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Endlich konnten die Zeitungen das große Doppelereignis ankündigen. Am 5. November sollte im Schwurgerichtssaal der auf zwei Tage anberaumte Prozeß gegen Thomas Hartwig beginnen, am Abend des 5. November die Erstaufführung von »Drei Menschen« im Kleist-Theater vor sich gehen.
Die Berliner Gesellschaft stand Kopf vor Aufregung und rüstete sich für die schwere Aufgabe, die ihrer harrte. Galt es doch, sich Sitze für die Erstaufführung und eine Einlaßkarte in den Schwurgerichtssaal zu verschaffen. Das eine gehörte unbedingt zum anderen. Man würde tagsüber allen Phasen des Prozesses gegen den schweigenden Mörder lauschen und abends im Frack, in großer Toilette den Worten des redenden Dichters. Und es begann ein gewaltiger Ansturm, ein Wettlaufen um beide Karten, die Einsetzung des ganzen Einflusses, die Erneuerung der Bekanntschaft mit Abgeordneten und anderen einflußreichen Tieren. Denn wenn es auch durch Bezahlung des zehnfachen Preises mit Hilfe von Kartenagenten gelang, einen Sitz oder gar eine Loge in Kleist-Theater zu bekommen, so nützte aller Reichtum für den Schwurgerichtssaal nichts, wenn man nicht durch besondere Beziehungen eine Empfehlung an den Vorsitzenden im Prozeß Landgerichtsrat Muhr oder an den Staatsanwalt Röhrich hatte.
Um zehn Uhr vormittags begann im Kleist-Theater die Generalprobe zu »Drei Menschen« vor geschlossenen Türen, genau um dieselbe Zeit erklärte der Vorsitzende die Verhandlung für eröffnet und erteilte dem Staatsanwalt das Wort zur Verlesung der Anklageschrift.
Hartwig saß zwischen zwei Gefängniswärtern auf der Anklagebank, und obwohl er sich ersichtlich bemühte, den Eindruck vollster Gleichgültigkeit hervorzurufen, sah man ihm doch unschwer die äußerste Aufregung an. Er zuckte mit den kurzsichtigen blauen Augen, fuhr sich immer wieder mit der Hand über das Gesicht und seine blonden Haare klebten feucht an der Stirne. Nur wenn er musternd die Augen über die Zuhörerschaft, die Damen und Herren der ersten Berliner Gesellschaft, die Künstler, Schriftsteller, Zeitungsleute von Rang und Bedeutung gleiten ließ, blitzte es ironisch in seinem Gesicht auf.
Die vielen, vielen Zeugen, die von der Staatsanwaltschaft oder dem Verteidiger geladen worden waren, mußten vor Verlesung der Anklageschrift den Saal wieder verlassen, nur die auf dringendes Verlangen des Dr. Nagelstock herbeigerufenen Sachverständigen auf psycho-pathisch-pathologisch-analytischem Gebiete blieben und musterten einander mißtrauisch und hämisch. Sowie einer etwas niederschrieb, ergriffen rasch auch die anderen ihre Bleifedern, um zu kritzeln.
