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Die Persönlichkeit Edith Leetes hatte natürlich von vornherein einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, seit ich in so sonderbarer Weise ein Gast in ihrem elterlichen Hause geworden war; und es war zu erwarten, daß sich nach den Ereignissen des letzten Abends meine Gedanken mehr denn je mit ihr beschäftigen würden. Von Anfang an war mir die ihr eigene heitere Offenheit und treuherzige Aufrichtigkeit aufgefallen, die mehr der eines edlen und unschuldigen Knaben glich, als der irgend eines Mädchens, das ich je gekannt hatte. Ich wünschte zu erfahren, wie weit diese bezaubernde Eigenschaft ihr eigentümlich und wie weit sie möglicherweise eine Folge von Veränderungen in der socialen Stellung der Frauen sei, die seit meiner Zeit stattgefunden haben mochten. Da sich im Laufe jenes Tages, als ich mit Dr. Leete allein war, Gelegenheit fand, so lenkte ich unser Gespräch darauf hin.
»Da die Frauen heutzutage von der Bürde der Haushaltung befreit sind,« sagte ich, »so haben sie Wohl keine andere Beschäftigung, als der Pflege ihrer Schönheit und Anmut zu leben.«
»Was uns Männer anbelangt,« erwiderte Dr. Leete, »so würden wir meinen, daß sie reichlich ihren Unterhalt bezahlten, um eine Ihrer Ausdruckweisen zu brauchen, wenn sie sich auf jene Beschäftigung beschränkten; aber Sie können sicher sein, daß sie viel zu viel Stolz haben, als daß sie einwilligen sollten, bloße Pfründnerinnen der Gesellschaft zu sein, selbst, wenn dies die Vergeltung dafür sein sollte, daß sie dieselbe zieren. Die Befreiung von der Hausarbeit war ihnen allerdings willkommen, weil diese nicht nur an sich selbst ausnehmend lästig, sondern zudem, mit dem Kooperativsystem verglichen, die äußerste Kraftvergeudung war: aber sie nahmen jene Erleichterung nur darum an, um in anderer, wirksamerer sowohl als angenehmerer Weise zum allgemeinen Wohle beitragen zu können. Unsere Frauen sowohl wie unsre Männer sind Glieder des Heeres der Arbeit und verlassen dieses nur, wenn Mutterpflichten sie in Anspruch nehmen. Das Resultat ist, daß die meisten Frauen zu der einen oder anderen Zeit ihres Lebens etwa fünf, zehn oder fünfzehn Jahre dienen, während die Kinderlosen die volle Dienstzeit durchmachen.«
»Die Frau, welche heiratet, verläßt also nicht notwendig den industriellen Dienst?« fragte ich.
»So wenig wie der Mann,« erwiderte der Doktor. »Warum in aller Welt sollte sie es denn? Die verheirateten Frauen haben jetzt, wie Sie wissen, keine Haushaltspflichten, und der Ehemann ist doch nicht ein kleines Kind, daß er gewartet werden müßte.«
»Man hielt es für eine der beklagenswertesten Seiten unserer Civilisation,« sagte ich, »daß wir von den Frauen so viel Arbeit verlangten; aber es scheint mir, Sie nutzen dieselben noch mehr aus, als wir es thaten.«
