Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es hatte eben zwölf Uhr geschlagen. Die grosse Türe des Schulhauses tat sich auf, und die Kinderscharen strömten heraus. Lotti und vier oder fünf aus ihrer Klasse waren unter den ersten. Sie eilten auf die schöne Eisschleife zu, die an der Strasse entlang lief, und fuhren mit ausgestreckten Armen hintereinander her. Plötzlich aber schoss Lotti wie ein Pfeil davon mitten durch eine Gruppe sich balgender Buben hindurch und zum Platze vor.
»Sophie!« rief sie. »Das ist nett. Marianne kommt auch gleich. Jetzt gehen wir zusammen heim!«
»Nein, Lotti, heim geht es eben nicht«, erwiderte Sophie, die an der Ecke des Platzes auf die Kinder gewartet hatte. »Der Herr Doktor sagt, ihr sollt alle aus dem Hause. Mama ist recht krank –«
Mama –! Ja, nun fiel es Lotti wieder ein: Mama war gestern schon unwohl gewesen, und heute morgen hatten die Kinder sie nicht gesehen. Aber Lotti hatte sich weiter keine Gedanken gemacht. Beim Mittagessen würde man Mama schon wieder gesund treffen.
»Marianne!« rief Lotti der daherkommenden Schwester entgegen. »Wir dürfen nicht heim, hat der Herr Doktor gesagt. Das Schwesterlein und Werner sind schon bei Grossmama. Und Hans sollen wir auch abholen. Du musst zu Tante Oberst, weil du am artigsten seiest. Ich bin froh, dass ich bei Grossmama sein darf –«
Marianne sah erschrocken zu Sophie auf.
»Ja, Marianne«, sagte diese mit bekümmertem Gesicht. »So schnell ist das gekommen; gestern um diese Zeit hat noch niemand eine Ahnung gehabt!«
Marianne hatte schon während der Stunde an Mama gedacht, aber auch daran, dass am Nachmittag keine Schule sei, und dass sie dann vielleicht Mama vorlesen dürfe. Nun kam Sophies Botschaft wie ein Schlag.
»Sophie«, sagte Lotti im Weitergehen, »Grossmama macht mir jedenfalls mein Bett auf das rote Sofa. Wenn ich herunterfalle, komme ich grade auf das graue Fell. Glaubst du, Mama werde bald wieder gesund? Der Aristoteles, der wird gucken, wenn wir alle über Nacht bleiben!«
»Sophie«, fragte Marianne, »könnte ich nicht auch bei Grossmama wohnen?«
»Nein, Marianne, sei vernünftig! Tante Oberst war selbst da und hat es mit Papa ausgemacht. Deine Kleider und was du brauchst, hat Hermine schon geholt.«
An der nächsten Strassenecke trennten sich die drei. Sophie und Lotti gingen Hans entgegen. Onkel und Tante wohnten drüben am Stadtgraben.
Langsam stieg Marianne die Treppe hinauf. Es lehnte da kein Rutschbrett an der Seite. Die Stufen glänzten von Sauberkeit. Man hörte keinen Ton. Es war, als ob hier nur ernste erwachsene Leute auf- und abgingen.
»Ah, da kommt die Marianne!« Die Tante, die eben an der Glastüre vorbeiging, machte auf.
»Das ist ja sehr traurig bei euch zu Hause! Die arme Mama! Hast du keine Galoschen an bei dem Schnee, Kind? Häng den Hut hierher – . O, deine Haare –! Ihr seid wohl recht herumgetollt in der Pause –«
Tante Oberst, die eigentlich die Tante von Herrn Turnach war, hatte nie Kinder gehabt; darum vielleicht war sie oft erstaunt oder gar entsetzt über das, was Kinder taten. Marianne war nicht besonders unbesonnen oder unordentlich. Aber wie sie nun so bei Tante Oberst wohnte, begegnete ihr doch allerlei. Zu Hause ging es immer ein wenig laut her; da merkte man nicht, wenn eins die Türe zuschlug, oder über einen Schemel stolperte oder an einen Stuhl stiess. Aber die Tante fuhr zusammen, und der Onkel sah von seiner Zeitung auf:
»Acht geben, acht geben! Das tut Tantes Nerven nicht gut!«
Mama zu Hause hatte keine Nerven. Sie machte auch kein bekümmertes Gesicht, wenn man bei Tisch ein Glas Wasser verschüttete oder den Löffel in die Suppe fallen liess. Ein wenig wurde man wohl getadelt; aber man durfte dann auch wieder lachen über das kleine Missgeschick.