Der Staatsanwalt faßte zuerst knapp und nüchtern die Ereignisse zusammen, die zur Verhaftung des Thomas Hartwig geführt hatten, und sagte dann:
»Nie noch ist einer Anklagebehörde eine so seltsame Aufgabe zugefallen wie diesmal. Sie weiß, daß fünf heiratslustige Mädchen verschwunden sind, sie kann exakt nachweisen, daß nur Thomas Hartwig der Bräutigam war, mit dem Jede der Fünf die verhängnisvolle Reise unternommen hat. Sie weiß und kann es beweisen, daß Hartwig einen groß angelegten Plan entworfen hat, um Mädchen, die heiraten wollen, ganz allein im Leben stehen und etwas Vermögen besitzen, an sich zu locken, zu töten und zu berauben. Mit einem Wort: Die Anklagebehörde kann erweisen, daß Thomas Hartwig, der Romancier und Dramatiker, dessen Werk heute seine Taufe erleben wird, ein gemeiner Mörder, ein fünffacher Raubmörder ist, wie er in gleicher Scheußlichkeit noch niemals die Berliner Geschwornen beschäftigt hat. Nur eines kann die Staatsanwaltschaft nicht erbringen: Den greifbaren Beweis dafür, daß die fünf armen Opfer Hartwigs wirklich ermordet worden sind. Es gilt daher ein Indizienverfahren nicht darüber, wer der Mörder ist, sondern darüber, daß der Mörder, den wir haben, auch wirklich gemordet hat! Hartwig selbst spricht nichts, verteidigt sich nicht, verweigert Auskunft und Antwort. Aber gerade diese Verstocktheit und Hinterhältigkeit gibt Zeugnis gegen ihn, und wenn ich auch nicht in der Lage bin, Ihnen, meine Herren Geschwornen, Leichen und schauerliche Körperteile der Ermordeten zu zeigen, so wird doch sehr bald niemand auch nur im entferntesten daran zweifeln können, daß Thomas Hartwig genau so raffiniert, wie er die Verbrechen begangen, auch deren Spuren vertilgt hat.«
Und nun begann das Verhör mit Hartwig, der zuerst die Richtigkeit der vorgelesenen Geburtsdaten bestätigte. Dann fragte der Präsident mit erhobener Stimme:
»Angeklagter, Sie haben die Anklageschrift gehört und verstanden? Bekennen Sie sich der Ihnen zur Last gelegten Taten schuldig?«
Ein Augenblick der Totenstille, dann sagte Hartwig laut und klar:
»Nein!«
Aufregung im Saal, Raunen und Murmeln. Bisher hatte Hartwig sich geweigert, vor dem Untersuchungsrichter diese Frage mit Ja oder Nein zu beantworten. Nunmehr schien sein Nein zu beweisen, daß er die bisherige Taktik der Antwortverweigerung aufzugeben bereit sei. Der Verteidiger Nagelstock, der Staatsanwalt, die Beisitzenden, die Geschwornen, die Zuhörer, sie alle beugten sich gespannt vor, als nun der Präsident eine weitere Frage stellte:
»Angeklagter, wollen Sie eine zusammenhängende Darstellung geben oder ziehen Sie es vor, meine Fragen zu beantworten?«
Gesteigerte Aufregung.
»Weder das eine noch das andere, Herr Präsident. Ich erkläre hiemit nochmals, daß ich unschuldig bin, werde aber vorläufig keinerlei Fragen beantworten, sondern behalte mir vor, späterhin weitere Aussagen zu machen. Im übrigen stehe ich nach wie vor auf dem Standpunkt, daß nicht ich meine Unschuld zu beweisen habe, sondern es Sache des Gerichtes ist, meine Schuld zu erhärten.«
Rufe im Publikum, Murren auf den Geschwornenbänken, Tuscheln unter den Zeugen.
»Sie weigern sich vorläufig, auf irgendeine meiner Fragen zu antworten?«
»Jawohl, Herr Präsident.«
»Herr Verteidiger, können und wollen Sie Ihrem Klienten nicht klarmachen, daß seine Taktik verfehlt, ja geradezu selbstmörderisch sei?«
Nagelstock fuhr auf.
»Herr Präsident, seit Wochen tue ich ja nichts als das! Aber er will nicht einmal mir Antwort geben! Der beste Beweis, daß er total mesch–, ich meine verrückt ist!«
Der Präsident winkte ab.
»Gut, dann werde ich mit der Vernehmung der Zeugen beginnen.«
Und nun wurden sie alle, eine nach der anderen, vorgerufen: die Wirtin, der Müller, der Möller, der Jensen, der Pfeiffer und der Cohen. Unter ihrem Eid mußten sie ausführlich von dem Einzug der betreffenden Dame, deren Aussehen, jeder Äußerung über den geheimnisvollen Bräutigam berichten. Und schließlich konnten die, die diesen Bräutigam zu Gesicht bekommen hatten, ebenso wie der Portier Zimmermann mit Bestimmtheit erklären, daß Thomas Hartwig unbedingt mit ihm identisch sei.
