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Den nächsten Morgen stand ich etwas vor der Frühstücksstunde auf. Als ich die Treppe hinabging, trat Edith in die Halle. Sie kam aus dem Zimmer, welches der Schauplatz jener früher beschriebenen Morgenbegegnung gewesen war.
»Ah!« rief sie mit einem bezaubernd schelmischen Ausdrucke, »Sie dachten wohl wieder heimlich fortzuschlüpfen zu einem jener einsamen Morgenschwärmereien, welche Ihnen so trefflich bekommen? Aber Sie sehen, diesmal bin ich für Sie zu früh aufgestanden. Ich habe Sie gefangen!«
»Sie unterschätzen den Erfolg Ihrer eigenen Kur,« sagte ich, »wenn Sie annehmen, daß solches Schwärmen jetzt noch böse Folgen für mich haben würde.«
»Es freut mich sehr, das zu hören,« sagte sie. »Ich war in jenem Zimmer damit beschäftigt, einen Blumenstrauß für den Frühstückstisch zu binden, als ich Sie herunterkommen hörte, und meinte, ich hätte eine gewisse Heimlichkeit in Ihrem Schritte auf der Treppe entdeckt.«
»Sie thaten mir Unrecht,« sagte ich. »Ich dachte gar nicht daran, auszugehen.«
Ungeachtet ihrer Bemühung, mich glauben zu machen, daß sie nur zufällig mich abgefangen habe, kam mir doch ein gewisser Verdacht, – der, wie ich später erfuhr, der Thatsache entsprach, – daß nämlich dieses holde Geschöpf in Erfüllung des selbstauferlegten Hüteramtes an den letzten zwei oder drei Morgen zu einer unerhört frühen Stunde aufgestanden war, um der Möglichkeit vorzubeugen, daß ich wieder allein ausschwärmte, falls ich in jene Gemütsstimmung verfiele, wie bei der früheren Gelegenheit. Sie gab mir die Erlaubnis, ihr beim Binden des Straußes zu helfen, und ich folgte ihr in das Zimmer, aus welchen sie gekommen war.
»Sind Sie sicher,« fragte sie, »daß Sie über die schrecklichen Empfindungen, welche Sie an jenem Morgen hatten, hinaus sind?«
»Ich kann nicht leugnen, daß ich zu Zeiten Gefühle habe, die entschieden wunderlich sind,« erwiderte ich, »Augenblicke, wo nur die Identität meiner Person als eine offene Frage erscheint. Es wäre zu viel, nach dem, was ich erlebt habe, zu erwarten, daß ich nicht mehr gelegentlich solche Empfindungen haben sollte; aber ich denke, die Gefahr, gänzlich zusammenzubrechen, wie es mir an jenem Morgen beinahe begegnet wäre, ist vorüber.«
»Ich werde nie vergessen,« sagte sie, »wie Sie an jenem Morgen aussahen.«
»Wenn Sie nur mein Leben gerettet hätten,« fuhr ich fort, »könnte ich vielleicht Worte finden, meine Dankbarkeit auszudrücken, aber es war meine Vernunft, welche Sie retteten, und da giebt es keine Worte, welche dem, was ich Ihnen schulde, einen vollkommenen Ausdruck würden geben können.« Ich sprach mit Bewegung, und ihre Augen wurden plötzlich feucht.
»Es ist zu viel, dies alles zu glauben.« sagte sie, »aber es ist sehr angenehm, es Sie sagen zu hören. Was ich that, war sehr wenig. Sehr groß war mein Schmerz um Sie, das weiß ich. Mein Vater meint, nichts sollte uns in Erstaunen setzen, was sich wissenschaftlich erklären läßt, wie dies ja wohl auch für Ihren langen Schlaf gilt; aber der bloße Gedanke, in Ihrer Lage zu sein, macht mich schwindeln. Ich weiß, daß ich es überhaupt nicht hätte ertragen können.«
»Das hängt davon ab,« erwiderte ich, »ob ein Engel kommen würde, Sie in dem entscheidenden Augenblicke mit seiner Sympathie zu unterstützen, wie ein solcher mir nahte.« Wenn mein Gesicht irgendwie das Gefühl ausdrückte, welches ich rechtmäßig gegen dieses holde, liebenswürdige junge Mädchen hegen durfte, welches eine solche Engelsrolle mir gegenüber gespielt hatte, so konnte dessen Ausdruck damals kein anderer als der einer andächtigen Verehrung sein. Dieser Ausdruck, oder die Worte, oder beides zusammen, hatten zur Folge, daß sie jetzt mit einem reizenden Erröten ihre Augen senkte.
