Edward Bellamy
Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887
Edward Bellamy

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Der Sonntag Nachmittag – ich konnte nie sagen weshalb – war in meinem alten Leben stets eine Zeit gewesen, in welcher ich der Schwermut besonders ausgesetzt war; in unerklärlicher Weise erschien mir das ganze Dasein farblos und gleichgültig. Die Stunden, welche mich gewöhnlich leicht auf ihren Schwingen trugen, verloren ihr Flugvermögen und sanken gegen Ende des Tages ganz zur Erde hernieder und mußten mit aller Macht vorwärts geschleppt werden. Vielleicht war es zum Teil die Folge einer durch Gewohnheit befestigten Ideenverbindung, daß ich, ungeachtet der außerordentlichen Veränderung in meinen Umständen, am Nachmittage dieses meines ersten Sonntags im zwanzigsten Jahrhundert in einen Zustand tiefer Niedergeschlagenheit verfiel.

Bei dieser Gelegenheit jedoch war es nicht eine Niedergeschlagenheit ohne besondere Veranlassung, nicht die bloße unbestimmte Schwermut, von der ich gesprochen habe, sondern eine Gemütsstimmung, die durch meine Lage hervorgerufen und sicher ganz gerechtfertigt war. Die Predigt des Herrn Barton mit ihrem beständigen Hinweis auf die weite moralische Kluft zwischen dem Jahrhundert, dem ich angehörte, und dem, in welchem ich mich befand, hatte die Wirkung gehabt, mein Gefühl der Vereinsamung in demselben sehr zu verstärken. So gemäßigt und philosophisch er auch gesprochen hatte, konnten seine Worte doch kaum verfehlen, den Eindruck in mir zu hinterlassen, daß ich, der Repräsentant eines verabscheuten Zeitalters, in meiner Umgebung ein aus Mitleid, Neugierde und Widerwillen gemischtes Gefühl erregen müsse.

Die außerordentliche Freundlichkeit, mit welcher ich von Dr. Leete und seiner Familie behandelt worden war, und besonders die Güte Ediths, hatte mich bisher verhindert, völlig mir klar zu machen, daß ihr wirkliches Gefühl gegen mich notwendig dasselbe sein mußte, wie das der ganzen Generation, der sie angehörten. So schmerzlich diese Erkenntnis auch war, ich hätte ihr, soweit Dr. Leete und seine liebenswürdige Frau in Frage kamen, wohl standgehalten; aber die Überzeugung, daß Edith ihr Gefühl teilen müsse, war mehr, als ich ertragen konnte.

Die niederschmetternde Wirkung, welche diese verspätete Wahrnehmung einer so augenscheinlichen Thatsache auf mich ausübte, öffnete mein Auge für etwas, was der Leser vielleicht bereits vermutet hat: – ich liebte Edith.

War dies seltsam? Die ergreifende Scene, bei der unsere vertrautere Bekanntschaft begonnen hatte, als ihre Hand mich aus dem Strudel des Wahnsinns herausriß; die Thatsache, daß ihr Mitgefühl der Lebensodem war, der mich in diesem neuen Leben aufgerichtet und mich befähigt hatte, es zu ertragen; meine Gewohnheit, auf sie zu blicken als auf den Vermittler zwischen mir und der mich umgebenden Welt, in einem Sinne, wie es selbst ihr Vater nicht war: – das waren Umstände, die ein Resultat herbeigeführt hatten, welches schon die holde Lieblichkeit ihrer Erscheinung und ihres Wesens erklärlich gemacht hätte. Es war ganz unvermeidlich, daß sie mir, in einem ganz anderen Sinne, als dies sonst bei Liebenden zu geschehen pflegt, als das einzige Weib auf dieser Erde erscheinen mußte. Jetzt, wo mir plötzlich die Nichtigkeit der Hoffnungen, die ich zu hegen begonnen hatte, zum Bewußtsein gekommen war, litt ich nicht bloß wie ein anderer Liebender, sondern zudem überfiel mich das Gefühl trostlosester Einsamkeit, äußerster Verlassenheit, wie es kein anderer Liebender, wie unglücklich er auch gewesen wäre, hätte empfinden können.