Der Staatsanwalt: »Ich mache den hohen Gerichtshof und die Herren Geschwornen nachdrücklich auf eine merkwürdige und höchst wichtige Parallelität der Geschehnisse aufmerksam: Jede der fünf Verschwundenen hat ihr Zimmer auf einen ganzen Monat vorausbezahlt. Also war jede ganz sicher, daß sie bleiben, respektive von dem projektierten Ausflug nach der Havel in kürzester Zeit zurückkehren werde! Das ist außerordentlich wichtig, denn daraus geht hervor, daß durch äußere, gewaltsame Umstände die Fünf verhindert wurden, ihre Rechte auf das Zimmer geltend zu machen. Hätten Sie nicht vorausbezahlt und nicht ihre armseligen Sachen zurückgelassen, so könnte man immerhin die Möglichkeit erwägen, daß es sich um abenteuernde Herumtreiberinnen handelt, die heute hier und morgen dort auftauchen und Grund haben, keine Spuren zu hinterlassen.'
Die Richter, die Zeugen, die Zuhörer, die Geschwornen nickten zustimmend. Man konnte darüber nur diese eine Ansicht haben. Ein aufmerksamer Beobachter hätte feststellen können, daß sogar Thomas Hartwig genickt hatte.
Und nun kam eine prickelnde Sensation. Alle Hälse reckten sich dem vorgerufenen Dengern entgegen, goldene Lorgnons blitzten auf, hier und da sah man sogar einen kleinen diskreten Trieder auftauchen.
Das war also der geheimnisvolle, berühmte, geniale Detektiv, der feudale Junker, der jahrelang der Polizei obskure Dienste geleistet, jahrelang unschuldig im Zuchthaus gesessen hatte! Der Präsident war ganz Zuvorkommenheit. »Herr Zeuge, Sie sind der königlich preußische Kriminalkommissär, Doctor juris Joachim Freiherr von Dengern und haben unter dem Pseudonym Krause die Nachforschungen nach dem Mörder der fünf verschwundenen Mädchen gepflogen. Erzählen Sie, wie Sie auf Thomas Hartwig gekommen sind.«
Dengerns Gesicht glättete sich, mit automatenhafter Ruhe und Sicherheit erzählte er von seiner Jagd hinter einer Theorie, die ihn zuerst zu Heiratsvermittlern, dann in das Annoncenbureau des »Generalanzeigers« geführt und dort den Text der verhängnisvollen Annonce kennen lernen ließ. Und schilderte, wie ihm Hartwig ins Garn gelaufen war.
»Ich möchte hier feststellen, daß ich noch nie mit einem Mann zu tun gehabt habe, der ein Verbrechen, das er vermutlich begangen hat, klüger entworfen, später aber, als die Taten begangen waren, alle Vorsicht derart außer acht gelassen hat, wie Herr Hartwig. Er hielt es nicht einmal der Muhe wert, die verräterischen Briefe der seine Annonce beantwortenden Frauen zu vernichten! Eine solche, fast naive Unbesorgtheit im Zusammenhang mit so schweren Verbrechen – zweifellos ein kriminalistisches Kuriosum!«
Als Dengern seine Aussage, die mit Beifallsgemurmel aufgenommen wurde, beendet hatte, wandte er sich an den Präsidenten.
»Herr Präsident! Ich werde jetzt der Vernehmung aller weiteren Zeugen beiwohnen und dann noch eine wichtige Erhebung zu machen versuchen. Jedenfalls bitte ich, mich nach Beendigung des eigentlichen Beweisverfahrens, also vor den Referaten der medizinischen Sachverständigen und den Reden des Herrn Staatsanwaltes und des Herrn Verteidigers, abermals auf den Zeugenstand zu rufen.«
Der Präsident erklärte sich einverstanden und Dengern wollte abtreten, aber Rechtsanwalt Nagelstock hielt ihn zurück:
»Herr Kriminalkommissär, Sie haben bei Erläuterung des leichtsinnigen Vorgehens des Angeklagten soeben von einem Verbrechen, das er vermutlich begangen habe, gesprochen. Darf ich dieses ›vermutlich‹ so auffassen, als ob Sie von der Schuld des Angeklagten nicht vollkommen überzeugt wären?«
Die Falten spielten über das Gesicht Dengerns.
