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Es gibt viele Künstler, deren Arbeiten ähnlich wie die bei Vincent van Gogh Spiegelung ihres Lebens sind. Durch das menschliche Schicksal seines Schöpfers erhält das Kunstwerk jene Transparenz, die vom Gebundensein an die Zeit in die Sphäre des allgemein Gültigen, des zeitlos Bedingten hinüberlenkt, Rembrandt ist dafür ein Beispiel: weil wir von seinem Leben wissen, werden uns seine Bilder oft zu Bekenntnissen im rein Menschlichen. Die Erschütterungen, die er seelisch im Alter erlebte, rühren auch uns an und geben seinen späten Selbstbildnissen jene Macht des Dämonischen, die weit über alle Schranken zeitlicher Begrenzung hinausgeht. Zwar besteht das Künstlerische an sich unabhängig vom äußeren Werdegang seines Schöpfers, aber auf der anderen Seite vermag jene Kenntnis vom Leben des Künstlers sehr wohl den Hintergrund aufzuhellen, vor dem sich der schöpferische Wille realisiert, und die seelische Voraussetzung aufzuzeigen, die die besondere künstlerische Form geprägt hat. Rembrandts spätes Werk zumal ist nur aus jenen tragischen Umständen heraus zu begreifen, die den Maler in die völlige Einsamkeit zurückgeworfen haben. Vincents Kunst erreicht ähnlich ihren Höhepunkt in der weltfernen Abgeschiedenheit des Irrenhauses von St. Remy.
In seinem Falle kann man noch weniger als bei seinem großen Vorgänger und Landsmann die Ereignisse seines Lebens übersehen, weil diese selbst den Aufbruch ins Reich der Kunst veranlaßt und die Etappen seines künstlerischen Aufstiegs bestimmt haben. Mehr als ein halbes Jahrhundert trennt uns bereits vom Tode des Malers. Sein Werk hat sich in dieser Zeit über die Erde ausgebreitet und es gibt heute kaum noch ein Museum von Rang diesseits und jenseits des Ozeans, das nicht eins oder mehrere Bilder von seiner Hand besitzt. Als Vincent 1890 im Alter von 37 Jahren starb, wußten nur wenige von seiner Arbeit. Sein Bruder Theo hatte fast die ganze künstlerische Ernte gesammelt, ausgenommen die Bilder, die der Maler bei Lebzeiten mit Kollegen getauscht oder verschenkt hatte. Nur ein Bild von Vincents Hand ist nachweislich wenige Monate vor seinem Tode in Brüssel verkauft worden. Aber der große Catalogue raisonné von I.-B. De la Faille (unter dem Titel »L'oeuvre de Vincent van Gogh«) verzeichnet über 800 Gemälde und eine Vielzahl von Zeichnungen und Aquarellen. Die Gemälde des Katalogs umfassen die Nummern 1-824, die Zeichnungen die Nummern 825- 1664. Aus diesem reichen Lebenswerk sind es allein jene Bilder aus den letzten drei oder vier Jahren, an denen der Ruhm der Unsterblichkeit haftet. Erst Paris gab den Auftakt; Arles, St. Remy und Auvers-sur-Oise sind die Stationen der Vollendung. Indes ist auch jene Zeit des Werdens, die der Reife vorausgeht, von entscheidender Bedeutung zum Verständnis seiner Kunst, und hier ergreift einen besonders das menschliche Schicksal des Einsamen, das sein künstlerisches Ringen oft erschütternd widerspiegelt. Von diesem wissen wir durch die Briefe an den um vier Jahre jüngeren Theo, die dessen Witwe, Frau J. van Gogh-Bonger, pietätvoll gesammelt und geordnet, erstmalig 25 Jahre nach dem Tode ihres Schwagers in drei umfangreichen Bänden veröffentlicht hat, d. h. zu einer Zeit, als der Welt längst die Bedeutung von Vincents Werk bewußt geworden war. (Die deutsche Ausgabe erschien bei Paul Cassirer, Berlin.) Diese Briefe sind aber nicht nur eine Art Tagebuch über den äußeren Ablauf des Lebens, sondern zugleich Bekenntnis im Künstlerischen und als solches ein De profundis von oft erschütternder Wahrhaftigkeit, daher aber auch die einzige absolut sichere Quelle für die Rekonstruktion dieses Künstlerschicksals in seinen vielfältigen Spiegelungen zur eigenen Umwelt und in seinen Beziehungen zur Vergangenheit. Auch unsere Darstellung hat vor allem aus diesen Briefen geschöpft. Einige wesentliche Tatsachen wurden außerdem der Einleitung entnommen, die die Schwägerin ihrer Veröffentlichung vorausgeschickt hat, in der sie Vincents Leben aus der eigenen Erinnerung, aus der Korrespondenz ihres Mannes mit den Eltern und nach den Berichten ihres frühverstorbenen Gatten aufzeichnete, leider ohne jenen tragischen Moment aufzuklären, der den Konflikt zwischen Vincent und Gauguin und den eigentlichen Hergang der Katastrophe begreift, über die in diesem Buch noch eingehend gesprochen wird.
