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Es ging mit den Larstetter Ferien, wie es mit denen in der Seeweid gegangen war: Ehe man sich's versah, kam der letzte Tag, und es kam sogar die Abendstunde, wo die Turnachkinder wieder daheim anlangten. Papa hatte sie am Bahnhof abgeholt. Es war ganz seltsam gewesen, nun nicht den Weg zur Seeweid einzuschlagen, sondern rechts abzubiegen zum Kornplatz. Lotti behauptete, sie könne sich die obere Treppe und das Wohnzimmer gar nicht mehr vorstellen.
Als sie aber ins Haus traten, sprang ihnen als traulicher Empfang Ulrichs guter alter Schnauzel entgegen. Er umtanzte die Kinder und hüpfte an ihnen empor; er heulte und bellte. Das hiess in seiner Hundesprache: »Endlich, endlich!« Dann schoss er die Treppe hinauf zu Ulrich, um ihm zu sagen: »Sie sind wieder da! die Kinder sind wieder da!«
Ulrich stand in der Arbeitsschürze zwischen seinen Garnballen. Er sagte nicht viel: aber man sah, er freute sich auch, dass nach dem stillen Sommer nun Leben ins Haus kam. Hans schlug auf einen der Ballen und atmete den Geruch des Hanftuches ein.
»Jetzt fängt der Winter an«, sagte er. »Jetzt sind wir wieder am Kornplatz daheim!«
Von droben aber ertönte Werners ungeduldige Stimme:
»Kommt doch ganz herauf –! Kommt doch!«
Da standen Mama und Wernermann und Sophie mit dem Schwesterlein, das den drei Ankommenden entgegenlachte und ihnen mit seinen Händchen ins Gesicht patschte. Marianne wollte das Schwesterlein auf den Arm nehmen; doch Werner liess ihr keine Zeit:
»Zuerst mich anschauen! Bitte, mich anschauen!« rief er und stellte sich dann, so breit er konnte, vor die Geschwister hin.
Ja, das war eine Überraschung: Werner in den ersten Hosen! Werner nicht mehr ein kleines Kind, sondern ein grosser Bub!
Er stand ganz still mit stolzem Gesicht und liess sich bewundern. Jetzt war endlich der glückliche Moment da! Hundertmal hatte er in den letzten zwei Tagen gefragt:
»Mama, wann kommen sie? Mama, wissen sie noch nicht, dass ich Hosen hab? Mama, was sagen sie dann?«
»Prachtvoll stehen sie dir!« rief Hans und streckte Werner die Hand hin. »Nun hab ich also einen rechten Bruder! Heulen tust du jetzt natürlich nie mehr?«
Werner lachte, sah aber schnell zu Mama hinüber. Heute morgen hatte er noch ganz wacker geheult.
Das Begrüssen und Wiedersehen, das sich von den Personen auch auf die Räume und Dinge ausdehnte, nahm kein Ende. Alles schien vertraut und neu zugleich. Marianne und Lotti liefen zum Schrank, um ihre Puppen zu umarmen. Hans sah seine Bücher an; jetzt konnte man sie der Reihe nach von neuem durchlesen. Allerdings unten im Schrank lagen auch die Schulsachen der Kinder. Dieses Wiedersehen stimmte Lotti etwas ernsthaft. Den ganzen Vormittag musste man nun wieder stillsitzen und am Nachmittag meistens noch einmal, und das ging so die lange Woche hindurch –!
Aber am Montag fand Lotti es dann doch sehr nett in der Schule. Viele Kinder hatten andere Kleider an, und einige, die vorher offene Haare gehabt, kamen mit Zöpfen. Auch waren die Winterfenster eingehängt, und die Wandtafel war schön schwarz und hatte frische rote Linien. In der vordersten Bank aber sass gar ein ganz neues Kind mit schwarzen Augen, das Nina hiess. Lotti beschloss, eine von ihren Puppen Nina zu taufen.
