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Dr. Clusius mimte Napoleon nach einer gewonnenen Schlacht, kreuzte die Arme über der Brust, sah Hartwig durchbohrend an, schritt auf und ab, ohne ihn aus den Augen zu lassen, mit denen er ihn erstechen wollte, und wartete auf den köstlichen Moment, da der Gewaltige, der Präsident, kommen würde. Und dieser kam aufgeregt; Serenissimus mit Hakennase und Monokel, zehn bunte Bändchen am Aufschlag des Gehrockes, begrüßte beinahe kameradschaftlich den Chef der Sicherheitspolizei, betrachtete wohlwollend den seltsamen Krause, der ihm eigentlich nach Geburt gleichberechtigt war, finster den Verhafteten, sagte »Tach!« zum Protokollschreiber, und das erste Verhör begann.
Es wurde aber eigentlich gar kein Verhör. Hartwig erklärte kurz und bündig, Thomas Hartwig zu heißen, zweiunddreißig Jahre alt zu sein, in Köln als Sohn des verstorbenen Gymnasialprofessors Wilhelm Hartwig geboren, bisher unbescholten, evangelisch und im großen und ganzen mittellos und ohne feste Stellung zu sein. Dann aber:
»Und nun, meine Herren, bitte ich Sie, sich keine Mühe mehr zu geben, da ich keine weitere Frage beantworten werde. Nicht einmal die, ob ich schuldig oder unschuldig bin. Später, vor meinen wirklichen Richtern, werde ich mich vielleicht – ich weiß es heute noch nicht – äußern, bis dahin müssen Sie aber auf jedwede Unterhaltung mit mir verzichten.«
Der Präsident donnerte, Clusius schwitzte Blut, Krause lehnte gleichgültig, als ginge ihn die ganze Geschichte nichts an, an der Wand – es war alles vergebens. Worte wie »frecher Geselle«, »Flötentöne beibringen«, »Mordbube« fielen, ohne daß Hartwig auch nur mit der Wimper gezuckt hätte. Schließlich verlegte sich Clusius aufs Bitten.
»Hartwig, das Beweismaterial gegen Sie ist erdrückend, also halten Sie uns nicht unnütz auf! Die Briefe der fünf verschwundenen Mädchen wurden bei Ihnen gefunden, damit allein sind Sie schon vollständig überführt. Gestehen Sie ruhig ein, entlasten Sie Ihr Gewissen, das kann Ihnen, wenn es sich einmal um Umwandlung der Todesstrafe handelt, von Nutzen sein.«
»Bedauere,« sagte Hartwig höflich und schwieg.
Das Fräulein aus dem Annoncenbureau des »Generalanzeigers« erschien aufgeregt, erkannte in Hartwig sofort den Herrn, der anfangs Juni Annonce aufgegeben und die Antworten abgeholt hatte. Hartwig blieb stumm. Die Frauen, bei denen die Mädchen gewohnt, der Portier kamen und identifizierten Hartwig. Es blieb schließlich nichts anderes über, als ihn abführen und nach einer Zelle bringen zu lassen. Während aber die beiden hohen Beamten sich noch immer über die bodenlose Frechheit des Häftlings aufregten, schlich Krause den Polizisten nach und gab dem Aufseher des Polizeigefangenhauses Auftrag, Hartwig eine saubere, anständige Zelle zu geben, ihn allein zu lassen und seinen Wünschen, soweit es möglich sei, gerecht zu werden.
Es war inzwischen spät nachts geworden und Dr. Clusius begnügte sich für heute damit, durch einen Laufzettel die Berichterstatter sämtlicher Berliner Zeitungen für den nächsten Morgen zu sich zu bitten.
Die Mitteilungen über die Verhaftung des Schriftstellers Thomas Hartwig als vermutlichen Mörder der fünf Mädchen schlugen wie eine Bombe ein. Clusius gab einen kurzen Überblick über den Gang der Ereignisse, betonte, daß er und sein geschätzter Mitarbeiter Herr Krause noch nie vor einer so schwierigen Aufgabe gestanden wären, sagte bescheiden lächelnd: »Wir beide mußten unsere ganze kriminalistische Erfahrung, alles, was an »Witterung und Instinkt in uns liegt, zu Hilfe nehmen, um die Fährte des Mörders zu entdecken, und ich darf wohl behaupten, daß ich darüber manche schlaflose Nacht zugebracht habe.«
Zum Schluß aber machte er eine weitere sensationelle Mitteilung:
»Herr Krause, der, wie viele von Ihnen wohl wissen dürften, eigentlich Joachim Freiherr von Dengern heißt und Doktor der Rechte ist, wurde von dem Posten eines Vertragsbeamten der Kriminalpolizei enthoben und zum königlich preußischen Kriminalkommissär ernannt.«
Schon die Mittags- und Abendblätter veröffentlichten seitenlange Artikel, die Sensation und Aufregung war ungeheuer, den Zeitungsverkäufern wurden die Blätter aus den Händen gerissen, auf den Straßen bildeten sich Gruppen, die den einzig dastehenden Fall besprachen, und abends trug im Metropole-Theater der beliebte Berliner Stegreifhumorist Adolfo Butterblum die Geschichte des Blaubartes von Berlin in Balladenform halb schaurig, halb pikant, mit einigen politischen Andeutungen gewürzt und erotisch durchdacht, vor.