Auch die Briefe, die Vincent mit seinem jüngeren Freund und Kollegen Emile Bernard gewechselt hat, sind zwar künstlerisch aufschlußreich, fügen aber dem Leben van Goghs neue Daten nicht hinzu. Dagegen sind auch sie ähnlich den Briefen an den Bruder der beste Gegenbeweis gegen den Vincent oft nachgesagten Irrsinn, der ihn zeitweilig überfallen haben soll. In diesen Briefen an Bernard wie an Theo nämlich gibt es an keiner Stelle auch nur eine Spur von geistiger Umnachtung, und wer sie von Anfang bis zu Ende liest, wird immer wieder überrascht sein, mit welcher Klarheit Vincent selbst an die letzten Dinge rührt, wie sich auch Zukünftiges in diesem empfindsamen Geiste widerspiegelt, und daß selbst in den Augenblicken physischer Ermattung die Klarheit seines Geistes ungeschmälert besteht. Trotzdem bleibt sein Fall tragisch genug, und auch die Psychiater haben sich mehrfach mit ihm beschäftigt. Die Epilepsie, die bei ihm erst verhältnismäßig spät ausgebrochen ist, erstmalig nach jenem verhängnisvollen Zusammenstoß mit Gauguin in der Nacht vor Heilig Abend 1888, ist von diesem Tage an wie ein schwarzer Schatten über den letzten anderthalb Jahren seines Lebens gestanden. Vincent ist sich über die Art seiner Krankheit vollkommen im klaren gewesen, er hat die Anfälle, die ihn seitdem in bestimmten Intervallen überkamen, deutlich vorher geahnt und sozusagen mathematisch genau vorausgesagt. Jene grauenvollen Störungen seines zentralen Nervensystems haben aber nie eine geistige Umnachtung zur Folge gehabt. Sobald der Anfall vorüber ist, kehrt bei ihm geistig und seelisch der normale Zustand zurück, wenn auch die Angst vor neuen Zwischenfällen nie mehr ganz in ihm verlöschen sollte. Diese Angst erklärt schließlich auch seinen Freitod. Kein Psychiater aber wird behaupten wollen, daß Epilepsie und Wahnsinn miteinander identisch sind oder daß Epileptiker zwangsläufig Irre seien oder umgekehrt. Zwei Umstände aber mögen im besonderen das Gerücht von Vincents geistiger Umnachtung aufgebracht und immer wieder bestärkt haben: Erstens seine Übersiedlung in das Irrenhaus von St. Remy, die – wie man sehen wird – durchaus freiwillig war und wo er neben anderen Nichtirren eine Art Pensionär gewesen ist, allerdings unter ärztlicher Pflege. Das sogenannte Irrenhaus hätte ebensogut ein gewöhnliches Hospital sein können und Vincent wäre dann auch nach St. Remy übergesiedelt. Dann aber dürfte Gauguin die Hauptschuld an dem Aufkommen des Gerüchtes von Vincents geistiger Umnachtung haben, das ihm und seiner Handlungsweise eine gewisse Entlastung brachte. Solange er mit Vincent in Arles zusammen war – bis zu jenem späten Dezemberabend, an dem jener letzte schwere Zusammenstoß erfolgte – hat er seinen Freund und Kollegen nie für wahnsinnig gehalten, aber er hat damals von Vincent ein Porträt gemalt, von dem dieser selbst sagte, daß Gauguin ihn als Irren dargestellt habe, und gemessen an zahlreichen Selbstbildnissen van Goghs aus der gleichen Zeit ist das Porträt von Gauguins Hand nichts als eine scheußliche Karikatur, die den ach so sensiblen Vincent schwer verletzen mußte. In der Darstellung aber, die Gauguin selbst viele Jahre nach Vincents Tod von seinem Kollegen und von den Vorkommnissen jener Nacht gegeben hat, bleibt die Frage nach der geistigen Verfassung des anderen offen. Über diesen Versuch der eigenen Entlastung von Schuld wird später noch zu sprechen sein. In Künstlerkreisen hielt man Gauguin vielfach für einen Sadisten – daß er außerdem mit dem bösen Blick behaftet sei, wurde ihm ebenfalls nachgesagt, aber ganz unabhängig davon ist er – man mag die Dinge drehen und wenden, wie man will – von einem hohen