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Joachim von Dengern hatte einen starken Mercedes-Wagen, Eigentum des Polizeipräsidiums, bestellt, den er nun bestieg, um nach dem Lützow-Ufer zu fahren. Unweit des Hauses, in dem Lotte Fröhlich bei Frau Lämmlein wohnte, ließ er halten, um sich in ein kleines Restaurant zu begeben, von dem aus er das Haus im Auge behalten konnte. Seine Kombination ging dahin, daß Lotte Fröhlich sicher der Aufführung im Kleist-Theater beiwohnen werde, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach in Begleitung ihrer Wirtin, Frau Lämmlein.
Eben hatte er einige Bissen verschlungen und gezahlt, als auch wirklich die beiden Damen das Haus verließen. Nun war die Bahn für ihn frei. Unbemerkt schlüpfte er ins Haustor, flog die zwei Treppen empor, stand vor der Tür zur Wohnung der Frau Lämmlein. Er setzte das Läutwerk in Tätigkeit, niemand meldete sich. Frau Lämmlein hielt kein Dienstmädchen. Ein Blick nach links und rechts, dann klirrte leise der Nachschlüssel und Dengern konnte die Wohnung betreten und sorgfältig hinter sich abschließen, begab sich direkt in das ihm schon flüchtig bekannte Zimmer des Fräulein Lotte Fröhlich, um es erst nach einer guten Viertelstunde zu verlassen. Unter dem Arm trug er ein kleines Bündel.
Ein viertel vor acht Uhr. Dengern gab dem Chauffeur eine Adresse im Norden Berlins und Auftrag, so rasch als statthaft zu fahren. In zehn Minuten war er an Ort und Stelle, nach weiteren zehn Minuten hatte er den Trödelladen des Herrn Goldlust wieder verlassen, und in dem Augenblick, als der Vorhang sich hob, ließ sich der Kriminalkommissär Dengern behaglich lächelnd auf seinen rückwärtigen Logensitz nieder.
Das Spiel begann und hielt das verwöhnte, sensationslüsterne, snobistische, gehetzte Berliner Premierenpublikum durch drei lange Akte in Atem. Kein stimmungstötendes Räuspern, kein Husten, kein Zischeln wurde laut, in andachtsvoller Stille folgte die Menge der Handlung.
Drei Menschen. Eine junge Frau, ihr Gatte, ein verträumter Gelehrter, dann beider Freund, ein Mann von Welt, Kultur und Temperament. Untrennbar diese Dreieinheit, voll Harmonie und echtester Freundschaft. Kein frivoler Betrug, kein grinsender Zynismus, sondern Ergänzung, Naturnotwendigkeit, mitleidvolle Liebe des Freundes zum Gatten. Dieser erfährt, daß der Freund der Geliebte seiner Frau ist. Schreit nicht nach Rache, spricht nicht von Betrug, anerkennt das Recht auch der Frau auf sich selbst, respektiert Elementares, resigniert und will weder die Frau noch den Freund verlieren. Die Idylle zu dritt, keusch und rein, solange kein Vierter von ihr weiß, würde fortdauern, wenn nicht eben dieser Vierte wäre. Die Menschen umher beginnen zu tuscheln und zu zischeln, gemeine Witze fliegen auf, es kommen anonyme Briefe, ein Winkelblatt schwelgt in Andeutungen. Die Schmutzflut braust über das Heim des Gelehrten, er, die Frau, der Freund beginnen ihr Dasein im Zerrspiegel der Umwelt zu sehen, der Gatte tötet sich, um den zwei anderen das Leben zu ermöglichen. Aber die Zweisamkeit ist nicht mehr, was die Dreisamkeit war, das Gespenst des Toten teilt das Brautbett, Bitterkeit und Vorwürfe schleichen sich ein, bis die beiden zermürbt, verzagt, gebrochen, angeekelt auseinandergehen.
Die edle Sprache, der meisterhafte Aufbau, die Kühnheit des Problems brachten dem Drama einen ungeheuren, widerspruchslosen Erfolg. Schon nach dem ersten Akt dröhnten Beifallssalven, nach dem zweiten schwieg das Publikum in tiefer Ergriffenheit, um dann in einen Sturm der Begeisterung auszubrechen, und nach Schluß tobte es so lange, bis Direktor Hohlbaum die Bühne betrat und eine Ansprache hielt:
»Der unglückliche Autor kann der Krönung seines Lebenswerkes nicht beiwohnen. Hinter Gefängnismauern büßt er entsetzliche Verbrechen, die wir, da wir sein Drama kennen, weniger als je zuvor verstehen können. Eine seltsame, tragische Vereinigung von Genie und Irrsinn erlebt die erschütterte Menschheit und wir können nichts tun, als die irdische und himmlische Gerechtigkeit anflehen, auf daß Thomas Hartwig, dessen Name aus der deutschen Literatur nicht mehr schwinden wird, in einer Heilstätte genesen und dem Leben wiedergegeben werde.«
Verwirrt, unsicher, verlegen klatschte das Publikum dem Direktor Beifall. Es hätte gar zu gerne »Hoch Hartwig!« gerufen, aber das ging denn doch nicht. Ein Mensch, der fünf Frauen ermordet hat – – –!
Die Kritiker rasten in ihre Redaktionen und schrieben Feuilletons, in denen die Bedeutung des Stückes restlos anerkannt wurde. Man hatte schließlich nicht immer so gute Gelegenheit, genau so zu schreiben, wie man empfand. Bei lebenden Autoren gab es allerlei Rücksichten, Bedenken, persönliche Angelegenheiten, über die man nicht ganz hinwegkam. Aber Hartwig war tot oder doch so gut wie tot – – –
Joachim von Dengern begab sich aber sofort, nachdem der Vorhang zum letztenmal gefallen, zu der Garderobe, die zu den Sitzen des Fräuleins Fröhlich und der Frau Lämmlein gehörte, drängte sich dann an Lotte heran und flüsterte ihr rasch einige Worte ins Ohr, die das Mädchen veranlaßten, sich von Frau Lämmlein zu verabschieden und mit Dengern ein Weinrestaurant zu besuchen, in dem sie bis nach Mitternacht zusammen blieben.