Dr. Leete lachte. »In der That, das thun wir, gerade so, wie wir die Männer noch mehr ausnutzen. Indessen sind die Frauen dieser Zeit sehr glücklich und die Frauen des neunzehnten Jahrhunderts waren, wenn die Berichte ihrer Zeitgenossen uns nicht gänzlich irreführen, sehr unglücklich. Der Grund davon, daß die Frauen heutzutage so viel tüchtigere Mitarbeiter der Männer und zu gleicher Zeit so glücklich sind, ist der, daß wir in Bezug auf ihre Arbeit wie in Bezug auf die der Männer das Prinzip befolgen, jedem Menschen die Art der Beschäftigung zuzuweisen, für welche er am besten geeignet ist. Da die Frauen den Männern an Kraft nachstehen und auch aus anderen Gründen für gewisse Gewerbebetriebe nicht geeignet sind, so stehen die ihnen vorbehaltenen Beschäftigungsarten und die Bedingungen, unter denen sie dieselben betreiben, in Beziehung zu diesen Thatsachen. Die schwereren Arbeiten werden überall den Männern, die leichteren den Frauen vorbehalten. Unter keinen Umständen dürfen die Frauen einer Beschäftigung nachgehen, die nicht, sowohl was die Art als was das Maß der Arbeit anbetrifft, ihrem Geschlechte vollkommen entspricht. Zudem sind die Arbeitsstunden der Frauen beträchtlich geringer als die der Männer, sie erhalten öfter Ferien und es ist große Sorge getroffen, daß sie ruhen können, wenn sie dessen bedürfen. Die Männer dieser Zeit wissen es so wohl zu würdigen, daß sie der Schönheit und Anmut der Frauen den Hauptreiz ihres Lebens und den mächtigsten Antrieb zur Anspannung aller Kräfte verdanken, daß sie ihnen überhaupt nur deshalb zu arbeiten gestatten, weil sie klar erkennen, daß ein gewisses Maß regelmäßiger Arbeit von solcher Art, wie sie ihren Fähigkeiten entspricht, während der Zeit der größten Körperkraft für Leib und Seele wohlthätig ist. Wir glauben, daß die prächtige Gesundheit, welche unsre Frauen von denen Ihrer Zeit unterscheidet, die so allgemein kränklich gewesen zu sein scheinen, großenteils dem Umstände zuzuschreiben ist, daß allen gleicherweise eine gesunde und anregende Beschäftigung zugewiesen ist.«
»Wenn ich Sie recht verstehe,« sagte ich, »gehören auch die Frauen dem Arbeiterheere an; aber wie können sie hinsichtlich der Leitung unter demselben System stehen, wie die Männer, wenn die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, so ganz andere sind?«
»Sie stehen auch unter einer ganz anderen Leitung,« erwiderte Dr. Leete, »und bilden eher eine Hilfstruppe, als einen integrierenden Teil des Heeres der Männer. Sie stehen unter dem Oberbefehl einer Frau und auch sonst ausschließlich unter weiblicher Leitung. Diese Oberbefehlshaberin, wie ebenso die höheren Betriebsbeamten, werden von der Gesamtheit der Frauen gewählt, welche ihre Dienstzeit durchgemacht haben, entsprechend der Art, wie die Offiziere des Männerheeres und der Präsident des Staates gewählt werden. Die Oberbefehlshaberin des Frauenheeres hat Sitz im Kabinett des Präsidenten und ein Veto bei allen Maßregeln, welche die Frauenarbeit betreffen, bis die Frage durch den Kongreß entschieden wird. Als ich von der Gerichtsordnung sprach, hätte ich noch erwähnen sollen, daß wir in unsern Gerichten ebensowohl wie Männer so auch Frauen haben, welche von der Oberbefehlshaberin der Frauen ernannt werden. Streitfälle, in welchen beide Parteien Frauen sind, werden von ihnen abgeurteilt; und wenn ein Mann und eine Frau die streitenden Parteien sind, so muß ein Richter und eine Richterin dem Urteil zustimmen.«
»Die Frauenwelt scheint in Ihrem System wie ein Staat im Staate organisiert zu sein,« sagte ich.