»Herr Rechtsanwalt, solange ein Angeklagter nicht gestanden hat, gibt es immer noch die Möglichkeit seiner Unschuld. Bis zu dem Augenblick wenigstens, wo die Beweise gegen ihn so überwältigend sind, daß nach menschlichem Ermessen an seiner Schuld nicht gezweifelt werden kann.«
Der Präsident zog die Augenbrauen hoch, der Staatsanwalt machte ein beleidigtes Gesicht und sagte entrüstet:
»Ich bitte, meine Herren, hier keine philosophischen Debatten zu führen und das Urteil der Geschwornen weder in diesem noch in jenem Sinn zu beeinflussen.«
Die Geschwornen nickten. Nein, sie wollten keine Beeinflussung, sie seien kluge und gerechte Männer, die jetzt schon genau wissen, was sie von diesem Hartwig zu halten hätten.
Die Beamtin des Annoncenbureaus betrat den Zeugenstand und identifizierte Hartwig als den Herrn, der anfangs Juni die Annonce mit der Chiffre »Idylle an der Havel« aufgegeben und wenige Tage später eine Unmenge Antworten behoben habe. Dann kam die Frau Armbruster, bei der Hartwig seit drei Jahren das möblierte Zimmer bewohnte. Als sie ihren Zimmerherrn sah, begann sie zu schluchzen.
»Nein, daß ich das erleben muß! So ein feiner, gebildeter Herr und ein Mörder! Ich kann es nicht glauben.«
Der Präsident strenge: »Frau Armbruster, uns interessiert Ihre Meinung nicht, sondern wir wollen von Ihnen Tatsächliches hören.«
Nagelstock aber sprang auf und ließ protokollieren, daß der Zeugin verboten worden sei, den günstigen Eindruck, den Hartwig immer auf sie gemacht hatte, zu bekunden.
Durch vielerlei Fragen erfuhr man nun aus dem Munde der Frau Armbruster folgendes:
Im großen und ganzen war Hartwig immer recht solid in seiner Lebensführung gewesen, was aber nicht ausschloß, daß er hier und da ein wenig angeheitert und erst in früher Morgenstunde nach Hause kam. Oft war er von Geldsorgen bedrückt, blieb mit der Miete im Rückstand, borgte sich sogar mitunter von Frau Armbruster kleinere Beträge aus. Im Verlauf des letzten Jahres klagte er oft, ein Pechvogel zu sein, der sich nicht durchsetzen könne. Besonders an Tagen, da ihm der Postbote ein Manuskript brachte, war er deprimiert. Oft habe er von dem Stück »Drei Menschen« gesprochen, das ihn mit einem Schlag berühmt machen würde, aber im Frühjahr, als er es wieder von einem Direktor zurückbekam, habe er ausgerufen: »Am besten wäre es, wenn ich mich aufhängen würde!«
Frau Armbruster, die diesem Verzweiflungsausbruch beiwohnte, wollte ihn beruhigen, aber Hartwig erklärte achselzuckend:
»Ach was, es ist wirklich, um einen Mord zu begehen! Wissen Sie keinen reichen Juden, den ich umbringen und berauben könnte, damit ich wenigstens aus der Geldmisere herauskomme?«
Sie habe das natürlich für einen Scherz gehalten, aber nun erinnere sie sich dieser Worte mit Schrecken.
Auch im Publikum wurde gemurmelt und »Ah!« und »Oh!« ausgerufen. Ein Geschworner tuschelte seinem Nachbar halblaut ins Ohr:
»Im Unterbewußtsein hat er immer an Mord gedacht!«
Der Verteidiger: »Liebe Frau Armbruster! Herr Hartwig wird, wie Sie wissen, beschuldigt, im Verlaufe des Monates Juli hintereinander fünf oder noch mehr Frauen von Berlin fortgelockt zu haben, um sie irgendwo in der Einsamkeit zu ermorden. Zweifellos müßte er seine Verbrechen recht weit von Berlin begangen haben, wenigstens halte ich den Grunewald mit den zahlreichen Familien, die sich dort der edlen Beschäftigung des Kaffeetrinkens hingeben, für wenig geeignet, den Schauplatz der Ermordung, Zerstücklung und Vergrabung von Frauen zu bilden.«
Heiterkeit im Publikum. Rüge des Präsidenten.
