Edward Bellamy
Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887
Edward Bellamy

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Zwölftes Kapitel.

Die Fragen, welche ich zu stellen hatte, ehe ich auch nur eine oberflächliche Kenntnis der Einrichtungen des zwanzigsten Jahrhunderts erwerben konnte, waren unendlich, gleich Dr. Leetes Güte, und so blieben wir, nachdem die Damen sich zurückgezogen hatten, noch mehrere Stunden lang auf. Indem ich meinen Wirt an den Punkt erinnerte, bei dem wir unser Gespräch jenen Morgen abgebrochen hatten, drückte ich meinen Wunsch aus zu erfahren, wie die Organisation des Arbeiterheeres eingerichtet sei, um den Eifer des Arbeiters anzuspornen, nachdem jede Sorge um seinen Lebensunterhalt beseitigt sei.

»Sie müssen zunächst wissen,« erwiderte der Doktor, »daß, Beweggründe zu angestrengter Thätigkeit zu liefern, nur der eine der Zwecke ist, welche wir bei der, für das Heer angenommenen Organisation verfolgen. Der andere und ebenso wichtige ist der, für die niederen und höheren Offizierstellen und für die hohen nationalen Ämter Männer von erprobter Tüchtigkeit zu gewinnen, in deren eigenem Interesse es liegt, ihre Untergebenen zur höchsten Anspannung ihrer Kräfte anzuhalten und keine Trägheit zu dulden. Mit Rücksicht auf diese beiden Ziele ist das Arbeiterheer organisiert. Zuerst kommt der nicht weiter eingeteilte Grad der gewöhnlichen Arbeiter, Männer jedes Gewerbes. Zu diesem Grade gehören alle Rekruten während ihrer drei ersten Jahre. Dieser Grad ist eine Art Schule und zwar eine sehr strenge, in welcher die jungen Leute an Gehorsam, Unterordnung und Hingabe an die Pflicht gewöhnt werden. Obwohl die Verschiedenartigkeit der Arbeiten, welche von diesen Mannschaften geleistet werden, ein systematisches Aufsteigen der Arbeiter, welches später möglich ist, nicht erlaubt, so wird doch über die Leistungen jeder Person Buch geführt, und die besondere Tüchtigkeit erhält ihre Auszeichnung, während die Nachlässigkeit ihre Strafe findet. Wir halten es jedoch nicht für weise, zu gestatten, daß jugendliche Sorglosigkeit oder Unbesonnenheit, falls sie keine erheblichere Schuld einschließt, die künftige Laufbahn der jungen Leute schädige; und allen, welche jenen ersten Grad ohne ernstliche Vergehen durchgemacht haben, steht in gleicher Weise die Wahl des Lebensberufes, für den sie die meiste Neigung haben, offen. Nachdem sie einen Beruf erwählt haben, treten sie als Lehrlinge in denselben ein. Die Länge der Lehrzeit ist natürlich in den verschiedenen Gewerben verschieden. Nach Ablauf derselben wird der Lehrling ein voller Arbeiter und selbständiges Mitglied seines Gewerbes. Während der Lehrzeit wird nicht nur das Zeugnisbuch für einen jeden fortgeführt und darin seine Fähigkeit und sein Fleiß genau vermerkt, auch besondere Tüchtigkeit durch angemessene Auszeichnungen belohnt, sondern es hängt auch von der Durchschnittsbeschaffenheit des Zeugnisbuches während der Lehrzeit der Rang ab, den er unter den vollen Arbeitern erhält.