»In gewisser Weise allerdings,« erwiderte Dr. Leete; »aber dieser ›Staat‹ ist ein solcher, von dem, wie Sie zugeben werden, der Nation keine große Gefahr droht. Der Mangel irgendwelcher derartigen Anerkennung der verschiedenen Individualität der Geschlechter war einer der zahllosen Fehler Ihrer Gesellschaftsordnung. Die leidenschaftliche Anziehung, die zwischen Mann und Frau besteht, hat nur zu oft verhindert, daß die tiefe Verschiedenheit erkannt wurde, welche die Mitglieder des einen Geschlechts denen des andern in vielen Beziehungen fremd und sie der Sympathie nur mit denen ihres eigenen fähig macht. Gerade daß man den Verschiedenheiten der Geschlechter freien Spielraum gewährte, anstatt, wie es anscheinend das Bemühen einiger Reformer Ihrer Zeit war, zu versuchen sie zu vernichten, hat die Freude, welche sie an sich selbst, und den Reiz, welche sie füreinander haben, in gleichem Maße erhöht. Zu Ihrer Zeit gab es keine Laufbahn für die Frauen, in welcher sie nicht in einen unnatürlichen Wettbewerb mit den Männern geraten wären. Wir haben ihnen eine eigene Welt mit eigenen Bahnen, Wetteifer und Ehrgeiz erschlossen, und ich versichere Ihnen, sie sind sehr glücklich darin. Uns scheint, daß die Frauen mehr als irgend eine andere Klasse die Opfer Ihrer Civilisation waren. Trotz der langen Zeit, die inzwischen verflossen ist, liegt für uns etwas Ergreifendes in dem Schauspiel ihres eintönigen, unentwickelten Lebens, das im Ehestande vollends verkrüppelte, ihres engen Horizonts, der so oft physisch durch die vier Wände des Hauses und moralisch durch einen kleinen Kreis persönlicher Interessen begrenzt war. Ich spreche jetzt nicht von der ärmeren Klasse, die sich gewöhnlich zu Tode arbeitete, sondern von der wohlhabenden und reichen. Aus den großen Sorgen sowohl wie den kleinen Verdrießlichkeiten des Lebens konnten sie sich nicht in die freie Luft der Außenwelt allgemein menschlicher Angelegenheiten oder zu irgend welchen Interessen, außer denen der Familie, hinausretten. Solch‹ eine Existenz würde den Männern Gehirnerweichung zugezogen oder sie verrückt gemacht haben. Das ist jetzt alles anders. Heutzutage hört man von keiner Frau den Wunsch, ein Mann zu sein, noch von den Eltern das Verlangen, lieber Söhne zu bekommen als Töchter. Unsere Mädchen sind jetzt ebenso voll Ehrgeiz in ihrer Laufbahn, wie die Knaben. Die Heirat bedeutet für sie keine Einkerkerung und dieselbe trennt sie in keiner Weise von den großen Interessen der Gesellschaft. Nur Wenn die Mutterschaft den Geist der Frau mit neuen Interessen erfüllt, zieht sie sich eine Zeitlang aus der Welt zurück. Später und zu jeder Zeit kann sie an ihren Platz unter den Kameradinnen zurückkehren, und sie braucht niemals den Zusammenhang mit ihnen zu verlieren. Die Frauen sind heutzutage ein sehr glückliches Geschlecht, wenn wir ihren Zustand mit dem vergleichen, den sie bisher stets in der Weltgeschichte gehabt haben, und ihr Vermögen, die Männer zu beglücken, hat sich natürlich im gleichen Verhältnisse gesteigert.«
»Ich würde es für möglich halten,« sagte ich, »daß das Interesse, welches die Mädchen für ihre Laufbahn als Mitglieder des Arbeiterheeres und als Kandidatinnen für die dort zu erlangenden Auszeichnungen fühlen, die Wirkung hat, sie vom Heiraten abzuschrecken.«
Dr. Leete lächelte. »Haben Sie darum keine Furcht, Herr West,« erwiderte er. »Der Schöpfer hat es sehr fürsorglich so eingerichtet, daß, welche andere Veränderungen in den Neigungen der Männer und Frauen mit der Zeit auch eintreten mögen, doch die Anziehungskraft, welche sie aufeinander ausüben, die gleiche bleibt. Das wird schon durch die Thatsache bewiesen, daß Ehen selbst in einem Zeitalter wie dem Ihrigen geschlossen wurden, wo der Kampf ums Dasein den Menschen wenig Zeit für andere Gedanken gelassen haben muß, und wo die Zukunft so ungewiß war, daß es oft wie ein verbrecherisches Wagnis erschienen sein muß, die elterliche Verantwortlichkeit zu übernehmen. Was die Liebe, wie sie heutzutage ist, anbelangt, so sagt einer unserer Schriftsteller, daß der leere Raum, welcher durch Beseitigung der Sorge um den Unterhalt in der Seele der Männer und Frauen entstanden ist, gänzlich durch jene Leidenschaft ausgefüllt worden sei. Das aber, bitte ich Sie zu glauben, ist etwas übertrieben. Im übrigen ist die Heirat so weit davon entfernt, in der Laufbahn einer Frau ein Hemmnis zu sein, daß gerade im Gegenteil die höheren Stellen in dem weiblichen Arbeiterheere nur solchen Frauen anvertraut werden, welche sowohl Gattinnen als Mütter gewesen sind, da sie allein ihr Geschlecht voll repräsentieren.