»Es ist anzunehmen, daß Herr Hartwig sein jeweiliges Opfer in öde Gegenden, stundenlang mit der Bahn und dann noch stundenlang zu Fuß entfernt, gebracht hat. Logischerweise also müßte Herr Hartwig im Juni des öfteren tagelang verschwunden sein. Darüber können nur Sie Auskunft geben. Ich frage Sie daher: Ist Ihr Mieter, Herr Hartwig, im Juni oder Juli einigemal über Nacht seiner Behausung ganz ferngeblieben? Hat er Reisen unternommen, auf die er Handgepäck mitnahm?«
Frau Armbruster verneinte lebhaft.
»Ne, was man so eine Reise nennt, das hat Herr Hartwich nicht unternommen! Aber Ausflüge hat er ja wohl gemacht. Immer im Frühjahr und Sommer pflegte Herr Hartwich mitunter ganz früh am Morjen fortzugehen und erst spät nachts zurückzukommen und er hat mir dann woll auch erzählt, daß er diese oder jene große Tour unternommen habe. Aber Jepäck, davon war keine Rede nich.«
»Meine Herren Geschwornen,« rief Nagelstock triumphierend und listig, »stellen Sie sich nur diese Situation vor: Hartwig hat ein Mädchen auf einen Zweitageausflug eingeladen, um mit ihm eine Villa oder ein Gut in oder bei Ketzin zu besichtigen. Was sich wohl das Mädchen gedacht hätte, wenn sein Bräutigam ohne jedes Gepäck, nicht einmal mit einem Nachthemd und einem Zahnbürstchen bewaffnet, einhergekommen wäre?«
Einer der Geschwornen, ein Mann mit einem Vogelgesicht und Entenschnabel, derselbe, der vorhin vom Unterbewußtsein gesprochen hatte, erhob sich.
»Herr Präsident, gestatten Sie, daß ich eine Frage an die Frau Zeugin richte?«
»Sicher, es freut mich sogar, wenn die Herren Geschwornen in die Verhandlung eingreifen.«
Der Entenschnabel öffnete sich wieder.
»Also, Frau Armbruster, können Sie uns sagen, wie Herr Hartwig gekleidet war, wenn er solche Tagesausflüge unternahm?«
Jawohl, Frau Armbruster konnte. »Nu, einen dunkeljrünen Sportanzug trug er, einen Plüschhut, derbe Stiefel mit doppelter Sohle und so 'nen Rucksack, wie ihn jetzt die Leute immer tragen.«
Heiterkeit, Bewegung, Unruhe. Der Entenschnabel sagte »Nun also!« und klappte dann zu, der Verteidiger schrumpfte ein und zog sich wie ein begossener Pudel auf seinen Stuhl zurück. Zwei aber lächelten vor sich hin: Der Kriminalkommissär Dengern und der Angeklagte Hartwig.
Die zurückgelassenen Habseligkeiten der verschwundenen Frauen wurden auf dem Gerichtstisch ausgebreitet, elendes, schäbiges Zeug, zertretene Schuhe, Strümpfe mit Löchern, billige Wäschestücke ohne Märke, Barchent, Baumwolle, Flanell. Man tuschelte und lächelte im Auditorium. Ein als Witzbold bekannter Schriftsteller flüsterte einer berühmten Schauspielerin zu:
»Pfui Deibel! Mit solchen Weibern Liebesstunden feiern, bevor man sie abmurxt! Und so was hat die Frechheit, Romane und Stücke zu schreiben!«
Die Künstlerin kicherte. »Wenn mich einmal einer umbringt, so werden andere Sachen vor Gericht erscheinen. Sogar meine Zofe darf nur Batist tragen!«
Nun wurden die Briefe der Todesopfer verlesen, die sie auf die Annonce Hartwigs geschrieben hatten. Sie machten dann die Runde; jeder der zwölf Geschwornen bekam alle fünf in die Hände. Lauernd blickte Dengern drein. Aber auch das ging ohne Zwischenfall vorüber.