Meine Wirte bemerkten augenscheinlich meine gedrückte Stimmung und thaten ihr Bestes, mich zu zerstreuen. Edith besonders, das konnte ich wohl sehen, war meinetwegen bekümmert. Aber nach der gewöhnlichen Verkehrtheit der Liebenden hatte, nachdem ich einmal so thöricht gewesen war zu träumen, ich könnte etwas mehr von ihr erhalten, eine Freundlichkeit, die, wie ich wußte, nur Mitgefühl war, keinen Wert mehr für mich.

Ich hatte mich für den größten Teil des Nachmittags in mein Zimmer zurückgezogen und ging gegen Abend in den Garten, um mir Bewegung zu machen. Der Tag war trübe, mit einem herbstlichen Dufte in der warmen, stillen Luft. Da ich mich in der Nähe des Ausgrabungsplatzes befand, trat ich in das unterirdische Gemach und ließ mich dort nieder. »Dies,« sagte ich zu mir selbst, »ist die einzige Heimstätte, welche ich habe. Hier will ich bleiben und sie nimmer wieder verlassen.« Mit Hilfe der vertrauten Umgebung suchte ich eine traurige Art Trost darin zu finden, daß ich mich bemühte, die Vergangenheit ins Leben zurückzurufen und die Gestalten und Gesichter heraufzubeschwören, die in meinem früheren Leben um mich waren. Es war vergeblich. Sie hatten kein Leben mehr. Seit fast hundert Jahren hatten die Sterne auf Edith Bartletts Grab, auf die Gräber meiner ganzen Generation herabgeblickt.

Die Vergangenheit war tot, zermalmt unter der Last eines Jahrhunderts; und von der Gegenwart war ich ausgeschlossen. Nirgends gab es einen Platz für mich. Ich war weder tot, noch eigentlich lebendig.

»Verzeihen Sie, daß ich Ihnen gefolgt bin!«

Ich blickte auf. Edith stand in der Thür des unterirdischen Gemachs und sah mich lächelnd an, aber mit Augen voll teilnehmender Trauer.

»Schicken Sie mich fort, wenn ich Ihnen beschwerlich falle,« sagte sie. »Wir sahen, daß Sie verstimmt waren, und Sie wissen, Sie hatten mir versprochen, es mir in einem solchen Falle zu sagen. Sie haben nicht Wort gehalten.«

Ich erhob mich und näherte mich der Thür, indem ich zu lächeln versuchte, was mir aber wohl recht schlecht gelang; denn der Anblick ihrer holden Gestalt ließ mich die Ursache meines Elends noch tiefer empfinden.

»Ich fühlte mich ein wenig einsam, das ist alles,« sagte ich. »Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß meine Lage eine so äußerst vereinsamte ist, wie nie die irgend eines menschlichen Wesens je zuvor, daß man wirklich ein neues Wort haben müßte, sie zu beschreiben?«

»O, so dürfen Sie nicht reden! – Sie dürfen sich nicht solchen Gefühlen hingeben! – Sie dürfen nicht!« rief sie mit feuchten Augen. »Sind wir nicht Ihre Freunde? Es ist Ihre eigene Schuld, wenn Sie es uns nicht gestatten wollen. Sie brauchen sich nicht einsam zu fühlen.«