»Werden an die Frauen ebenso wie an die Männer Kreditkarten ausgegeben?«
»Gewiß.«
»Der Kredit der Frauen lautet wohl auf geringere Summen, da sie infolge ihrer Familienpflichten ihre Arbeit häufig unterbrechen müssen?«
»Geringere!« rief Dr. Leete aus. »O nein! Der Unterhalt aller unsrer Leute ist der gleiche. Es giebt von dieser Regel keine Ausnahme; aber wenn, mit Rücksicht auf die Unterbrechungen, von denen Sie reden, ein Unterschied gemacht werden sollte, so würde es der sein, daß der Kredit der Frauen größer und nicht kleiner gemacht werden würde. Können Sie sich einen Dienst denken, der einen größeren Anspruch auf die Dankbarkeit der Nation gäbe, als das Gebären und Ernähren der Kinder der Nation? Nach unserer Ansicht macht sich niemand so verdient um die Welt, als gute Eltern. Keine Aufgabe ist so selbstlos, so ohne Vergeltung, außer der durch das eigene Herz, wie die Erziehung der Kinder, die dereinst, wenn wir dahingegangen sind, füreinander die Welt ausmachen werden.«
»Aus dem, was Sie gesagt haben, scheint zu folgen, daß die Frauen in ihrem Unterhalt in keiner Weise von ihren Gatten abhängig sind.«
»Natürlich sind sie es nicht,« erwiderte Dr. Leete; »und ebensowenig sind die Kinder abhängig von ihren Eltern, das heißt, was ihren Unterhalt anbetrifft, obwohl sie es natürlich hinsichtlich der Pflichten der Zuneigung sind. Wenn das Kind herangewachsen ist, wird seine Arbeit das Gemeingut vermehren, nicht das seiner Eltern, welche tot sein werden, und es ist daher angemessen, daß es aus dem Gemeingut ernährt wird. Die Abrechnung einer jeden Person, sei sie Mann, Weib oder Kind, müssen Sie wissen, findet stets direkt mit der Nation statt und nie durch irgend eine Zwischenperson, ausgenommen natürlich, daß die Eltern in einem gewissen Umfange für die Kinder als deren Vormünder handeln. Sie sehen also, daß das Verhältnis der Individuen zur Nation, ihre Mitgliedschaft in derselben es ist, was sie zum Lebensunterhalt berechtigt; und dieses Recht steht in keinerlei Verbindung mit ihren Verhältnissen zu anderen Individuen, welche gleich ihnen Mitglieder der Nation sind. Daß irgend eine Person in ihren Mitteln zum Lebensunterhalt von einer anderen abhängig sein sollte, würde das moralische Gefühl verletzen und auch auf Grund keiner vernünftigen Socialtheorie zu verteidigen sein. Was würde bei einer solchen Anordnung aus der persönlichen Freiheit und Würde werden? Ich weiß, daß Sie im neunzehnten Jahrhundert sich frei nannten. Die Bedeutung des Wortes konnte damals aber keineswegs die gewesen sein, welche es jetzt hat, sonst würden Sie es sicherlich nicht auf eine Gesellschaft angewandt haben, in der fast jedes Mitglied hinsichtlich der notwendigsten Mittel zum Leben in bitterer Abhängigkeit von anderen stand: die Armen waren von den Reichen, die Arbeiter von den Unternehmern, die Frauen von den Männern, die Kinder von den Eltern abhängig. Anstatt das, was die Nation produzierte, direkt an die Mitglieder derselben zu verteilen, was als das natürlichste und nächstliegende Verfahren erscheinen sollte, macht es wirklich den Eindruck, als ob Sie ihren Geist angestrengt hätten, ein System der Verteilung von Hand zu Hand auszusinnen, welches für alle Klassen der Empfänger ein möglichst großes Maß persönlicher Demütigung mit sich führte.