Maß von Schuld an Vincents Schicksal nicht freizusprechen. Die Vorgänge jener Nacht sind im einzelnen bis heute nicht restlos aufgeklärt. So, wie sie Gauguin in seinem Buche »Avant et Après« dargestellt hat, können sie sich unmöglich abgespielt haben, was durch Vincents Briefe vom Krankenlager im Hospital zu Arles ohne weiteres zu beweisen ist, ja, man kann die Gauguinsche Darstellung nur als einen Entlastungsversuch mit untauglichen Mitteln bezeichnen. Auch das Bild, das Gauguin in diesem Zusammenhang vom Charakter und Wesen seines verstorbenen Freundes entwirft Näheres hierzu ist aus Burnetts »Gauguin« (Band II dieser Reihe) zu ersehen., zeugt eher gegen den Schreiber als gegen Vincent. Ja, wer den Dingen wirklich auf den Grund sieht und die Entwicklung des Verhältnisses der beiden Künstler zueinander während ihres gemeinsamen Aufenthaltes in Arles psychologisch verfolgt, empfindet deutlich, daß jene Spannung zwischen den beiden durchaus heterogenen Naturen so oder so eigentlich nur in einer Katastrophe enden konnte. Daß der bärenstarke Gauguin dem überaus empfindsamen Vincent physisch überlegen war, ist nur nebenbei zu erwähnen. Zweifellos hat er auch sehr rasch die Angriffsflächen in Vincents psychischer Konstitution erfaßt, vielleicht, daß er sogar die stärkere schöpferische Potenz in ihm erkannte, obwohl er später behauptet hat, er habe Vincent erst das künstlerische Sehen gelehrt und ihm das Malen beigebracht, eine schamlose Unterstellung, die durch Vincents reiche künstlerische Ernte in Arles, die Gauguins Eintreffen vorausgeht, unzweideutig widerlegt wird. Ja, man möchte eher behaupten, daß umgekehrt Vincent der gebende Teil gewesen ist, von dem Gauguin einiges an malerischer Technik gelernt hat. Aus dieser Erkenntnis der in Vincent wirkenden stärkeren künstlerischen Potenz läßt sich Gauguins Verhalten vielleicht am besten erklären. Er spielte sich von Anfang an als den Überlegenen auf und Vincent war einfältig genug, ihn als das größere Talent zu verehren. Damit hatte Gauguin von vornherein das Heft in der Hand, und so ließ er den anderen diese Überlegenheit fühlen, nicht nur in seiner Kritik der van Goghschen Arbeiten, sondern auch bei jenen Gesprächen über Kunst im allgemeinen und über die von Vincent besonders verehrten Meister in Vergangenheit und Gegenwart, ein Punkt, an dem Vincent besonders empfindlich zu treffen war. Man kann also durchaus verstehen, wie sich allmählich in Vincents Seele ein Zündstoff ansammelte, der einmal explodieren mußte, aber zu Gauguins Ehren darf auch wohl gesagt werden, daß er sicher nicht mit der ganzen Heftigkeit der Entladung gerechnet und er seinerseits die Katastrophe jener Nacht nicht gewollt hat. Daß man ihm vielfach die Schuld an Vincents tragischem Zusammenbruch zugeschoben, war für ihn bitter genug, aber die Art, wie er sich später zu entlasten versuchte, indem er den Verlauf der Katastrophe einfach vernebelte und das Andenken des toten Freundes in den Schmutz zog, spricht keineswegs für Gauguins Charakter. Man muß leider an diese Dinge rühren, obwohl sie in der Literatur reichlich breitgetreten sind, aber gerade ein Buch wie das von Robert Burnett bedarf in diesem Punkt der Korrektur. Andererseits sind Vincents Briefe an den Bruder auch diesbezüglich die einzige wirklich zuverlässige Quelle, d. h. eine Quelle lauterster Wahrheit, an der schon den äußeren Umständen nach gar nicht zu deuteln ist, obwohl auch sie den Hergang der Katastrophe nur ahnen läßt, so daß man immer gezwungen sein wird, aus den wenigen Andeutungen, die in den Briefen gegeben sind, ein Bild jener Vorgänge zu rekonstruieren, so wie es hier versucht wird.