»Obwohl die innere Organisation der verschiedenen Gewerbzweige in Industrie und Ackerbau der Eigentümlichkeit ihrer besonderen Bedingungen gemäß verschieden ist, stimmen sie doch in der allgemeinen Einteilung ihrer Arbeiter, je nach ihrer Fähigkeit, in solche ersten, zweiten und dritten Grades überein; und in vielen Fällen sind diese Grade noch in eine erste und eine zweite Klasse eingeteilt. Gemäß seinen Leistungen als Lehrling erhält der junge Mann den Rang als Arbeiter ersten, zweiten oder dritten Grades. Natürlich gehen nur junge Leute von ungewöhnlichen Fähigkeiten von dem Lehrlingsgrade sogleich zum ersten Grade der Arbeiter über. Die meisten kommen in die unteren Grade und steigen erst, wenn sie erfahrener werden, in den periodisch wiederkehrenden neuen Feststellungen der Rangordnung aufwärts. Diese letzteren finden in jedem Gewerbzweige in Zwischenräumen statt, welche der Länge der Lehrzeit in jenem Gewerbe entsprechen, sodaß das Verdienst nie lange zu warten braucht, bis es emporkommt, und andererseits niemand auf seinen vergangenen Leistungen ausruhen kann, wenn er nicht zu einem niederen Range hinabsinken will. Ein besonderer Vorteil eines hohen Grades ist das Recht, welches derselbe dem Arbeiter verleiht, sich innerhalb der verschiedenen Zweige oder Verrichtungen seines Gewerbes eine Specialität auszuwählen. Man beabsichtigt natürlich nicht, daß irgend eine dieser Verrichtungen unverhältnismäßig schwer sei; dennoch aber besteht oft ein großer Unterschied zwischen ihnen, und das Recht der Wahl derselben wird demgemäß sehr hochgeschätzt. So weit wie möglich werden zwar selbst die Neigungen des schlechtesten Arbeiters bei der Zuweisung der ihm obliegenden Arbeit berücksichtigt, weil nicht nur sein Glück, sondern auch der Nutzen, den er leistet, dadurch erhöht wird. Aber obwohl auch die Wünsche der Arbeiter eines niederen Grades Berücksichtigung finden, soweit die Anforderungen des Dienstes es gestatten, so geschieht dies doch erst dann, wenn für die Arbeiter der höheren Grade gesorgt worden ist; und so müssen sie oft mit einer, ihnen erst an zweiter oder dritter Stelle zusagenden Wahl vorlieb nehmen, oder es wird ihnen sogar ohne weiteres direkt eine Arbeit übertragen, wenn dies nötig wird. Dieses Wahlrecht tritt bei jeder neuen Feststellung des Ranges in Kraft; und wenn jemand seinen Rang verliert, so läuft er auch Gefahr, die Art Arbeit, welche er liebt, mit einer anderen vertauschen zu müssen, welche ihm weniger gefällt. Die Resultate jeder solchen Neuordnung, welche den Rang eines jeden in seinem Gewerbe angeben, werden in den öffentlichen Zeitungen bekannt gemacht, und diejenigen, welche seit der letzten Neuordnung befördert worden sind, empfangen den Dank der Nation und werden öffentlich mit den Zeichen ihres neuen Ranges belohnt.«

»Was sind das Wohl für Zeichen?« fragte ich.

»Jedes Gewerbe hat sein besonderes Sinnbild,« erwiderte Dr. Leete, »und dieses in Form einer Medaille, die so klein ist, daß man sie übersehen kann, wenn man nicht weiß, an welcher Stelle sie zu suchen ist, ist das einzige Abzeichen, welches die Männer des Arbeiterheeres tragen, außer wo das öffentliche Interesse eine bestimmte Uniform verlangt. Dieses Zeichen ist der Form nach für alle Grade eines Gewerbes gleich; aber während das Zeichen des dritten Grades von Eisen ist, ist das des zweiten von Silber und das des ersten von Gold.