»Was die materielle Abhängigkeit der Frauen von den Männern anbetrifft, welche damals so gewöhnlich war, so mag sie ja bei Liebesheiraten die natürliche Zuneigung erträglich gemacht haben, obwohl ich meinen sollte, daß sie für selbstbewußte Frauen immer demütigend geblieben ist Wie aber muß sie in den unzähligen Fällen gewesen sein, wo die Frauen, unter der Form der Ehe oder ohne diese Form, gezwungen waren, sich den Männern zu verkaufen, um leben zu können? Selbst Ihre Zeitgenossen, so unempfindlich sie auch gegen die empörendsten Verhältnisse ihrer Gesellschaft waren, scheinen den Gedanken gehabt zu haben, daß hier nicht alles so sei, wie es sein sollte; aber doch auch nur aus Mitleid beklagten sie das Los der Frauen. Es fiel ihnen nie ein, daß es Raub sowohl wie Grausamkeit war, wenn die Männer die gesamten Erzeugnisse der Welt an sich rissen und die Frauen um ihren Anteil bitten und betteln ließen. – Aber o Himmel, da rede ich mich ja wirklich in einen Eifer, Herr West, als ob der Raub, das Leiden und die Demütigung, welche diese armen Frauen erduldet haben, nicht schon seit einem Jahrhundert vorüber, oder als ob Sie für etwas verantwortlich wären, was Sie ohne Zweifel eben so sehr wie ich beklagt haben!«
»Ich muß meinen Teil der Verantwortlichkeit für die Welt, wie sie damals war, tragen,« erwiderte ich. »Alles, was ich zu meiner Entschuldigung sagen kann, ist dies, daß, bevor nicht die Nation für das gegenwärtige System genossenschaftlicher Produktion und Verteilung reif war, keine durchgreifende Verbesserung in der Stellung der Frau möglich war. Die Wurzel ihrer Schwäche war, wie Sie selbst bemerkt haben, der Umstand, daß sie in ihrem Lebensunterhalte vom Manne abhängig war: und ich kann mir keine andere Gesellschaftsordnung, als die, welche Sie eingeführt haben, denken, welche die Frau von der Herrschaft des Mannes, wie auch zugleich den einen Mann von der Herrschaft anderer Männer, befreit haben würde. Ich vermute übrigens, daß eine so gänzliche Wandlung in der Stellung der Frauen nicht stattgefunden haben kann, ohne die geselligen Beziehungen der Geschlechter wesentlich zu beeinflussen. Das wird ein sehr interessantes Studium für mich sein.«
»Die hauptsächlichste Veränderung, welche Sie bemerken werden,« sagte Dr. Leete, »wird, denke ich, in der völligen Freiheit und Unbefangenheit liegen, welche diese Beziehungen jetzt kennzeichnet, im Gegensatze zu den verkünstelten Formen, welche zu Ihrer Zeit in ihnen geherrscht zu haben scheinen. Die Geschlechter verkehren jetzt auf vollkommen gleichem Fuße und freien einander nur aus Liebe. Zu Ihrer Zeit machte die Thatsache, daß die Frauen in ihrem Unterhalt von den Männern abhängig waren, die Frauen in Wirklichkeit zu dem hauptsächlich gewinnenden Teile. Diese Thatsache scheint, soweit wir nach den zeitgenössischen Berichten urteilen können, unter den niederen Klassen mit cynischer Offenheit anerkannt worden zu sein, während sie in den feineren Gesellschaftskreisen durch ein System gekünstelter Formen bemäntelt wurde, welches die gerade entgegengesetzte Meinung erwecken sollte, nämlich daß der Mann der hauptsächlich gewinnende Teil sei. Um diesen konventionellen Schein aufrecht zu erhalten, war es notwendig, daß stets der Mann die Rolle des Freiers spielte. Nichts wäre daher für unschicklicher gehalten worden, als wenn eine Frau ihre Zuneigung zu einem Manne verraten hätte, bevor er den Wunsch ausgedrückt hatte, sie zu heiraten. Ja, wir haben wirklich in unsern Bibliotheken von Schriftstellern Ihrer Tage Bücher, die zu keinem anderen Zwecke geschrieben worden waren, als um die Frage zu erörtern, ob unter irgend welchen denkbaren Umständen eine Frau, ohne ihrem Geschlechte Unehre zu machen, unaufgefordert ihre Liebe offenbaren dürfe. Alles dies erscheint uns äußerst absurd, und doch wissen wir, daß unter den damals gegebenen Umständen dieses Problem eine ernsthafte Seite haben mochte. Denn wenn eine Frau dadurch, daß sie einem Manne ihre Liebe gestand, thatsächlich ihn aufforderte, die Last ihres Unterhalts auf sich zu nehmen, so ist es leicht zu sehen, daß Stolz und Zartgefühl wohl das Sehnen des Herzens zurückdrängen konnten. Wenn Sie in unsre Gesellschaften kommen werden, Herr West, müssen Sie darauf gefaßt sein, daß unsere jungen Leute Ihnen über diesen Punkt viele Fragen vorlegen werden, da sie sich natürlich für diese Seite der alten Sitten sehr interessieren.«Ich kann sagen, daß Dr. Leetes Voraussage durch meine Erfahrung vollkommen bestätigt worden ist. Das Maß des Vergnügens, welches die jungen Leute und besonders die Mädchen daraus ziehen, was sie die Wunderlichkeiten des Hofmachens im neunzehnten Jahrhundert zu nennen belieben, ist grenzenlos.