»Um bei diesem Gegenstande,« sagte ich, »zu bleiben: Wenn das, was Sie erlebt haben, auch nicht so aufregend gewesen ist, wie das, was ich erlebt habe, so muß es doch überwältigend gewesen sein, einen Mann, der einem fremden Jahrhundert angehörte, und der anscheinend seit hundert Jahren tot war, ins Leben zurückgerufen zu sehen.«
»Es schien in der That anfangs unbeschreiblich seltsam,« sagte sie; »aber als wir uns in Ihre Lage zu versetzen begannen und daran dachten, wie viel fremdartiger Ihnen alles erscheinen müsse, da vergaßen wir, glaube ich, zum guten Teile unsre Gefühle, mir wenigstens, weiß ich, erging es so. Es erschien uns dann nicht sowohl erstaunlich, als interessant und ergreifend, mehr als irgend etwas, wovon man je zuvor gehört hatte.«
»Aber überkommt es Sie nicht als etwas Erstaunliches, daß Sie mit mir am Tische sitzen, nun, da Sie wissen, wer ich bin?«
»Sie müssen bedenken,« antwortete sie, »daß Sie uns nicht so fremd erscheinen, wie wir Ihnen. Wir gehören einer Zukunft an, von der Sie keine Idee haben konnten, einer Generation, von der Sie nichts wußten, bis Sie uns sahen. Aber Sie gehören einem Geschlechte an, welches das unsrer Voreltern ist. Es ist uns wohl bekannt; die Namen vieler Menschen jener Zeit sind oft in unserm Munde. Wir haben aus Ihrer Denk- und Lebensweise ein Studium gemacht. Nichts, was Sie sagen und thun, überrascht uns; während wir nichts sagen und thun, was Ihnen nicht fremdartig erscheint. Sie sehen also, Herr West, daß, wenn Sie fühlen, Sie werden sich mit der Zeit an uns gewöhnen können, es Sie kaum überraschen darf, daß Sie uns von Anfang an kaum wie ein Fremder vorgekommen sind.«
»Unter diesem Gesichtspunkt hatte ich die Sache noch nicht betrachtet,« erwiderte ich, »Es liegt wirklich viel Wahres in dem, was Sie sagen. Man kann leichter tausend Jahre zurückblicken als fünfzig Jahre in die Zukunft. Für einen Rückblick sind hundert Jahre gar keine so lange Zeit. Ich hätte ganz wohl Ihre Urgroßeltern kennen können. Vielleicht kannte ich sie wirklich. Lebten sie in Boston?«
»Ich glaube, ja.« »Sie wissen es also nicht gewiß?«
»Ja,« erwiderte sie, »ich denke, sie wohnten hier.«
»Ich hatte einen großen Bekanntenkreis in der Stadt,« sagte ich. »Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ich sie kannte oder doch wenigstens etwas von ihnen gehört habe. Vielleicht habe ich sie sogar ganz gut gekannt. Würde es Sie nicht interessieren, wenn ich Ihnen zufällig die allergenauesten Nachrichten z. B. über Ihren Urgroßvater geben könnte?«
»Das würde mich sehr interessieren.«
»Kennen Sie Ihre Familiengeschichte genau genug, um mir sagen zu können, welche von Ihren Vorfahren zu meiner Zeit in Boston lebten?«
»O ja.«
»Vielleicht nennen Sie mir einmal die Namen des einen oder andern von ihnen?«
Sie war gerade damit beschäftigt, einen störrischen Zweig in dem Strauße zurechtzustecken und antwortete nicht gleich. Schritte auf der Treppe verkündeten, daß die übrigen Familienglieder zu uns herunterkamen.
»Vielleicht einmal,« sagte sie.
Nach dem Frühstück schlug Dr. Leete mir vor, das Centralwarenlager mit ihm zu besichtigen und die Verteilungseinrichtungen, die mir Edith beschrieben hatte, in voller Thätigkeit zu sehen. Als wir fortgingen, sagte ich: Ich nehme nun schon mehrer Tage lang in Ihrem Hause eine höchst eigentümliche Stellung oder, richtiger gesagt, überhaupt gar keine Stellung ein. Ich habe diesen Punkt noch nicht eher Ihnen gegenüber berührt, weil so viele noch weit ungewöhnlichere Eindrücke auf mich einwirkten. Jetzt aber, wo ich anfange, etwas Boden unter den Füßen zu fühlen und mir klar zu machen, daß, wie auch immer ich hierher gekommen bin, ich nun einmal hier bin und mich so gut wie möglich in meine Lage hineinzufinden habe, – jetzt muß ich über diesen Punkt mit Ihnen reden.«
»Darüber, daß Sie als Gast in meinem Hause leben,« erwiderte Dr. Leete, »dürfen Sie sich jetzt noch keine Gedanken machen, denn ich hoffe, daß wir Sie noch lange bei uns behalten werden. Ihre Bescheidenheit in Ehren, – aber das müssen Sie doch einsehen, daß ein Gast wie Sie eine Eroberung ist, die man nicht so gern aufgiebt.«
»Vielen Dank, Herr Doktor,« sagte ich.