Die von der Verteidigung geladenen Entlastungszeugen marschierten an. Lehrer, Jugendfreunde, Studienkollegen Hartwigs. Übereinstimmend erklärten sie, Hartwig als grundgütigen, ein wenig romantischen, schwärmerischen Menschen gekannt zu haben, dem Übeltaten nie und nimmer zuzutrauen gewesen wären. Ein alter Professor, der in Köln acht Jahre hindurch Lehrer Hartwigs gewesen war, sagte:
»Nach bestem Wissen und Gewissen kann ich nur sagen, daß ich Hartwig nicht nur keines raffinierten Verbrechens, sondern überhaupt keiner unehrenhaften, gewinnsüchtigen Handlung fähig gehalten hätte. Allenfalls einer Jähzornstat. Ich erinnere, wie er einmal, er dürfte vierzehn Jahre alt gewesen sein, in einem öffentlichen Park sich plötzlich auf einen wesentlich größeren und stärkeren Jungen warf, sich in ihn verkrallte, ihn biß und so übel zurichtete, daß der Überfallene verbunden werden mußte. Die Untersuchung ergab aber, daß Hartwig beobachtet hatte, wie dieser Bursche einer gefangenen Feldmaus mit seinem Taschenmesser die Augen ausstach. Mir ist dieser Vorfall lebhaft in Erinnerung, denn ich mußte meine ganze Autorität einsetzen, um Hartwig vor Karzer zu bewahren.«
Der Präsident trommelte ungeduldig mit der Bleifeder auf den Tisch.
»Nun, Herr Professor, inzwischen sind Jahrzehnte vergangen und in solcher Zeit mag sich der Charakter eines Menschen gründlich ändern.«
Der Entenschnabel nickte, das Nicken wirkte ansteckend auf die anderen Geschwornen, und der Staatsanwalt begann diesen wie die anderen Entlastungszeugen geschickt zu Äußerungen zu bewegen, die bewiesen, daß Hartwig immer einen höchst normalen Eindruck hervorgerufen habe. Das war eine Parade gegen jeden späteren Versuch des Verteidigers, den Angeklagten als geistesgestört darzustellen.
Es war spät geworden, im Auditorium wie unter den Geschwornen entstand eine gewisse Unruhe, die sich sogar dem Gerichtshof mitteilte. Rechtsanwalt Nagelstock sprang auf.
»Herr Präsident, da ja ohnedies die Zeugenvernehmungen beendet sind, bitte ich die Verhandlung. auf morgen zu vertagen. Nicht nur ich, sondern wohl auch einzelne der Herren Geschwornen, vielleicht auch der Herr Präsident, die Herren Beisitzenden und der Herr Staatsanwalt haben sich Karten für die heutige Vorstellung im Kleist-Theater besorgt, nicht aus brutaler Neugierde, sondern um dem Rätsel Hartwigs näher zu kommen. Es ist sieben Uhr – in einer Stunde beginnt die Vorstellung – also –
Erleichtert aufatmend gab der Präsident dem Antrag Folge. Aber bevor er noch die Sitzung aufhob, wandte er sich abermals an den Angeklagten.
»Hartwig, wollen Sie nicht heute noch das erlösende Wort sprechen und ein Geständnis ablegen?«
Müde und nervös schüttelte Hartwig den Kopf.
»Herr Präsident, vor mir liegt eine Nacht, in deren Verlauf ich mit mir ins reine kommen werde. Ich werde morgen sprechen!«
Trotz der allgemeinen Übermüdung und der vorgerückten Stunde Totenstille, daß man deutlich hörte, wie eine Fliege gegen die Fensterscheibe taumelte. Morgen – also morgen würde die Sensation ihren Gipfelpunkt erreichen. Joachim von Dengern warf dem Angeklagten aus halbgeschlossenen Lidern einen langen Blick zu, dann trat er vor.
»Herr Präsident, wie ich schon gesagt habe, werde ich noch heute eine wichtige Erhebung machen. Darf ich bitten, morgen sofort nach Eröffnung der Verhandlung mich zuerst zu vernehmen?«
Verwundert sagte der Präsident zu. Und verwundert wie er waren alle Menschen im Saal. Was hatte das wieder zu bedeuten, was konnte Dengern noch erfahren, warum mußte er unbedingt als Erster morgen sprechen? Rätsel über Rätsel!
*
Die Menschen strömten wie ein Bienenhaufen auseinander, Autotaxis sausten nach allen Richtungen, es galt, sich rasch umzuziehen, große Toilette zu machen und eine Kleinigkeit zu essen, bevor man sich zur sensationellsten, spannendsten Theaterpremiere begab, die Berlin jemals erlebt hatte.