»Abgesehen von dem gewaltigen Antriebe, sich anzustrengen, welcher durch die Thatsache hervorgerufen wird, daß die hohen staatlichen Ämter nur den Männern des ersten Grades zugänglich sind, und daß für die große Mehrzahl, welche sich nicht der Kunst, der Litteratur und den gelehrten Berufen widmet, der Rang im Heere die einzige Art der socialen Auszeichnung bildet, werden noch verschiedene Anreize einer niederen, aber vielleicht ebenso wirksamen Art durch die besonderen Vorrechte und Freiheiten geschaffen, welche die Männer der höheren Klassen genießen. Während diese Vorrechte für die minder Erfolgreichen so wenig wie möglich gehässig sein sollen, haben sie doch die Wirkung, es jedem stets gegenwärtig zu halten, wie wünschenswert es ist, den nächsthöheren Grad zu erreichen.

»Es ist augenscheinlich von Wichtigkeit, daß nicht nur die guten, sondern auch die mittelmäßigen und die schlechten Arbeiter den Ehrgeiz nähren können, emporzusteigen. In der That, da die Anzahl der Letzteren so viel größer ist, so ist es sogar noch wesentlicher, daß unsre Rangordnung nicht darauf hinwirkt, sie zu entmutigen, als daß sie die anderen anfeuert. Zu diesem Zwecke sind die Grade in Klassen eingeteilt. Da nun die Grade sowohl wie die Klassen bei jeder Neuordnung numerisch gleich gemacht werden, so befindet sich, wenn man die Offiziere, die unklassifizierten Arbeiter und die Lehrlinge abzieht, niemals mehr als der neunte Teil des Arbeiterheeres in der untersten Klasse; und die meisten von dieser Zahl sind Leute, die eben erst ihre Lehrzeit beendigt haben und emporzusteigen erwarten. Diejenigen, welche während ihrer ganzen Dienstzeit in der untersten Klasse verbleiben, bilden nur einen verschwindenden Bruchteil des Arbeiterheeres, und man kann annehmen, daß sie hinsichtlich ihrer Stellung ebensowenig Empfindlichkeit haben wie Fähigkeit, sie zu verbessern.

»Es ist nicht einmal nötig, daß ein Arbeiter zu einem höheren Grade befördert wird, wenn er wenigstens ahnen soll, was Ruhm ist. Während zur Beförderung ein allgemein günstiges Zeugnis über seine Thätigkeit verlangt wird, werden gute Zeugnisse, welche zur Beförderung des Arbeiters noch nicht hinreichen, und ebenso auch besondere Handlungen und einzelne Leistungen in den verschiedenen Gewerben durch ehrenvolle Erwähnungen und mannigfache Arten von Preisen belohnt. Es giebt nicht nur innerhalb der Grade, sondern auch innerhalb der Klassen viele kleinere Rangunterschiede, von denen jede für eine Gruppe von Personen als Sporn dient. Man will, daß keine Form des Verdienstes ganz ohne Anerkennung bleibe.

»Was wirkliche Nachlässigkeit der Arbeit, positiv schlechte Arbeit und offenbare Trägheit von seiten solcher Menschen anbetrifft, die edlerer Motive nicht fähig sind, so ist die Disciplin im Arbeiterheere viel zu streng, als daß irgend etwas der Art geduldet werden könnte. Ein Mensch, der fähig ist, Dienst zu thun, sich dessen aber hartnäckig weigert, wird zu Isolierhaft bei Wasser und Brot verurteilt, bis er sich willig zeigt.

»Die niedrigsten Offiziersstellen unsres Heeres, die der Hilfsmeister oder Lieutenants, werden aus der Zahl der Personen besetzt, welche sich zwei Jahre lang in der ersten Klasse des ersten Grades behauptet haben. Wenn diese Zahl noch eine zu große ist, so ist nur die erste Gruppe dieser Klasse wählbar. Niemand gelangt so dazu, anderen zu befehlen, bis er gegen dreißig Jahre alt ist. Nachdem jemand Offizier geworden ist, hängt seine Beförderung natürlich nicht mehr von der Tüchtigkeit seiner eigenen Arbeit, sondern von der seiner Untergebenen ab. Die Meister werden aus der Klasse der Hilfsmeister ernannt, wobei wiederum eine kluge Auswahl aus einer beschränkten Zahl derselben stattfindet. Bei der Ernennung zu den noch höheren Graden wird ein anderes Prinzip eingeführt, welches Ihnen zu erklären zu viel Zeit beanspruchen würde.