»Sie sind über alles Begreifen gut zu mir,« sagte ich; »aber glauben Sie denn, daß ich nicht weiß, daß es nur Mitleid ist, süßes Mitleid, aber doch nur Mitleid? Ich müßte ein Narr sein, wenn ich nicht wüßte, daß ich Ihnen nicht so erscheinen kann, wie andere Männer Ihrer eigenen Generation, sondern als ein seltsames, unheimliches Wesen, ein aus einem unbekannten Meere an den Strand geworfenes Geschöpf, dessen Hilflosigkeit Ihr Mitleid erregt, trotz seiner Sonderbarkeit. Ich war so thöricht und Sie waren so gütig, daß ich fast vergaß, wie dies notwendig so sein müsse, und mir einbildete, ich könnte einmal in diesem Zeitalter, wie wir zu sagen pflegten, mich einbürgern, sodaß ich mich als einer der Ihrigen fühlen und Ihnen wie die anderen Männer in Ihrer Umgebung erscheinen könnte. Aber die Predigt des Herrn Barton hat mich gelehrt, wie eitel eine solche Einbildung ist, wie groß die Kluft zwischen uns Ihnen erscheinen muß.«

»O, diese unselige Predigt!« rief sie aus, indem sie wirklich weinte vor Mitleid. »Ich wollte ja, daß Sie sie nicht hörten. Was weiß er von Ihnen? Er hat in alten verstaubten Büchern über Ihre Zeit gelesen, das ist alles. Warum kümmern Sie sich um ihn und lassen sich durch irgend etwas, was er sagt, beunruhigen? Ist es Ihnen denn gar nichts, daß wir, die wir Sie kennen, anders fühlen? Liegt Ihnen nicht mehr daran, was wir über Sie denken, als was er denkt, der Sie nie gesehen hat? O, Herr West, Sie wissen nicht, Sie können sich nicht denken, wie es mich schmerzt, Sie so traurig zu sehen. Ich kann es nicht ertragen. Was soll ich Ihnen sagen, wie soll ich Sie davon überzeugen, wie ganz anders unsre Gefühle gegen Sie sind, als Sie glauben ?«

Wie damals, als sie in jener anderen Entscheidungsstunde meines Schicksals zu mir gekommen war, streckte sie mir mit Hilfe versprechender Gebärde die Hände entgegen, und wie damals ergriff ich sie und hielt sie in den meinen. Das Wogen ihres Busens, das Zittern in den Fingern, die ich hielt, offenbarten die Stärke ihrer Gemütsbewegung. In ihrem Antlitz stritt das Mitleid in einer Art von göttlichem Trotz gegen die Hindernisse, welche es zur Ohnmacht verurteilten. Weibliches Erbarmen erschien sicherlich nie in lieblicherer Gestalt.

Solcher Schönheit und solcher Güte vermochte ich nicht zu widerstehen, und es schien mir, daß die einzige schickliche Antwort, die ich geben könnte, die wäre, ihr geradezu die Wahrheit zu sagen. Natürlich hatte ich nicht einen Funken von Hoffnung, aber andrerseits fürchtete ich auch nicht, daß sie zornig werden würde; dazu war sie zu gütig. So sagte ich ihr denn jetzt: »Es ist sehr undankbar von mir, daß ich mich mit solcher Güte, wie Sie sie mir erzeigt haben und auch jetzt erzeigen, nicht begnüge. Aber sind Sie so blind, daß Sie nicht sehen, warum sie nicht hinreicht, mich glücklich zu machen? Sehen Sie nicht, daß es darum ist, weil ich so wahnsinnig gewesen bin, Sie zu lieben?«

Bei meinen letzten Worten errötete sie tief und ihre Augen senkten sich vor den meinigen; aber sie machte keine Anstrengung, mir ihre Hände zu entziehen. So stand sie einige Augenblicke, schwer atmend. Dann errötete sie tiefer denn je und blickte mit bethörendem Lächeln zu mir auf.