»Das war natürlich die Hauptsache, Lotti«, sagte Hans, als beim Mittagessen vom ersten Schulmorgen gesprochen wurde. »Dieses neue Kind und die roten Linien und der Zopf von der Hedwig Zohner!«
»Nein gar nicht!« wehrte sich Lotti. »Wir haben schon stark gerechnet, und zweimal habe ich die Hand zuerst aufgestreckt!«
»Uns hat Fräulein Heller eine Rede gehalten«, erzählte Marianne. »Sie hat gesagt, jetzt beginne die Arbeitszeit wieder, und wir sollen uns alle recht zusammennehmen. Es sei auch eine Freude, jeden Tag zu versuchen, wie weit die Kraft reiche.«
»Fast das gleiche hat Herr Altschmid gesagt«, rief Hans. »Und er hat uns noch erklärt, dass es mit dem Zusammennehmen und mit dem Rechttun sei wie beim Turnen. Man könne sich üben, und dann gehe es immer leichter. Man werde überhaupt nur ein tüchtiger Mensch, wenn man tapfer an das hingehe, was schwer und mühsam sei.«
»Schön«, stimmte Papa zu. »Wir wollen sehen, wie ihr dieses Kopf- und Herzturnen nun betreibt den Winter!« Das klang wie ein Spass; aber die Kinder verstanden, dass Papa es ernst meinte. Sie gaben sich denn auch Mühe, fleissig und brav zu sein in der Schule und zu Hause.
Am Abend jedoch nach der Arbeit fand sich immer wieder Zeit zu Spiel und Vergnügen. Schon durch das Fenster auf den Kornplatz hinauszusehen war eine sehr hübsche Unterhaltung. Es dunkelte jetzt früh. Der Laternenanzünder kam, und die Lichter brannten in den Schaufenstern. Drüben beim Pelzhändler hing ein grosses braunes Bärenfell zwischen Müffen und Krägen. Das sah schon sehr winterlich aus. Oben im ersten Stockwerk war ein Kaffeesaal. Die Herren sassen mit Zeitungen bei ihren Tassen. Andere spielten Billard auf grossen grünen Tischen. Man sah, wie sie sich über den Tisch legten, scharf zielten und wie die Kugeln flogen. In dem hohen Hause am Eingang der Schwalbengasse wohnte die Schneiderin Weissenhorn.
Die Lehrmädchen nähten fleissig, und Frau Weissenhorn schnitt mit einer langen Schere zu.
Unten auf dem Platze eilten die Leute aneinander vorbei, als hätten sie vor der Nacht noch viel zu verrichten. Zwei Herren mit Handkoffern gingen auf eine Droschke zu; der Kutscher nahm schnell die Decke vom Pferd und fuhr mit den Herren davon. Zu dem Kastanienbrater kam eine Dame und kaufte einen grossen Sack Kastanien. Der Kastanienjunge machte ein vergnügtes Gesicht und zählte ihr beim Schein der kleinen Lampe das Geld heraus. Ein Lastwagen hielt vor der Apotheke. Zwei Männer sprangen vom Wagen, um eine schwere Kiste abzuladen.
»Das ist fast so lustig wie das Kaleidoskop oder wie das Lebensrad!« sagten die Kinder. »Immer bewegt es sich, und immer gibt's etwas Neues!«
In der Seeweid, wenn man abends zum Fenster hinaussah, war alles still und dunkel, und in Larstetten lag das Wohnzimmer gegen den Garten.
Oft gingen die Kinder auch hinunter und setzten sich zu Ulrich in die Garnkammer. Plaudern konnte man zwar mit Ulrich nicht viel. Wenn man ihn bat, etwas zu erzählen, so sagte er, es falle ihm auf der Welt nichts ein. Dafür aber wusste er eine Menge Lieder, besonders traurige Soldatenlieder. Es war sehr schön, wenn er mit seiner tiefen Stimme begann:
»Zu Strassburg auf der langen Brück,
Da stand ich eines Tags …«
oder:
»Morgenrot, Morgenrot,
Leuchtest mir zum frühen Tod …«
Oder wenn er das Lied vom alten Feldherrn sang:
»Denkst du daran, mein tapfrer Lagienka ...«
Ulrich konnte sämtliche Strophen, und die Kinder warteten immer mit Spannung auf die prächtige Stelle:
»Denkst du daran, dass in des Kampfes Wettern
Mein Säbel blitzte stets in deiner Näh,
Als du, verlassen von des Sieges Göttern,
Noch sinkend riefst: Finis Poloniae! …«
Dieses Lied hatte Marianne am liebsten. Es war ihr so seltsam dabei zu Mut, traurig und doch wohl. Einmal stiess Lotti leise Hans an:
»Du, die Marianne weint!«
»Ach nein«, sagte Marianne und fuhr sich schnell über die Augen.