»Natürlich würde ein solches Klassifizierungssystem, wie ich es beschrieben habe, in den kleinen Betrieben Ihrer Zeit nicht durchführbar gewesen sein; in einigen derselben waren ja kaum so viele Arbeiter, daß für jede Klasse eine einzige Person geblieben wäre. Sie dürfen nicht vergessen, daß unter der nationalen Organisation der Arbeit alle Gewerbe von großen Körperschaften betrieben werden. Auch haben wir es nur dem großen Maßstabe, in welchem alle Industrien organisiert sind, sowie dem Umstande zu verdanken, daß nebeneinander geordnete Etablissements in allen Teilen des Landes bestehen, daß wir imstande sind, durch Austausch von Stellen und Versetzungen, in einem solchen Umfange einem jeden die Art von Arbeit zu verschaffen, welche er am besten leisten kann.

»Und nun, Herr West, nachdem ich Ihnen einen allgemeinen Umriß unseres Systems gegeben habe, wollen Sie selbst entscheiden, ob diejenigen, welche besonderer Reizmittel bedürfen, um ihr Bestes zu thun, derselben in unsrer Heeresorganisation ermangeln. Scheint es Ihnen nicht, daß die Menschen, welche sich früher gezwungen sahen, zu arbeiten, ob sie es nun wünschten oder nicht, unter einem solchen System angespornt werden würden, ihr Bestes zu leisten?«

Ich erwiderte, mir schiene es, daß, wenn überhaupt eine Einwendung gemacht werden sollte, es die wäre, daß jene Reizmittel zu stark seien und einen zu heißen Wetteifer erzeugten. Und das ist in der That, möchte ich mit aller Achtung hinzufügen, noch jetzt meine Meinung, nachdem ich durch längeren Aufenthalt in dieser neuen Welt mit dem ganzen Gegenstande besser bekannt geworden bin.

Dr. Leete gab mir jedoch zu bedenken, – und ich bin bereit zuzugeben, daß dies vielleicht eine hinreichende Antwort auf meinen Einwand ist, – daß der Unterhalt des Arbeiters in keiner Weise von seinem Range abhängt und daher die Sorge um diesen seine Enttäuschungen niemals noch bitterer machen kann, daß ferner die Arbeitsstunden kurz sind, regelmäßig Ferien wiederkehren und aller Wetteifer mit dem fünfundvierzigsten Jahre, der Mitte des Lebens, aufhört.

»Um Mißverständnissen vorzubeugen.« fügte er hinzu, »sollte ich noch zwei oder drei Punkte erwähnen. Zunächst widerstreitet unser System, welches dem besseren Arbeiter vor dem weniger guten einen Vorzug einräumt, in keiner Weise der Grundidee unsrer Gesellschaftsordnung, daß alle, die ihr Bestes thun, gleiches Verdienst haben, ob dieses Beste nun groß oder klein sein möge. Ich habe Ihnen gezeigt, daß unser System so eingerichtet ist, daß es die Schwachen sowohl wie die Starken durch die Hoffnung auf Beförderung antreibt; während die Thatsache, daß die Stärkeren in die leitenden Stellungen kommen, durchaus keinen Tadel der Schwächeren ausdrückt, sondern eine Maßregel ist, welche das allgemeine Wohl verlangt.

»Sie dürfen auch nicht glauben, daß darum, weil unter unserm System dem Sporne des Wetteifers freies Spiel gelassen ist, wir denselben für ein Motiv halten, das bei edleren Naturen zu erwarten oder ihrer würdig ist. Diese finden ihre Motive in sich, nicht außer sich, und bemessen ihre Pflicht nach ihrer eigenen Begabung, nicht nach der anderer. So lange ihre Leistungen ihren Kräften entsprechen, würden sie es für verkehrt halten, Lob oder Tadel zu erwarten, weil jene zufälligerweise groß oder klein ausgefallen sind. Solchen Naturen erscheint der Wetteifer in philosophischer Hinsicht als thöricht und in moralischer als verächtlich, weil er in unserer Haltung gegenüber den Erfolgen und Mißerfolgen anderer an die Stelle der Bewunderung den Neid und an die Stelle teilnehmenden Bedauerns egoistisches Frohlocken setzt.