»Sind Sie sicher, daß Sie nicht selbst der Blinde sind?«

Das war alles, was sie sprach; aber es war genug, denn es sagte mir, daß, unerklärlich, unglaublich, wie es war, diese strahlende Tochter eines goldenen Zeitalters mir nicht nur ihr Mitleid, sondern auch ihre Liebe geschenkt hatte. Dennoch glaubte ich immer noch, ich müßte in einem beseligenden Traume sein, selbst als ich sie in meine Arme schloß. »Wenn ich von Sinnen bin,« rief ich, »so laß es mich bleiben!«

»Ich bin es, die Sie von Sinnen halten müssen,« sagte sie bebend und entwand sich meinen Armen, als ich kaum ihre Lippen berührt hatte. »Ach, was müssen Sie von mir denken, daß ich mich jemandem fast in die Arme werfe, den ich erst seit einer Woche kenne! Ich wollte nicht, daß Sie es so bald erfahren sollten; aber ich war so betrübt um Sie, daß ich nicht wußte, was ich sagte. Nein, nein, Sie dürfen mich nicht eher berühren, als bis Sie wissen, wer ich bin. Dann, mein Herr, sollen Sie mich demütig um Verzeihung bitten, daß Sie geglaubt haben, – wie ich wohl weiß, daß Sie es glauben, – ich hätte mich überschnell in Sie verliebt. Wenn Sie erst wissen, wer ich bin, werden Sie gestehen müssen, daß es nichts weiter als meine Pflicht war, mich auf den ersten Blick in Sie zu verlieben, und daß kein Mädchen von rechtem Gefühl an meiner Stelle sich anders hätte verhalten können.«

Wie man sich wohl denken kann, würde es mir ganz recht gewesen sein, die Erklärungen für später aufzusparen; aber Edith war entschlossen, daß es keinen Kuß mehr geben sollte, bis sie von allem Verdachte, vorschnell ihre Liebe gewahrt zu haben, gereinigt worden sei, und ich war gezwungen, dem lieblichen Rätsel in das Haus zu folgen. Als wir zu ihrer Mutter gekommen waren, flüsterte sie ihr errötend etwas ins Ohr und eilte fort, uns beisammen lassend.

Es ward nun offenbar, daß, so seltsam auch meine Erfahrungen bisher gewesen waren, ich doch jetzt erst vernehmen sollte, was vielleicht der seltsamste Teil meines Schicksals war. Von Frau Leete erfuhr ich, daß Edith die Urenkelin keiner anderen als meiner verlorenen Geliebten Edith Bartlett war. Nachdem sie mich vierzehn Jahre lang betrauert hatte, war sie eine Ehe aus Achtung eingegangen und hatte einen Sohn hinterlassen, der Frau Leetes Vater gewesen war. Frau Leete hatte ihre Großmutter nie gesehen, aber viel von ihr gehört, und als ihre Tochter geboren wurde, gab sie ihr den Namen Edith. Dieser Umstand mochte darauf hingewirkt haben, das Interesse zu erhöhen, welches das Mädchen, als es heranwuchs, an allem, was ihre Urahne betraf, und besonders an der traurigen Geschichte von dem Tode des Liebenden nahm, dessen Weib sie werden sollte, und der mit seinem Hause verbrannte. Es war eine Erzählung, die wohl geeignet war, das Mitgefühl eines romantischen Mädchens zu erregen; und die Thatsache, daß das Blut der unglücklichen Heldin in ihren eigenen Adern floß, steigerte natürlich Ediths Interesse an derselben. Ein Bildnis Edith Bartletts und einige ihrer Papiere, worunter auch ein Paket meiner Briefe sich befand, gehörten zu den Familien-Erbstücken. Das Bild stellte ein sehr schönes junges Weib dar, bei dessen Anblick man sich leicht allerlei Liebes und Romantisches denken konnte. Meine Briefe lieferten Edith einigen Stoff, sich von meiner Person eine bestimmte Vorstellung zu bilden, und beides zusammen reichte hin, die traurige alte Geschichte ihr sehr lebendig zu machen. Sie pflegte ihren Eltern halb scherzend zu sagen, daß sie nie heiraten würde, bis sie einen Geliebten wie Julian West fände, und solche gäbe es heutzutage nicht mehr.

