinausragte mit dem wohlbekannten Beile abgehauen. Dann, um die Marter zu endigen, gab ihm der Sieger durch einen Gnadenstoß den Tod.
So hatte Theseus den Weg nach Athen frei gemacht, und nachdem er bei dem Flusse Kephisos sich von dem vergossenen Blute hatte reinigen lassen, lenkte er seine Schritte der Stadt zu. Dort spotteten eben an einem Baue beschäftigte Arbeiter des jugendlichen, fast mädchenhaft gekleideten Helden, der allein umherstreiche. Aber augenblicklich spannt er die Stiere von ihrem mit Steinen beladenen Lastwagen und wirft den Wagen samt der Ladung zu allgemeinem Erstaunen hoch in die Luft.
Als Theseus in Athen ankam, fand er die Bürgerschaft im größten Hader und Zwiespalt. Ägeus, sein Vater, war zum schwachen Greise geworden, und da er keinen Sohn neben sich hatte, der sein Ansehen hätte schützen können, sah er sich allen Kränkungen seiner Brüder und ihrer frechen Söhne preisgegeben. Besonders hatten die Söhne seines Bruders Pallas, die Pallantiden genannt, einen sehr mächtigen Anhang im Volke, vermöge dessen sie nicht bloß nach Ägeus' Tode dessen Herrschaft an sich zu reißen hofften, sondern wirklich schon jetzt bei seinem Leben eigenmächtiger in der Stadt schalteten als jener selbst. Mit welchen Augen diese Menschen einen Königssohn betrachten mußten, von dessen Dasein sie bis jetzt nicht das mindeste geahnt hatten, könnt ihr denken. Dem alten Ägeus war dagegen diese Erscheinung eine Hilfe vom Himmel; er erkannte den rüstigen Jüngling sofort an dem Schwerte und den Sohlen als seinen Sohn, und stellte ihn den Athenern als seinen einzigen Erben vor.
Aber darauf erfolgten unruhige Auftritte. Kaum entgingen Vater und Sohn der Wut der Pallantiden und ihrer mächtigen Partei. Theseus, ehe er sich jenen als Feind entgegenstellte, wollte sich lieber erst den Bürgern als Freund und Wohlthäter zeigen. Ein grimmiger Auerochs wütete damals gerade in den Feldern von Marathon, indem er oft sogar bis in die Nähe von Athen kam und viele Menschen, besonders Kinder, zu Boden rannte. Die Landbebauer fürchteten dieses Untier gerade so, wie man den nemeischen Löwen oder den erymanthischen Eber gefürchtet hatte, und viele hielten es für unverwundbar. Diesen sogenannten marathonischen Stier nahm sich nun Theseus zum Ziele seiner Tapferkeit. Er zog gegen ihn aus, griff ihn mit dem Wurfspieß an und begann im Angesicht vieler hundert Zuschauer einen Kampf mit ihm, in welchem diese ebensosehr seinen Mut und seine Stärke als seine Gewandtheit bestaunen mußten. Zuletzt gelang es ihm, dem wilden Ur eine Kette um die Hörner zu schlingen und ihn gebändigt in die Stadt zu führen. Dieser Anblick war zu gewaltig und überraschend, um nicht dem wunderbaren Fremdlinge viele Herzen zu gewinnen und ihn wider alle Verunglimpfungen seiner Feinde zu sichern.
Aber bald kam noch günstigere Gelegenheit den Athenern einen wichtigen Dienst zu leisten. Der mächtige König Minos in Kreta hatte vor mehreren Jahren einmal seinen Sohn Androgeos nach Attika gesandt, und dieser war daselbst ermordet worden, aus Neid, sagte man, weil er in den Wettkämpfen alle Athener besiegt habe. Der bekümmerte und erzürnte Vater hatte alle Mittel in Händen, das damals noch machtlose und schwach zusammengehaltene athenische Volk seine schwere Rache empfinden zu lassen. Er kam mit vielen Schiffen an die attischen Küsten, überrumpelte Megara, zerstörte es und schloß darauf auch Athen selbst ein. Indessen hatte die Stadt schon Mauern und litt durch die Belagerung nicht viel, weil es damals noch an jeder Art von Zerstörungsmaschinen fehlte. Allein nun riß die Pest ein und erfüllte die Bürger mit Schrecken. Der Aberglaube führte hier abermals zu unmenschlichen Rettungsmitteln. Ein Lakedämonier, Hyakinthos mit Namen, hatte sich mit vier Töchtern in Athen niedergelassen. Vielleicht um ihrer fremden Abkunft willen manchem verhaßt, wurden diese armen Mädchen durch einen Ausspruch der Priester verdammt, den Göttern als Sühnopfer lebendig geschlachtet zu werden. Es geschah, aber das schreckliche Mittel that seine Wirkung nicht. Die Priester wurden noch einmal befragt und gaben nun den Rat, man solle die Stadt dem Minos übergeben und sich gehorsam der Strafe unterwerfen, die dieser selbst bestimmen werde. Das geschieht, und Minos verlangt nun von den Athenern, daß ihm nach Ablauf von je sieben Jahren sieben der schönsten Knaben und sieben edle Jungfrauen als Opfer für den Minotauros überliefert würden.