»Aber selbst im letzten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts stehen nicht alle Menschen auf dieser hohen Stufe; und die für diese anderen erforderlichen Anspornungsmittel müssen deren niederer Natur angepaßt sein. Für diese also soll der heftigste Wetteifer ein beständiger Sporn sein. Diejenigen, welche dieses Motivs bedürfen, werden es fühlen. Diejenigen, welche über den Einfluß desselben erhaben sind, bedürfen seiner nicht.«

»Ich muß auch noch erwähnen,« fuhr der Doktor fort, »daß wir für diejenigen, welche in geistiger oder körperlicher Hinsicht zu schwach sind, als daß sie billigerweise in das Hauptheer der Arbeiter eingereiht werden konnten, eine besondere Klasse haben, die außer Zusammenhang mit den andern ist, – eine Art Invalidencorps, dessen Mitgliedern leichtere, ihren Kräften angemessene Arten von Arbeiten zugewiesen werden. Alle unsre geistig oder körperlich Kranken, alle unsre Taubstummen, Lahmen, Blinden und Krüppel und selbst unsre Irrsinnigen gehören zu diesem Invalidencorps und tragen dessen Abzeichen. Die Stärksten unter ihnen leisten oft beinahe die volle Mannesarbeit, die Schwächsten natürlich nichts, aber keiner, der irgend etwas thun kann, will die Arbeit ganz aufgeben. In ihren lichten Augenblicken beeifern sich sogar unsre Irren, zu thun, was sie können.«

»Die Idee des Invalidencorps ist wirklich gut,« sagte ich. »Selbst ein Barbar aus dem neunzehnten Jahrhundert muß das einsehen. Sie ist eine sehr schöne Art, die Mildthätigkeit zu verhüllen, und muß für die Gefühle der die Gaben Empfangenden sehr wohlthuend sein.«

»Mildthätigkeit!« wiederholte Dr. Leete. »Meinten Sie, daß wir die Klasse der Untauglichen, von der wir sprechen, als Gegenstände der Mildthätigkeit ansehen?«

»Nun, natürlich,« sagte ich, »da sie ja doch unvermögend sind, sich selbst den Unterhalt zu erwerben.«

Aber hier griff mich der Doktor lebhaft an.

»Wer ist denn dessen fähig?« fragte er. »In einer civilisierten Gesellschaft giebt es nichts dergleichen wie Selbstunterhalt. In einem Gesellschaftszustande, der so barbarisch ist, daß er nicht einmal ein Zusammenwirken der Familie kennt, kann möglicherweise jeder einzelne sich selbst erhalten, obwohl selbst dann nur für einen Teil seines Lebens; aber von dem Augenblicke an, wo die Menschen zusammenzuleben beginnen und auch nur die roheste Form einer Gesellschaft begründen, wird Selbstunterhalt unmöglich. Mit der Steigerung der Civilisation und der Zunahme der Arbeitsteilung wird eine vielfache gegenseitige Abhängigkeit die schlechthin allgemeine Regel. Jedermann, wie in sich abgeschlossen seine Beschäftigung auch erscheinen möge, ist ein Glied einer unendlich großen Gewerbsgenossenschaft, welche so groß ist wie die Nation, ja so groß wie die Menschheit. Die Notwendigkeit gegenseitiger Abhängigkeit sollte daher die Erfüllung der Pflicht gegenseitiger Unterstützung verbürgen; und daß dies zu Ihrer Zeit nicht der Fall war, das bildete eben die wesentliche Grausamkeit und Unvernunft Ihres Systems.«