Alles dies nun waren natürlich nur Träume eines Mädchens, dessen Herz nie einen eigenen Liebeshandel gehabt hatte, und würde keine ernsthaften Folgen gehabt haben, wäre nicht an jenem Morgen im Garten ihres Vaters das verschüttete Gemach entdeckt und offenbar geworden, wer dessen Insasse war. Denn als man die anscheinend leblose Gestalt in das Haus getragen hatte, erkannte man das Bild in dem auf meiner Brust gefundenen Medaillon sofort als das Edith Bartletts, und aus dieser Thatsache in Verbindung mit den anderen Umständen ergab es sich, daß ich kein anderer als Julian West sei. Selbst wenn, wie es anfänglich der Fall war, an meine Wiederbelebung nicht zu denken gewesen wäre, so würde dieses Ereignis doch, meinte Frau Leete, auf ihre Tochter für ihr ganzes Leben einen entscheidenden Einfluß ausgeübt haben. Die Annahme, daß durch irgend eine geheimnisvolle Bestimmung des Schicksals ihr Los mit dem meinigen verbunden worden sei, würde unter den vorliegenden Umständen für fast jedes Weib etwas unwiderstehlich Berückendes gehabt haben.

Ich habe, sagte ihre Mutter weiter, als ich einige Stunden darauf ins Leben zurückgerufen worden sei, ihr von Anfang an eine besondere Anhänglichkeit bewiesen und anscheinend in ihrer Gesellschaft einen besonderen Trost gefunden: und ob Edith mir beim ersten Zeichen meiner Liebe zu schnell die ihrige geschenkt habe, könnte ich nun selbst beurteilen. Sollte ich es meinen, so müßte ich endlich erwägen, daß wir im zwanzigsten und nicht im neunzehnten Jahrhundert wären und die Liebe jetzt ohne Zweifel schneller im Entstehen und freimütiger im Bekennen sei, als damals.

Von Frau Leete ging ich zu Edith. Als ich sie gefunden hatte, war es mein erstes, sie bei beiden Händen zu erfassen und lange in entzückter Betrachtung ihres Antlitzes zu verweilen. Wie ich in ihrem Anblicke verloren war, lebte die Erinnerung an jene andere Edith in mir wieder auf, – eine Erinnerung, welche durch das schreckliche Ereignis, das uns getrennt hatte, gleichsam einen betäubenden Schlag erlitten hatte, – und mein Herz schmolz in zärtlichen und mitleidigen und doch auch sehr seligen Gefühlen. Denn sie, welche mich meinen Verlust so tief empfinden machte, sollte mir diesen Verlust ja auch ersetzen. Es war, als ob aus ihren Augen Edith Bartlett in die meinigen blickte und mir Trost zulächelte. Mein Schicksal war nicht allein das seltsamste, sondern auch das glücklichste, das je einen Mann betroffen hatte. Ein doppeltes Wunder war für mich gewirkt worden. Ich war nicht an der Küste dieser fremden Welt gestrandet, mich allein und ohne Gefährten zu finden. Meine Geliebte, die ich verloren geträumt hatte, war zu meinem Troste in einem neuen Körper erschienen. Als ich zuletzt, hingerissen von Dankbarkeit und Zärtlichkeit, das liebliche Mädchen in meine Arme schloß, da verschmolzen die beiden Ediths in meiner Vorstellung zu einer, und ich habe sie seitdem nimmer klar voneinander unterscheiden können. Es dauerte nicht lange, so bemerkte ich, daß auf Ediths Seite eine entsprechende Verwechslung der Persönlichkeiten stattfand. Sicherlich gab es zwischen Liebenden, die sich soeben erst gefunden hatten, nie ein so seltsames Gespräch, wie das unsrige an jenem Abende war. Sie schien es mehr zu wünschen, daß ich von Edith Bartlett, als daß ich von ihr selbst spräche, daß ich ihr sagte, wie ich jene geliebt hätte, als daß ich von meiner Liebe zu ihr redete, und sie belohnte meine leidenschaftlichen Worte, die einem andern Weibe galten, mit Thränen, zärtlichem Lächeln und Händedruck.