»Es würde sicherlich eine alberne Ziererei von mir sein, wenn ich mich weigerte, auf einige Zeit Ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Verdanke ich es ja doch Ihnen, daß ich nicht noch jetzt lebendig im Grabe liege und dort das Ende der Welt erwarte. Wenn ich aber dazu berufen bin, für die Dauer ein Bürger dieses Jahrhunderts zu werden, so muß ich in demselben doch irgend eine Stellung ausfüllen. Zu meiner Zeit nun würde es in dem großen unorganisierten Haufen gar nicht aufgefallen sein, wenn ein Mensch mehr oder weniger auf der Welt wäre, möchte er nun hineingekommen sein, wie er wollte. Er würde sich irgendwo, wo es ihm beliebte, einen Platz verschafft haben, vorausgesetzt, daß er dazu stark genug gewesen wäre. Heutzutage aber ist jedermann ein Teil eines organisierten Systems und hat seinen bestimmten Platz und seine ihm zugewiesene Thätigkeit. Ich stehe außerhalb dieses Systems und sehe nicht, wie ich in dasselbe eingereiht werden könnte; es scheint keine Möglichkeit zu geben, einen Platz in demselben zu erlangen, außer wenn man darin geboren wird oder von einem anderen ebenso organisierten Gemeinwesen zugewandert kommt.«
Dr. Leete lachte herzlich. »Ich gebe zu,« sagte er, »daß unsere Staatseinrichtung insofern mangelhaft ist, als in derselben für Fälle, wie der Ihrige, keine Vorkehrungen getroffen sind. Wie Sie sehen, hat niemand daran gedacht, daß die Welt einmal auf einem anderen als dem gewöhnlichen Wege einen Zuwachs erhalten könnte. Sie brauchen jedoch nicht zu fürchten, daß wir nicht einen Platz und geeignete Beschäftigung seiner Zeit für Sie finden werden. Sie sind bis jetzt nur mit den Mitgliedern meiner Familie in Berührung gekommen; aber Sie müssen nicht glauben, daß wir aus Ihrer Existenz ein Geheimnis gemacht haben. Im Gegenteil hat Ihr Fall schon vor Ihrer Wiederauferweckung und seitdem noch vielmehr allgemein das höchste Interesse erregt. In Rücksicht auf Ihren schonungsbedürftigen Zustand hielt man es für das Beste, daß ich Sie zuerst unter meine ausschließliche Obhut nähme und daß Sie weitere Bekanntschaften nicht eher machen sollten, als bis Sie durch mich und meine Familie eine allgemeine Vorstellung davon erhalten hätten, in was für eine Art von Welt Sie zurückgekehrt sind. Eine geeignete Stellung für Sie in der Gesellschaft zu finden, darüber war man keinen Augenblick in Verlegenheit. Wenigen von uns ist es gegeben, der Nation einen so großen Dienst zu erweisen, wie Sie es werden thun können, wenn Sie, woran Sie übrigens noch lange nicht denken dürfen, mein Haus verlassen werden.«
»Was könnte ich denn thun?« fragte ich. »Vielleicht denken Sie, daß ich ein Gewerbe, eine Kunst verstehe, oder mir sonst besondere Fertigkeiten angeeignet habe. Ich versichere Sie aber, daß das keineswegs der Fall ist. Ich habe in meinem Leben nie einen Dollar verdient und nie eine Stunde lang gearbeitet. Ich bin stark und könnte vielleicht ein gewöhnlicher Arbeiter werden, mehr aber nicht!«
»Wenn das der erfolgreichste Dienst wäre, den Sie der Nation leisten könnten, so würden Sie finden, daß dieser Beruf für ebenso ehrenvoll gehalten wird, wie irgend ein anderer,« erwiderte Dr. Leete; »aber Sie können etwas anderes besser leisten. Sie sind allen unsern Geschichtsforschern bei weitem überlegen in Bezug auf Fragen, welche den socialen Zustand am Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts betreffen, einer Periode, welche für uns ein ganz besonders hervorragendes Interesse besitzt. Wenn Sie seiner Zeit hinreichend mit unsern Einrichtungen sich werden vertraut gemacht haben und bereit sein werden, uns über diejenigen Ihrer eignen Zeit zu belehren, so werden Sie eine Stelle als Lehrer der Geschichtswissenschaft an einer unserer Universitäten offen finden.«
»Sehr gut! wirklich sehr gut!« sagte ich und atmete erleichtert auf, da die Angelegenheit, auf welcher dieser so praktische Vorschlag sich bezog, mich bereits beunruhigt hatte. »Wenn Ihre Landsleute sich wirklich so sehr für das neunzehnte Jahrhundert interessieren, dann würde das allerdings eine Beschäftigung sein, die wie für mich gemacht wäre. Ich glaube kaum, daß sich sonst für mich irgend eine Thätigkeit finden ließe, durch die ich mein Brot verdienen könnte; aber das könnte ich sicher ohne Überhebung behaupten, daß ich für eine Stellung wie die von Ihnen beschriebene, eine gewisse besondere Befähigung habe.«