Alice Berend
Frau Hempels Tochter
Alice Berend

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Kein Großvater konnte sich solchen heißen Sommers entsinnen. Herr Otto und Specks waren sich einig 142 darüber, daß Hempels ungewöhnliches Glück hatten und übermütig vor Freude sein müßten.

Andere Leute wissen immer besser, wie es uns geht, als wir selbst.

Frau Hempels einzige Empfindung dieser Tage war die Angst, daß die Sonne noch näher rücken konnte. Wenn sie spätabends erschöpft auf einen Stuhl sank, blickte sie mißtrauisch zu dem Himmel auf, der sich endlich zu verdunkeln begann, und sagte, daß sie nicht gewußt hätte, daß die Sonne so nah kommen könne. Vielleicht sollte die Welt untergehen.

Aber Herr Otto, der trotz aller Arbeitsfülle die Zeitung las, erklärte ihr, daß es vor hundertundsechs Jahren noch heißer gewesen wäre, ohne daß die Erde dabei Schaden genommen hätte. –

Der See glich einer guten Bouillon mit Fettaugen. Aber unermüdlich kamen die erhitzten Großstädter, um sich mit Jubelgeschrei hineinzuwerfen.

Hempel hämmerte zwischen zwei Bretterwänden neben dem Eingang schiefe Absätze gerade, im Schweiße seines Angesichts. Es wurde ihm erst jetzt klar, auf wie schiefen Füßen alles lief und stand.

Laura saß an der Kasse, ihr Kopf hob sich auf dem schlanken Hals, den ein Spitzenkragen freiließ, wie eine Blume über dem hellgrünen Zahlbrett ab. Sie sah nichts anderes als heiße Hände, die Nickelstücke auf das Holz warfen.

Hinter ihr dudelte der laute Lärm der Wunderwiese, 143 Drehorgeln leierten ineinander, Trompetenstöße schmetterten. Sie hörte das Surren der Schaukeln und das Geklingel der Karussellglocken.

Aber es hieß aufmerksam zu sein beim Zählen und Wechseln und die Wunderwiese zu vergessen.

Dicht neben der Kasse stand Schutzmann Degenbrecht und bewachte viele Stunden des Tages das Gedränge vor dem Zahlbrett, obwohl das nicht zu seinen Dienstvorschriften gehörte.

Es ist immer schön, wenn jemand mehr tut, als sein Beruf von ihm verlangt.

Fest und stämmig stand er auf seinen kräftigen Beinsäulen und sah scharf zu, daß keine der vielen heißen Hände den Schätzen der Kassiererin zu nahe kam.

Laura hatte wenig Zeit für ihn übrig. Nur selten tauschten sie einige kurze Sätze miteinander.

Er fragte sie, ob sie überhaupt wisse, daß er da sei.

Sie antwortete, daß man jemanden auch sehen könne, ohne mit ihm zu sprechen.

Nach einiger Zeit sagte er, daß es ungewöhnlich heiß sei.

Sie erwiderte, daß sie das ebenfalls finde und daß ihn der Helm gewiß in der Sonne drücke.

Sein rotes Gesicht wurde breit vor Freude, und er sagte bald darauf, daß es noch etwas Heißeres gäbe als die Sonne.

Laura sagte, daß sie sich das nicht denken könne. –

Am Mittsommertag erkundigte sich Schutzmann 144 Degenbrecht, ob Laura auch wisse, daß heute Sonntag und der längste Tag im Jahre sei.

Laura wechselte gerade ein größeres Geldstück und antwortete erst nach einer Weile, daß sie wisse, daß Sonntag sei, aber nicht, daß dieser Tag besonders lang werden sollte. Dann würde sie auch länger als sonst an der Kasse sitzen müssen.

Der Schutzmann machte ihr darauf den Vorschlag, am Nachmittag einmal ihrem Vater die Kasse zu überlassen. Heute kämen doch alle in den neuen Sonntagsschuhen, deren Absätze sie erst schief laufen mußten, und somit könnte er sein Schusterwerkzeug auf ein paar Stunden an den Nagel hängen.

Laura meinte, daß sie nicht zugucken wollte, wenn ihre Eltern arbeiteten.

Das wäre auch gar nicht nötig, erwiderte hierauf der Schutzmann. Sie könne derweil unter seinem Schutze die Wunderwiese besuchen.

Laura antwortete darauf gar nichts.

Nach recht langer Zeit sagte sie, daß sie die Wunderwiese sehr gern einmal im vollen Gange sehen möchte. Der Schutzmann holte seine große Nickeluhr aus der Tasche und sagte, daß er jetzt nach Frohndorf in Dienst müsse. Bis sechs Uhr hatte er den Verkehr am Bahnhof zu regeln, dann aber bekäme er Ablösung und Urlaub. Um sieben Uhr wollte er wieder hier sein und nachschaun, ob Fräulein Laura ebenfalls freie Zeit habe. Er salutierte und verschwand. –

145 Am Nachmittag saß Hempel im schwarzen Sonntagsanzug an der Kasse, und die Stammgäste neckten ihn und sagten: daß sich das Fräulein seit gestern sehr verändert habe.