»Du darfst mich nicht zu sehr um meinetwillen lieben,« sagte sie. »Ich werde ihretwegen sehr eifersüchtig sein. Ich werde nicht erlauben, daß du sie vergißt. Ich will dir etwas sagen, was dir vielleicht seltsam erscheinen wird. Glaubst du nicht, daß Geister manchmal in die Welt zurückkehren, um ein Werk zu vollbringen, das ihnen am Herzen lag? Wie nun, wenn ich dir sage, daß ich manchmal gedacht habe, ihr Geist lebe in mir, – Edith Bartlett, nicht Edith Leete sei mein wahrer Name? Ich kann es nicht wissen: natürlich kann niemand von uns wissen, wer wir wirklich sind; aber ich kann es fühlen. Kannst du dich wundern, daß ich ein solches Gefühl habe, da du doch siehst, wie mein Leben durch sie und durch dich beeinflußt worden war, sogar ehe du kamst? So siehst du denn, daß du dir gar nicht die Mühe zu geben brauchst, mich überhaupt zu lieben, wenn du ihr nur treu bleibst. Ich werde wohl nicht eifersüchtig werden.«

Dr. Leete war jenen Nachmittag ausgegangen, und ich hatte erst später eine Unterredung mit ihm. Er war augenscheinlich nicht ganz unvorbereitet auf die Mitteilung, die ich ihm machte, und schüttelte mir herzlich die Hand.

»Unter gewöhnlichen Umständen, Herr West, würde ich sagen, daß dieser Schritt nach ziemlich kurzer Bekanntschaft stattgefunden habe; aber diese Umstände sind entschieden keine gewöhnlichen. Redlicherweise sollte ich Ihnen vielleicht sagen,« fügte er lächelnd hinzu, »daß, obwohl ich zu dem Vorhaben meine freudige Zustimmung gebe, Sie sich mir nicht zu sehr verpflichtet zu fühlen brauchen, da, wie mir scheint, meine Einwilligung eine bloße Formalität ist. Von dem Augenblicke an, wo das Geheimnis des Medaillons verraten war mußte es so kommen. Ja, wahrlich, wenn Edith nicht dagewesen wäre, das Gelöbnis ihrer Urgroßmutter einzulösen, so fürchte ich wirklich, daß die Treue meiner Frau auf eine harte Probe gestellt worden wäre.«

An jenem Abende war der Garten im Mondlicht gebadet, und bis Mitternacht wandelten Edith und ich auf und ab und versuchten uns an unser Glück zu gewöhnen.

»Was würde ich gethan haben, wenn du dich nicht um mich bekümmert hättest!« rief sie aus. »Ich fürchtete, ich würde dir gleichgültig bleiben. Was würde ich dann gethan haben, da ich doch fühlte, ich sei für dich bestimmt! Sobald du wieder zum Leben erwachtest, da war ich so sicher, als wenn sie es mich geheißen hätte, daß ich dir sein müßte, was sie dir nicht sein konnte; aber das konnte doch nur geschehen, wenn du es zuließest. O wie gern hätte ich dir an jenem Morgen, als du dich so schrecklich fremd unter uns fühltest, gesagt, wer ich sei; aber ich durfte ja meine Lippen nicht öffnen, auch nicht Vater oder Mutter es dir sagen lassen –«

»Das muß es gewesen sein, was du deinen Vater mir nicht sagen lassen wolltest!« rief ich aus, in der Erinnerung an die Unterhaltung, die ich bei meinem Erwachen aus dem Starrkrampfe belauscht hatte.