»Ihr erinnert euch dieses Ungeheuers, das halb Stier, halb Mensch in den Höhlengängen des Labyrinthes hauste, und jenes Fadens, welchen Ariadne dem Theseus reichte und der den Helden wieder zum Lichte zurückführte.«
»Der Minotauros ist freilich nur ein Gebilde der Sage; daß aber Minos von den Athenern sich einen Tribut von vierzehn Sklaven zu Opfern ausbedungen, das entsprach den Sitten jener Zeiten. Er wollte vermutlich eben die Athener auf eine möglichst beschimpfende und grausame Art an ihre Abhängigkeit erinnern. In gleicher Weise haben die Erzählungen von dem Labyrinthe einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit. Denn wenn zwar mehrere alte Schriftsteller behauptet haben, daß zu ihrer Zeit keine Spur desselben mehr aufzufinden gewesen sei, so scheinen sie doch zu wenig über die Örtlichkeiten der Insel Kreta unterrichtet gewesen zu sein. Noch jetzt zeigt man in der Nähe der Stadt Gortyne eine Höhle mit unzähligen Gängen, die von denen, welche die Natur selbst geformt hat, sich allerdings sehr wesentlich unterscheiden. Ihre geregelten Linien, ihre wagerechte Richtung, ihre fast gleichmäßige Höhe und die geglätteten Wände und Pfeiler, Nischen und Sitze stellen es außer Zweifel, daß dieser unterirdische Bau ein Werk der Menschen ist. Die Natur mag den Grund gelegt haben, aber Menschen erweiterten und ebneten die engen Gänge, höhlten die Säle aus und setzten sie miteinander in Verbindung. Noch jetzt läuft man Gefahr sich jeden Augenblick in denselben zu verlieren, und selbst mit der Magnetnadel in der Hand ist es schwierig den Ausgang zu gewinnen. Der Grund davon liegt, wie ein neuer Reisender erzählt, Prokesch von Osten, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen aus dem Orient, I. Bd. S. 614. Vergleiche auch Hoecks Kreta Th. I. S. 56 fgg. in den unmerklichen Wendungen, welche die Gänge nehmen; er liegt ferner in der Ähnlichkeit dieser Gänge und ihrer Öffnungen, welche dem Auge selbst jedes kleine Unterscheidungszeichen verbirgt; endlich in der Menge dieser Pfade und
alle aufgefunden sind. Die Heldenthat des Theseus, die ihr schon kennt, bestand eben darin, daß er durch seine Tapferkeit den Minos zwang von dem Tribute abzustehen. Das Geschichtchen von der schönen Ariadne und ihrem langen Faden geht dann als poetische Zugabe mit drein. Spätere Erklärer haben in dieser Sage ein Sinnbild der wilden Triebe gefunden, welche den rohen Naturmenschen beherrschen; der Faden der Ariadne sei die Stimme des Bessern, sei der himmlische Genius, der gottentstammte Geist, der dem Körper beigesellt ist; das Labyrinth stelle das Leben selbst dar, Theseus aber sei der edle Mensch im Siege über die Außen und Innenwelt. Die Auslegung ist nicht ungesucht, doch immerhin lehrreich.«
So hoch erwünscht auch dem alten Ägeus die glückliche Vollendung des kühnen Unternehmens hätte sein müssen, so war ihm doch diese Freude nicht beschieden. Eine verhängnisvolle Vergeßlichkeit des Steuermanns, der das Schiff des Theseus leitete, betrog ihn darum. Mit diesem hatte nämlich der greise König verabredet, er solle, wenn das Abenteuer übel geendet, mit demselben schwarzen Segel heimkehren, mit welchem er (als Überbringer des traurigen Tributs) abgesegelt war; habe aber sein Sohn gesiegt, so solle er ein weißes Segel aufstecken, damit es ihm schon von weitem den glücklichen Ausgang verkünde. Der Steuermann hatte sein Versprechen vergessen, und der Greis, der Tag und Nacht auf einer Felsenspitze harrend, endlich von Kreta her ein schwarzes Segel herannahen sah stürzte sich in dem Wahne, es melde ihm den Tod des Sohnes, verzweifelnd ins Meer hinab.