»Das mag alles so sein,« erwiderte ich; »aber es berührt nicht den Fall derer, welche unvermögend sind, überhaupt an der Produktion teilzunehmen.«

»Gewiß sagte ich Ihnen diesen Morgen, – ich denke wenigstens, daß ich es that,« erwiderte Dr. Leete, »daß das Recht eines Menschen auf seinen Unterhalt am Tische der Nation auf der Thatsache beruht, daß er ein Mensch ist, – und nicht auf dem Grade der Gesundheit und Kraft, die er haben mag, – so lange er nur leistet, was er zu leisten vermag.«

»Das sagten Sie mir,« antwortete ich: »aber ich nahm an, dieser Grundsatz bezöge sich nur auf die Arbeiter von verschiedener Befähigung. Gilt er denn auch für diejenigen, welche gar nichts leisten?«

»Sind sie nicht auch Menschen?«

»Soll ich Sie also dahin verstehen, daß die Lahmen, die Blinden, die Kranken und Gebrechlichen sich ebensogut stehen wie die tüchtigsten Arbeiter und dasselbe Einkommen beziehen?«

»Gewiß,« war die Antwort.

»Die Vorstellung einer Mildthätigkeit in solchem Maßstabe,« antwortete ich, »würde selbst unsern begeistertsten Philanthropen den Atem benommen haben.«

»Wenn Sie daheim einen kranken, arbeitsunfähigen Bruder hätten,« erwiderte Dr. Leete, »würden Sie ihm eine schlechtere Nahrung, Kleidung und Wohnung geben, als sich selbst? Weit wahrscheinlicher ist es, daß Sie ihn bevorzugen würden; und Sie würden auch nicht daran denken, das Mildthätigkeit zu nennen. Würde nicht dieses Wort in dieser Verbindung Sie mit Unwillen erfüllen?«

»Natürlich,« sagte ich, »aber die Fälle sind einander nicht gleich. In einem gewissen Sinne sind ohne Zweifel alle Menschen Brüder; aber diese allgemeine Art der Verbrüderung ist, es sei denn für rhetorische Zwecke, mit der Verbrüderung des Blutes gar nicht zu vergleichen: sie begründet weder die gleichen Gefühle noch die gleichen Verbindlichkeiten.«

»Aus Ihnen spricht das neunzehnte Jahrhundert!« rief Dr. Leete aus. »Ach, Herr West, es unterliegt keinem Zweifel, daß Sie sehr lange geschlafen haben. Wenn ich Ihnen in einem Satze den Schlüssel zu den Geheimnissen geben sollte, die für einen Mann Ihrer Zeit in unserer Civilisation liegen, so würde ich sagen, er sei die Thatsache, daß die Solidarität der Gattung und die Verbrüderung der Menschheit, welche für Sie nur schöne Phrasen waren, für unser Denken und Fühlen ebenso wirkliche und ebenso starke Bande sind, wie die Blutsverwandtschaft.

»Aber selbst, wenn ich von dieser Erwägung absehe, kann ich nicht begreifen, weswegen es Sie so überrascht, daß denjenigen, welche nicht arbeiten können, das volle Recht eingeräumt wird, von der Produktion derer zu leben, welche es können. Sogar zu Ihrer Zeit hatte die militärische Dienstpflicht zum Schutze der Nation, der unsre industrielle Dienstpflicht entspricht, obwohl sie für die Wehrfähigen obligatorisch war, nicht die Wirkung, die Dienstuntauglichen ihres Bürgerrechts zu berauben. Sie blieben zu Hause und wurden von denjenigen beschützt, welche in den Kampf zogen, und niemand stellte ihr Recht darauf in Frage oder dachte deswegen schlechter über sie. Ebenso hat jetzt die Forderung des industriellen Dienstes, welche an die arbeitsfähigen Mannschaften gestellt wird, nicht die Wirkung, den, welcher nicht arbeiten kann, des Bürgerrechts zu berauben, zu welchem jetzt auch der Unterhalt des Bürgers gehört. Der Arbeiter ist nicht Bürger, weil er arbeitet, sondern er arbeitet, weil er Bürger ist. Wie Sie die Pflicht des Starken, für die Schwachen zu kämpfen, anerkennen, so erkennen wir jetzt, nachdem aller Kampf vorbei ist, seine Pflicht, für ihn zu arbeiten, an.