Aber die eigentliche Sensation begann erst. Die wahre Sensation war ja der Roman »Kämpfende Seelen«. Hatte man denn je erlebt, daß ein man denn je erlebt, daß ein waschechter fünffacher Raubmörder einen Roman geschrieben und dieser Roman sogar als Buch erschienen war? Nein, das war noch nie dagewesen und wieder einmal konnte man sehen, wie dieses Berlin allen anderen Großstädten an Möglichkeiten überlegen ist. Natürlich mußte man im Morgenblatt unbedingt Stichproben aus dem Roman haben und die wenigen Exemplare, die man in Berlin vorfand, wurden von den Berichterstattern sofort angekauft. Aber die Hauptredakteure entwanden den Berichterstattern die Bücher, lasen den Roman wirklich und am nächsten Morgen veröffentlichten kluge, feine Männer Feuilletons über die »Kämpfenden Seelen«, zeigten sich erschüttert, bezwungen, erklärten, vor einem psychologischen Rätsel zu stehen. Und der maßgebendste Literaturkritiker von Berlin schrieb:
»Ein Buch, das in gewaltigen Tiefen schürft, ein Buch voll menschlicher Güte und letzter Erkenntnis, ein Roman, von dem man fast sagen möchte, daß seit einem Jahrzehnt kein besserer geschrieben worden ist. Und der Verfasser dieses Romanes soll ein Unhold, ein grauenhafter Verbrecher, ein Räuber und Mörder sein? Welch düsteres Rätsel steckt hinter all dem, welche entsetzlichen Vorgänge müssen sich in dem Herzen und Gehirn dieses Thomas Hartwig abgespielt haben, bevor er aus seiner kühnen, hohen Geisteswelt in die Untiefen des Verbrechens gestiegen ist!«
Für den deutschen Buchhandel begannen welthistorische Tage. Ganz Deutschland, Österreich, die skandinavischen Länder schrien nach dem Roman »Kämpfende Seelen« und als sich die biederen Brüder Merker, die schon längst übereingekommen waren, die ganze Auflage als Makulatur zu verkaufen, von ihrem ersten Schrecken erholt hatten, rafften sie ihren nicht unerheblichen Geschäftssinn zusammen, erhöhten den Buchpreis auf das Dreifache, gaben Druckaufträge an die ersten Leipziger Druckereien, schlossen Verträge mit Expreßübersetzern ab und verkündeten nach einer Woche im Börsenblatt der Buchhändler, daß die ersten hunderttausend Exemplare ausverkauft seien und die geehrten Herren Sortimenter sich gedulden mögen, bis die nächsten hunderttausend fertiggestellt wären. Es wurde im Laufe der nächsten Wochen der größte Erfolg aller Zeiten, selbst »Biene Maja« mußte sich verkriechen, und als die französische, englische, russische, italienische, türkische, holländische, spanische und japanische Ausgabe erscheinen konnte, figurierte die deutsche Ausgabe mit einer Auflage von einer Million an der Spitze der Literaturgeschichte. Vom Leipziger Standpunkt betrachtet.
Hartwig hatte seinerzeit fünfzehn Prozent vom Ladenpreis vereinbart und die Hälfte von den Übersetzungshonoraren. Während er im Polizeigefängnis und dann bald im Untersuchungsgefängnis in Moabit seine Taktik des Schweigens fortsetzte, schwoll ein für ihn von den Brüdern Merker angelegtes Bankkonto von Tag zu Tag an. Hartwig hätte sich jetzt von Borchart verpflegen lassen, in Sekt baden, sich die teuersten Verteidiger nehmen können und wäre trotzdem ein schwerreicher Mann geblieben. Aber er tat nichts von alldem, aß einfach und bescheiden, las alte Bücher und weigerte sich nicht nur, vor dem Untersuchungsrichter Aussagen zu machen, sondern auch sich einem Rechtsfreund anzuvertrauen. Es mußte ihm schließlich von Gerichts wegen ein Verteidiger in der Person des Rechtsanwaltes Nagelstock gegeben werden. Aber auch ihm gegenüber blieb Hartwig auf dem Standpunkt:
»Ich habe nichts zu sagen! Ich muß meine Unschuld nicht beweisen, sondern die Anklagebehörde soll den Beweis für meine Schuld erbringen. Ich habe abgeschlossen und stehe dem Verlauf der Dinge gleichgültig gegenüber.«