Er aber war nur darauf bedacht, jedem richtig herauszugeben, und dachte schwitzend: Was um Himmelswillen will Linechen mit allem diesem Gelde machen?

Frau Hempel hatte nichts dagegen gehabt, daß Laura einmal aus dem Kassenkasten kroch und sich ein wenig auf der Wiese tummelte. Wenn es unter dem sicheren Schutz eines soliden Schutzmanns geschehen konnte.

Laura hatte ein zartes weißes Kleid angezogen, das ihre ganze Zierlichkeit zur Geltung brachte. Auf das hellbraune Haar hatte sie den feinen Sommerhut gesetzt, den im vergangenen Jahr Frau Leutnant ihrer Zofe geschenkt hatte.

So spähte sie vor der Haustür nach den blanken Knöpfen des Schutzmanns.

Wie erschrak sie, als plötzlich ein riesiger Mensch, der einen schwarzen Feiertagsanzug aus den Nähten zu sprengen drohte, vor ihr halt machte, lächelnd einen kleinen Strohhut zog und fragte, ob Fräulein Laura bereit sei. –

Schon ein fehlender Knopf kann viel verschulden. Hier aber vermißte man zwei ganze Reihen blanker Knöpfe.

Laura war mit ihnen auch das Blanke der Sonntagsfreude geschwunden. Das hier war ein Mann wie alle 146 anderen. Wo war die Uniform, die Würde gab und vor der von weitem schon alle Prügelnden auseinanderstoben. Wo war der blinkende Helm?

Sehr schweigsam schritt sie neben dem großen Schwarzrock der Wunderwiese zu. Schutzmann Degenbrecht bemerkte nichts. Große Freude macht uns blind gegen den Verdruß der Welt. Er war zufrieden mit Lauras Aussehen.

Im Trubel der Musik wurde Laura wieder fröhlicher. Man erkannte sie und ihren Begleiter an jeder Bude, und wie regierende Fürsten durften sie überall aus- und eingehen, ohne zu zahlen.

Laura spürte, daß sich die Welt drehte, als sie zehnmal auf einem Karussellpferd herumgeschwenkt war.

Sie schritten nun zu Melusine, der weltberühmten Brunnenfee.

Der Neger verkaufte die Karten vor dem Brunnen, wo man sich drängte und puffte. Tief unten tanzte Melusine.

Der Schutzmann beugte sich zuerst herunter und begann, behaglich zu schmunzeln.

»Lächelt sie beim Tanzen?« fragte Laura.

»Das kann man nicht wissen,« erwiderte Degenbrecht. Er sprach die Wahrheit. Obwohl man genug von Melusinen sah, konnte man dies nicht bemerken. Denn sie tanzte auf dem Kopf; ein Spiegelbild der Wahrheit. Immer wieder beugten sich neue Gesichter 147 lächelnd über den Brunnenrand. Neugier ist der Anfang aller Menschenkenntnis.

Tusnelda, die Löwenbraut, wollte Laura nicht sehen, weil sie den Löwen persönlich kannte. Dagegen zog es sie nach der Mitte der Wiese, wo der große Fesselballon hin und her wogte und atembeklemmend an dem schweren Anker zerrte, der seinen Flug hinderte.

Jetzt stieg er langsam in die Höhe. Laura folgte mit langgestrecktem Halse dem Fluge des sich wiegenden Ballons. Immer höher schwebte er. Um besser sehen zu können, trat sie einige Schritte zurück, wobei sie sich einem Herrn auf die Füße stellte.

Der Herr sagte: »Verzeihung, gnädiges Fräulein.« Aber als Laura sich verlegen lächelnd umwandte, sah sie, daß es Graf Egon von Prillberg gewesen war, den sie mit Füßen getreten hatte.

Er musterte den breitschultrigen Begleiter des jungen Mädchens, bis dieser verlegen wurde, sich verbeugte, die Hand salutierend an den Strohhut legte und: Schutzmann Degenbrecht, Revier Frohndorf, schnarrte.

Der Graf lüftete höflich den Hut und sagte: von Prillberg.

»Hoho,« schnalzte der Schutzmann beehrt und fragte, ob der Herr mit ihm und Fräulein Laura eine Gratisfahrt in die Lüfte machen wollte, denn sie hätten hier alles umsonst.

Der Ballon senkte sich jetzt, und im Gedränge der 148 auseinanderspringenden Menge erfuhr Graf Egon, daß alles dies, Wiese wie Badeanstalt, Hempels gehörte.

Er dankte liebenswürdig für die Einladung, die er nicht annehmen konnte, weil er jetzt in die Stadt zurück müßte. Doch wollte er bald an einem anderen Tage wiederkommen. Er grüßte noch einmal zurück, dann verschwand er im Gewühl des sich wieder zusammenschließenden Menschenknäuels.

Laura sagte, daß sie nach Hause gehen wolle. Sie hätte mehr gesehen, als sie erwartet hätte.


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