Ulrich aber griff nach seiner Harmonika, die hinten auf dem Gestell lag, und fing unversehens eine rasche lustige Weise an zu spielen, bei der man die Füsse nicht mehr ruhig halten konnte. Lotti wenigstens rutschte von der Kiste, auf der sie sass, herunter und begann in der Garnkammer umher zu hopsen.
Es war auch sonst unterhaltend bei Ulrich zu sein und ihm zuzusehen, wenn er auf dem Vorplatz arbeitete. Er schichtete die Garnpakete zusammen in das Hanftuch, nähte dieses zu und schnürte die grossen Ballen dann mit einem starken Seile fest. Das ging alles so flink und ruhig.
»Achtung!« oder »Hand vom Zeug!« rief Ulrich bloss von Zeit zu Zeit, wenn er einen Ballen wälzte, oder wenn eins der Kinder Lust bekam, mit der grossen Nadel, in die der Bindfaden eingefädelt war, seine Kunst zu versuchen.
Noch mehr als die Packnadel lockte der Farbtopf und der Pinsel, mit dem Ulrich die Buchstaben fest und schön auf die Ballen malte.
»F R T 8«, buchstabierte Hans. »Ich möcht's auch einmal probieren.«
»Wollt's dir nicht raten«, sagte Ulrich und sah zu Marianne hinüber.
Marianne schüttelte lachend den Kopf. Sie hatte letzten Winter eine Erfahrung gemacht. Der Farbtopf und der Pinsel waren dagestanden und kein Ulrich dabei. Da hatte Marianne angefangen, ein F und ein R zu malen; die Buchstaben gerieten gar nicht schön, und eben als ihr noch ein grosser Klecks auf das Hanftuch floss, trat Ulrich hinter sie.
»Verdirbst mir den ganzen Ballen!« sagte er ärgerlich, und ehe sie sich's versah, hatte er ihr ein dickes Kreuz auf die Hand gemalt.
»So, jetzt bist du auch gezeichnet!«
Marianne versuchte, die Farbe wegzureiben; aber diese wich nicht, und es war zehn Minuten vor neun Uhr. Also musste Marianne mit der schwarzen Hand in die Schule laufen, wo alles sie auslachte. –
Waren eine Anzahl Ballen fertig, so kam das Rutschbrett. Das Rutschbrett lehnte an der Wand der langen graden Treppe. Wenn man es hinlegte, gab es eine prächtige Rutschbahn, für die Ballen zuerst und dann auch für die Kinder. Das Brett war spiegelglatt von dem vielen Gebrauch. In einem Augenblick sauste man hinunter und stieg an der Seite, wo etwas Raum blieb, wieder die Treppe hinauf, um von neuem hinunterzufahren. Den kleinen Werner nahm Marianne auf den Schoss. Er schrie immer laut auf vor Entzücken.
Die grossen Leute allerdings, die auf- und abgehen wollten, fanden die Sache nicht sehr bequem und zankten manchmal ein wenig. Nur Onkel Alfred liess sich zum Ergötzen der Kinder etwa erbitten, ein paar Partien mitzumachen. Er hatte zwar allerlei Einwände.
»Kinder, nein! Was mutet ihr mir zu! Es ist unter meiner Würde. Und dann mein Anzug –! Einer Rutschbahn steht der Glanz gut, aber meinen Beinkleidern nicht –!«
»Meine glänzen auch schon ein wenig!« rief Hans.
»Quod licet Jovi, non licet bovi«, antwortete der Onkel.
»Was heisst das?« fragten die Kinder.
»Das heisst ungefähr: Was dem Neffen Hans ziemt, das ziemt nicht immer dem Onkel Alfred.«
Aber dann gab der Onkel doch nach und rutschte mit den Kindern das Brett hinunter, bis Papa kam und lachend nun etwas Französisches sagte, was aber Onkel Alfred nicht übersetzte.