Das Besondere aber jener Briefe an Theo, die – den Aufenthalt der beiden Brüder in Paris eingerechnet – den Zeitraum von rund 18 Jahren umfassen, liegt nicht so sehr in der Schilderung des alltäglichen Geschehens, wie in dem von Vincent immer von Neuem unternommenen Versuch einer Deutung aller künstlerischen und literarischen Phänomene in Vergangenheit und Gegenwart, soweit sie in seinen Gesichtskreis treten. Dieser von einem Bildungsdrang sondergleichen erfüllte Autodidakt verrät immerzu eine leidenschaftliche Anteilnahme an allen Erscheinungen, die ihn zur Stellungnahme zwingen. Es wird hier ein Drang nach Erkenntnis offenbar, wie ihn in seinem Lebensalter wohl nur wenige gehabt haben und es ist immerhin interessant, zu beobachten, wie sein Urteil nach und nach an Sicherheit gewinnt und wie mit dem eigenen Schaffen seine Wertungen an Schärfe zunehmen. So oft die alten Meister in sein Blickfeld treten, ist das innere Feuer sofort entzündet und der richtige Standpunkt gefunden, sofern es sich um Künstler handelt, die seinem eigenen Wollen etwas bedeuten, wie etwa Giotto, Dürer, Rembrandt, Hals, Chardin und Ruisdael, um nur wenige zu nennen, und ähnlich die französischen Maler des 19. Jahrhunderts, unter denen für Vincent Delacroix die nie wieder erreichte Spitze darstellt, der seine Seele immer von neuem entflammt und seiner Feder unvergängliche Urteile entlockt. Daneben Corot, Daumier und Millet als Haupt der Schule von Barbizon und Schöpfer einer erdgebundenen Bauernmalerei, in dem Vincent, solange er selbst in Holland malt, das große Vorbild sieht. Aber auch Courbet ist für ihn einer der Großen, der neue Maßstäbe gibt, obwohl er immer noch in Valeurs malt, während Vincent selbst der reinen Farbe zum Siege verhelfen möchte. Seltsam überschaut dagegen erscheinen uns heute die Meister der engeren vlämisch-holländischen Heimat wie der Vetter Mauve, Jacob Maris, Bosboom, Mesdag und der zweifellos viel bedeutendere Israëls neben Malern wie Breton, de Groux u. a., die wir nur noch historisch zu werten vermögen. Aber gerade diese Meister verblassen allmählich in Vincents Erinnerung, je stärker ihn die Schatten der wirklich Großen gefangennehmen. Schließlich die Impressionisten: wie unsagbar feingeschliffen sind die Urteile über Manet, Degas, Cézanne, Renoir und den alten Marseiller Absinth-Trinker Monticelli, der es ihm um der Farbe willen besonders angetan hat, die dem Zauber provençalischer Landschaft so nahe gekommen ist. Und nicht zu vergessen Gauguin, dessen Werden er bis in seine letzten Tage in Auvers in aufrichtiger Bewunderung verfolgt. Schon der Fünfundzwanzigjährige gesteht seinem Bruder: »Wieviel Schönes gibt es doch in der Kunst, wenn man sich nur dessen erinnern kann, was man gesehen hat, dann ist man niemals müßig oder wahrhaft einsam und niemals allein«, und das gleiche könnte er von seinen Büchern sagen, die er oft heißhungrig verschlingt, um in stillen Stunden immer wieder zu ihnen zurückzukehren. Welch eine Begeisterung allein für Shakespeare, für Dickens, Carlyle und Taine, und wie liebt er Victor Hugo, Balzac, Flaubert, Gautier und über allen Zola, mit dem er sich als Mensch und Künstler innerlich verwandt empfindet. Dieses Verlangen nach den künstlerischen und literarischen Dingen ist wesentlich für den Bildungsdrang des Lernbegierigen, der mit jener Besessenheit, die immer dem wirklichen Künstler eigen ist, seinen Weg gesucht hat, der ein Weg aus dem Dunkel zum Licht war und schließlich in einem einmaligen Ikarusflug zur Sonne sein jähes Ende fand. Junge Künstler sollten diese van Gogh–Briefe lesen, wie der Priester das Evangelium liest. Denn Vincents Kunst gibt einen absoluten Maßstab für alle junge Kunst. Nur wer die Flamme in sich spürt wie Vincent, dürfte den Weg zur Kunst beschreiten, und in ihm müßte jene Liebe entfacht sein, von der der treue Dr. Gachet bei Vincents Tode schrieb: »Le mot amour de l'art n'est pas juste, c'est croyance qu'il faut dire, croyance jusqu'au martyre.«