»Und so erklären also die Mädchen des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Liebe?«
»Wenn es ihnen gefällt,« erwiderte Dr. Leete. »Sie haben nicht mehr Grund als die sie liebenden Männer, ihre Gefühle zu verbergen. Koketterie würde bei einem Mädchen ebenso verächtlich sein, wie bei einem Manne. Affektierte Kälte, die zu Ihrer Zeit selten einen Liebenden täuschte, würde ihn jetzt völlig täuschen, denn niemand denkt mehr daran, sie anzunehmen.«
»Ein Ergebnis, das aus der Unabhängigkeit der Frauen folgen muß, kann ich selbst sehen,« sagte ich. »Es kann jetzt nur noch Heiraten aus Liebe geben!«
»Das versteht sich von selbst,« erwiderte Dr. Leete.
»Eine Welt sich zu denken, in der es nichts als reine Liebesheiraten giebt! Ach, Dr. Leete, wie ganz unmöglich es Ihnen ist, sich vorzustellen, welch' erstaunliche Erscheinung solch' eine Welt für einen Mann des neunzehnten Jahrhunderts ist!«
»Doch, einigermaßen kann ich es mir vorstellen,« entgegnete der Doktor. »Aber die von Ihnen gepriesene Thatsache, daß es nichts als Liebesheiraten giebt, bedeutet sogar noch mehr, als Sie sich vielleicht im ersten Augenblicke vergegenwärtigen. Sie bedeutet, daß zum erstenmale in der Menschengeschichte das Prinzip der Geschlechtswahl mit seiner Tendenz, die besseren Typen der Gattung zu erhalten und fortzupflanzen, und die schlechteren aussterben zu lassen, ungehinderte Wirksamkeit hat. Die Bedrängnisse der Armut, das Bedürfnis, ein Heim zu haben, führen die Frauen nicht mehr in Versuchung, zu Vätern ihrer Kinder Männer anzunehmen, welche sie weder lieben noch achten können. Reichtum und Stellung ziehen nicht mehr die Aufmerksamkeit von den persönlichen Eigenschaften ab. Nicht mehr ›vergoldet Geld des Narren enge Stirn.‹ Die Gaben der äußeren Persönlichkeit, des Geistes und Charakters, wie Schönheit, Witz, Beredsamkeit, Genie, Mut sind der Übertragung auf die Nachkommenschaft sicher. Jede Generation wird durch etwas feinere Maschen gesiebt, als die ihr vorangehende. Die Eigenschaften, welche die Menschennatur bewundert, werden erhalten, die, welche ihr abstoßend sind, werden ausgemerzt. Es giebt natürlich sehr viele Frauen, die mit der Liebe Bewunderung verbinden müssen und eine ansehnliche Heirat zu machen suchen; aber diese folgen nicht weniger demselben Gesetze: denn eine ansehnliche Heirat machen heißt jetzt nicht, Männer mit Geld oder Titeln, sondern solche heiraten, welche sich durch die Tüchtigkeit oder den Glanz ihrer der Menschheit geleisteten Dienste über ihre Mitbürger erhoben haben. Diese bilden heutzutage die einzige Aristokratie, mit der eine Verbindung einzugehen Ehre bringt.