»Natürlich war es das,« lachte Edith. »Hast du das jetzt erst erraten? Da mein Vater eben nur ein Mann ist, so dachte er, es würde dich heimisch unter uns machen, wenn wir dir sagten, wer wir wären. An mich dachte er überhaupt nicht. Aber meine Mutter verstand, was ich meinte, und so ließ man mir meinen Willen. Ich hätte dir nie ins Gesicht sehen können, wenn du gewußt hättest, wer ich bin. Ich hätte mich dir ja allzu dreist aufgedrängt. Ich fürchte, du denkst, ich that es heute. Ich wollte es ganz gewiß nicht, denn ich wußte, man erwartete zu deiner Zeit, daß Mädchen ihre Gefühle verbergen, und ich hatte eine entsetzliche Furcht, dir Anstoß zu geben. Ach, wie schwer muß es doch für sie gewesen sein, ihre Liebe stets wie ein Vergehen verheimlichen zu müssen! Warum hielten sie es denn für eine solche Schande, jemanden zu lieben, ehe man es ihnen erlaubt hatte? Es ist so wunderlich, sich zu denken, daß man auf die Erlaubnis warten sollte, sich zu verlieben. Waren denn die Männer in jenen Tagen böse, wenn Mädchen sie liebten? Das ist nicht die Art, wie die Frauen jetzt empfinden, dessen bin ich sicher; und auch die Männer, denke ich, fühlen jetzt nicht so. Ich verstehe es überhaupt nicht. Das ist eines der merkwürdigen Dinge an den Frauen jener Tage, die du mir einmal zu erklären haben wirst. Ich glaube nicht, daß Edith Bartlett so närrisch war wie die andern.«

Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen, Abschied zu nehmen, bestand sie endgültig darauf, daß wir uns gute Nacht sagen müßten. Ich war im Begriff, den wirklich letzten Kuß auf ihre Lippen zu drücken, als sie mit unbeschreiblicher Schalkhaftigkeit sagte:

»Eins beunruhigt mich noch. Bist du sicher, daß du es Edith Bartlett völlig vergeben hast, daß sie einen andern geheiratet hat? Die Bücher, die auf uns gekommen sind, stellen die Liebenden deiner Zeit als mehr eifersüchtig denn liebevoll dar, und das ist es, was mich zu fragen veranlaßt. Es wäre mir eine große Erleichterung, wenn ich sicher sein könnte, daß du nicht im mindesten eifersüchtig bist auf meinen Urgroßvater, weil er dein Liebchen geheiratet hat. Darf ich dem Bilde meiner Urgroßmutter sagen, wenn ich in mein Zimmer gehe, daß du ihr ihre Untreue völlig vergiebst?«

Wird der Leser es glauben? Dieser schelmische Stich, ob es nun die Absicht der Redenden gewesen war oder nicht, berührte wirklich und heilte durch die Berührung ein albernes Leidgefühl von etwas wie Eifersucht, das ich stets unbestimmt empfunden hatte, seit Frau Leete mir von Edith Bartletts Heirat erzählt hatte. Selbst während ich Edith Bartletts Urenkelin in meinen Armen hielt, und bis zu diesem Augenblicke – so unlogisch sind manche unserer Gefühle – hatte ich es mir noch nicht deutlich vorgestellt, daß ohne jene Heirat ich es nicht hätte thun können. Der Verkehrtheit dieses Geisteszustandes konnte nur die Plötzlichkeit gleichkommen, mit welcher er verschwand, als Ediths mutwillige Frage den Nebel aus meinen Gedanken verscheuchte. Ich lachte und küßte sie.

»Du kannst sie,« sagte ich, »meiner vollständigen Vergebung versichern, obwohl die Sache eine ganz andere gewesen wäre, wenn sie einen andern geheiratet hätte, als deinen Urgroßvater.«

Als ich an jenem Abend in mein Zimmer gekommen war, öffnete ich nicht, wie es schon meine Gewohnheit geworden war, das Musiktelephon, daß es mich durch seine besänftigenden Töne in Schlaf lulle. Dieses Mal machten meine Gedanken eine bessere Musik, als es selbst die Orchester des zwanzigsten Jahrhunderts vermögen, und sie hielt mich bezaubert bis nahe gegen Morgen, da ich endlich einschlief.


 << zurück weiter >>