»Eine Lösung, welche einen nicht aufgehenden Rest übrig läßt, ist überhaupt keine Lösung; und auch unsre Lösung des Problems der menschlichen Gesellschaft würde gar keine gewesen sein, wenn sie die Lahmen, die Kranken und die Blinden nicht berücksichtigt, und es ihnen wie den Tieren überlassen hätte, sich durchs Leben zu schlagen, so gut sie können. Weit besser wäre es gewesen, die Starken und Gesunden, als diese Mühseligen und Beladenen sich selbst zu überlassen, für die jedes Herz schlagen muß und für deren geistiges und körperliches Wohlbefinden vor allem zu sorgen ist. Daher kommt es, wie ich Ihnen schon diesen Morgen sagte, daß das Recht eines jeden Mannes, eines jeden Weibes und eines jeden Kindes auf die Mittel der Existenz auf der sicheren, breiten und einfachen Grundlage der Thatsache ruht: daß sie Glieder der einen menschlichen Familie sind. Die einzige gangbare Münze ist die Ebenbildlichkeit Gottes: wer sie aufweisen kann, mit dem teilen wir alles, was wir haben.

»Es giebt, glaube ich, keinen Zug in der Civilisation Ihres Zeitalters, welcher dem heutigen Bewußtsein so abstoßend erscheint, wie Ihre Vernachlässigung der von Ihnen abhängigen Klassen. Selbst wenn Sie kein Mitleid, kein Gefühl der Brüderlichkeit hatten, wie konnten Sie nicht sehen, daß Sie die Klasse der Schwachen ihres klaren Rechtes beraubten, indem Sie für dieselben nicht sorgten?«

»Ich kann Ihnen hierin nicht ganz folgen,« sagte ich. »Den Anspruch dieser Klasse auf unser Mitleid gebe ich zu; aber wie könnten die, welche nichts produzieren, einen Anteil am Arbeitsprodukte als ihr Recht verlangen?«

»Wie kam es denn,« antwortete Dr. Leete, »daß Ihre Arbeiter mehr zu produzieren im stande waren, als eine gleiche Anzahl von Wilden hätten schaffen können? Geschah es nicht ganz allein darum, weil sie die Kenntnisse und Errungenschaften vergangener Geschlechter geerbt hatten? Geschah es nicht darum, weil sie den ganzen Mechanismus der Gesellschaft, dessen Herstellung Jahrtausende beansprucht hatte, fertig in die Hand bekommen hatten? Wie gelangten Sie in den Besitz dieser Kenntnisse und dieses Mechanismus, welchem neun Zehntel des Wertes Ihres Arbeitsproduktes zu verdanken sind? Sie haben sie geerbt, nicht wahr? Und waren nicht diese anderen, diese unglücklichen und lahmen Brüder, welche Sie ausstießen, Ihre gleichberechtigten Miterben? Was thaten Sie mit ihrem Anteil? Beraubten Sie dieselben nicht, da Sie diejenigen mit Brotrinden abfertigten, welche das Recht hatten, unter den Erben zu sitzen, und fügten Sie zum Raube nicht noch den Schimpf, indem Sie die Brotrinden Almosen nannten?