»Sie sprachen vor ein paar Tagen von der körperlichen Überlegenheit unseres Volkes im Vergleich mit Ihren Zeitgenossen. Wichtiger vielleicht als irgend eine der damals von mir erwähnten Ursachen einer Verbesserung der Gattung ist der Einfluß gewesen, welchen die ungehinderte Geschlechtswahl auf die Beschaffenheit zweier oder dreier aufeinander folgender Generationen ausgeübt hat. Ich glaube, daß wenn Sie unser Volk erst genauer beobachtet haben, Sie finden werden, daß diese Vervollkommnung nicht bloß dessen physische, sondern auch dessen geistige und moralische Seite betrifft. Es wäre seltsam, wenn es sich anders verhielte; denn nicht nur wirkt jetzt eines der großen Naturgesetze in voller Freiheit zum Heile der Gattung, sondern ein tiefes moralisches Gefühl ist ihm noch zu Hilfe gekommen. Der zu Ihrer Zeit die Gesellschaft beherrschende Individualismus wirkte nicht nur jedem lebendigen Gefühl der Brüderlichkeit und Interessengemeinschaft unter den gleichzeitig lebenden Menschen entgegen, sondern er ließ auch das Bewußtsein der Verantwortlichkeit der gegenwärtigen für die folgende Generation nicht aufkommen. Heute ist diese Verantwortlichkeit, welche in allen früheren Zeitaltern tatsächlich nicht anerkannt worden war, eine der großen ethischen Ideen der Gattung geworden, welche durch die tiefe Überzeugung der Pflicht den natürlichen Antrieb, die Besten und Edelsten des andern Geschlechts zur Ehe zu wählen, noch verstärkt. Das Resultat ist, daß alle die Ermutigungen und Reizmittel aller Art, welche wir beschafft haben, um Fleiß, Talent, Genie und jegliche Trefflichkeit zu entwickeln, in ihrer Wirkung, die sie auf die jungen Männer ausüben, gar nicht zu vergleichen sind mit der Thatsache, daß unsre Frauen als Richter der Gattung über ihnen thronen und es sich vorbehalten, durch ihre eigene Person die Sieger zu belohnen. Von all' den Peitschen und Sporen und Lockmitteln und Preisen ist keines gleich dem Gedanken, daß keines der strahlenden Antlitze sich dem Trägen zuwenden wird.
»Ehelose Männer sind heutzutage fast ausnahmslos solche, denen es mißlungen ist, ihre Lebensaufgabe mit Ehren zu erfüllen. Die Frau muß Mut haben, und noch dazu eine sehr schlechte Art von Mut, welche sich durch Mitleid für einen dieser Unglücklichen dazu bewegen läßt, der öffentlichen Meinung – denn sonst ist sie frei – so sehr zu trotzen, daß sie ihn zum Gatten nimmt. Ich sollte hinzufügen, daß sie das Urteil ihres eigenen Geschlechts strenger und unwiderstehlicher finden würde, als das des anderen Elements der öffentlichen Meinung. Unsere Frauen sind sich ihrer Verantwortlichkeit als Hüter der kommenden Welt, denen die Schlüssel der Zukunft anvertraut sind, voll bewußt. Ihr Pflichtgefühl in dieser Hinsicht steigert sich zu einer Empfindung religiöser Weihe. Es ist ein Kultus, in dem sie ihre Töchter von Kindheit an erziehen.«
Nachdem ich an jenem Abend in mein Zimmer gegangen war, blieb ich noch lange auf und las einen Roman von Berrian, welchen Dr. Leete mir gegeben hatte. Das Thema desselben drehte sich um eine Situation, welche mit jener, in seinen letzten Worten angedeuteten, modernen Auffassung von der elterlichen Verantwortlichkeit in Beziehung stand. Ein Romanschriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts würde eine derartige Situation fast unfehlbar so behandelt haben, daß er im Leser eine krankhafte Sympathie mit der gefühlsseligen Selbstsucht der Liebenden und Unwillen gegen das ungeschriebene Gesetz, welches sie verletzten, erregt hätte. Ich brauche nicht näher auszuführen – denn wer hat nicht »Ruth Elton« gelesen – wie anders Berrian den Gegenstand darstellt, und mit wie gewaltiger Wirkung er den Grundsatz einschärft: »Unsere Macht über die Ungeborenen ist der Gottes gleich und unsre Verantwortlichkeit gleich der Seinen gegen uns. So wie wir unsre Pflicht gegen sie erfüllen, so möge Er mit uns verfahren.«