»Ach, Herr West,« fuhr Dr. Leete fort, als ich nicht antwortete, »selbst wenn ich von allen Erwägungen der Gerechtigkeit und brüderlichen Liebe gegen die Schwachen und Gebrechlichen absehe, kann ich es nicht verstehen, wie die Arbeiter Ihrer Zeit freudig ans Werk gehen konnten, da sie doch wußten, daß ihre Kinder oder Kindeskinder, wenn das Unglück sie befallen sollte, der Annehmlichkeiten und selbst der dringendsten Bedürfnisse des Lebens beraubt sein würden. Es ist mir rätselhaft, wie Menschen, welche Kinder hatten, eine Gesellschaftsordnung begünstigen konnten, unter der sie selbst vor den körperlich oder geistig minder Begabten bevorzugt wurden. Denn durch die nämliche Unterscheidung, aus welcher der Vater Nutzen zog, konnte der Sohn, für den er sein Leben hingegeben hätte, zur Bettelarmut verurteilt werden, weil er vielleicht schwächer war, als andere. Wie Männer damals den Mut haben konnten, Kinder zu hinterlassen, habe ich nie begreifen können.«

Anmerkung. Dr. Leete hatte in seinem Gespräche am vergangenen Abend nachdrücklich auf die Sorge hingewiesen, die man trüge, jeden in den Stand zu setzen, seine natürlichen Anlagen kennen zu lernen und ihnen bei der Wahl eines Berufes zu folgen. Aber erst als ich erfahren hatte, daß das Einkommen des Arbeiters in allen Berufen gleich ist, ward es mir klar, wie sicher man darauf rechnen könne, daß er es thun und durch die Wahl des Geschirrs, welches ihm das bequemste ist, dasjenige herausfinden werde, in welchem er am besten ziehen kann. Daß es meinem Zeitalter nicht gelang, in irgendwie systematischer und wirksamer Weise die natürlichen Anlagen der Menschen für die Gewerbe und die intellektuellen Berufe zu entwickeln und nutzbar zu machen, war einer der großen Verluste sowohl wie eine der Ursachen des Unglücks jener Zeit. Meine Zeitgenossen waren zwar dem Namen nach frei, sich eine Beschäftigung zu wählen, in Wirklichkeit aber wählten fast alle von ihnen dieselbe überhaupt nicht, sondern wurden durch die Umstände zu einer Arbeit gezwungen, in welcher sie verhältnismäßig nur geringes leisten konnten, weil sie keine natürlichen Anlagen dazu hatten. Die Reichen hatten in dieser Hinsicht vor den Armen wenig voraus. Die letzteren, fast stets der Bildung beraubt, hatten freilich meist nicht einmal die Gelegenheit, sich der natürlichen Anlagen, welche sie haben mochten, zu vergewissern, und selbst wenn sie solche entdeckt hatten, waren sie, ihrer Armut wegen, nicht im stande, sie durch Pflege zu entwickeln. Die eine höhere Bildung voraussetzenden Berufe waren ihnen, falls nicht ein günstiger Zufall im Spiele war, verschlossen, – zu ihrem großen Schaden und dem der Nation. Die Wohlhabenden andererseits wurden, obwohl sie über Bildung und günstige Gelegenheiten gebieten konnten, kaum weniger durch sociale Vorurteile gehindert, welche ihnen das Ergreifen eines Handwerks untersagten, selbst wenn sie Anlagen dazu hatten, und sie, ob sie nun dazu befähigt waren oder nicht, zur Wahl eines höheren Berufes bestimmten, wodurch mancher trefflicher Handwerker verloren ging. Pekuniäre Erwägungen, welche die Menschen dazu verleiteten, einträgliche Beschäftigungen zu wählen, für welche sie nicht geeignet waren, anstatt minder lohnenden Gewerben sich zu widmen, für welche sie geeignet waren, wurden die Ursache einer weiteren, ungeheuren Vergeudung von Talent. Das hat sich jetzt alles geändert. Gleiche Ausbildung und gleiche Gelegenheit muß notwendig alle die Fähigkeiten, welche ein Mensch besitzt, an den Tag bringen, und weder sociale Vorurteile noch pekuniäre Erwägungen hindern ihn in der Wahl seines Lebenswerkes.


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