Und zu Hause standen auch nicht so viele Dinge auf den Tischen und Kommoden, die man nicht anfassen sollte.
»Ansehen, Mariannchen, gewiss!« sagte der Onkel. »Aber mit den Augen, nicht mit den Fingern!« Der Onkel wusste jedenfalls nicht, wie schwer das war.
Marianne hielt immer die Hände auf dem Rücken, wenn sie vor dem Gestell in der Ecke stand, dessen Fächer von unten bis oben mit lauter merkwürdigen niedlichen Sachen angefüllt waren. Da hatte es eine kleine Sanduhr; wenn man sie drehte, so rieselte der feine rötliche Sand in das untere Gläschen, und wenn man noch einmal drehte, wieder ins andere. Doch eben das durfte man nicht. Daneben war ein zierliches Totenköpfchen aus Elfenbein und ein silbernes Tellerchen mit erhöhten seltsamen Blumen. Dahinter aber stand der Bürgermeister von Saardam aus Holz geschnitzt mit weissem Kragen und rotem Gürtel. Wenn man unten drückte, wendete er sich langsam hin und her, zog den schwarzen Hut ab und hob den Stock. Hermine hatte es Marianne einmal beim Abstauben gezeigt.
Wofür stand der Bürgermeister von Saardam da drin? Onkel und Tante machten nie etwas mit ihm. Auch mit den schönen grossen Muscheln nicht, die hier lagen. Sie waren aussen rauh und stachlig, innen zart rosa. Wenn man sie ans Ohr hielt, hörte man das Meer rauschen. So oft Marianne die rosa Muscheln ansah, hatte sie ein starkes Verlangen, das Meer rauschen zu hören.
Und dann die Nuss, die man aufmachen konnte und in der ein ganzes Domino war; achtundzwanzig winzige Steinchen! Einmal hatte Marianne nicht widerstehen können. Aber da musste es grade begegnen, dass ein Steinchen herunterfiel und sich nicht mehr fand, bis der Onkel mit dem Absatz darauf trat. Da war Tante böse geworden und hatte gesagt, Marianne sei unartig, und hatte den ganzen Abend ein sehr ernstes Gesicht gemacht, sogar noch beim Lottospiel. Jeden Abend spielten Onkel und Tante Lotto mit Marianne. Der Onkel hielt das Beutelchen mit den Nummern und las laut und deutlich die Zahlen. Tante und Marianne sassen still vor ihren Blättern.
»Siebzehn – dreiundzwanzig – fünfzig – Marianne, deck' das Fünfzig! Wo bist du mit deinen Gedanken –?«
Dann deckte Marianne rasch ihr Fünfzig. Um halb neun schüttete man die Nummern und Gläschen zusammen, und Marianne sagte Gutnacht. Fast jedesmal trug sie Gewinne davon: Schokoladebonbons und Zuckermandeln oder Haselnussternchen. Das hob sie alles auf, um es am andern Morgen Lotti zu bringen.
In der Pause lief sie immer gleich die Treppe hinunter und wartete vor Lottis Schulzimmer, bis die Schwester herauskam. Dann zog Marianne sie in eine Ecke, und Lotti musste erzählen, wie es bei Grossmama zuging.
»Wenn du nur gestern dabei gewesen wärst!« fing Lotti an. »Wir haben Lateinischstunde gehabt bei Onkel Alfred. Es war furchtbar lustig! Wir sassen auf dem Bänklein in der Küche, Hans und Friederike und ich. Aber Friederike hat gesagt, sie mache nicht mehr mit; sie habe die ganze Nacht davon geträumt und schreckliche Angst ausgestanden, weil sie's nimmer konnte. Ich weiss es noch gut: Amo, amas, amat, amamus, am –« Lotti besann sich.
»Sag mir etwas vom Werner und vom Schwesterlein!« bat Marianne.
»Vom Werner und vom Schwesterlein –?« Lotti sog an einer Zuckermandel; den Anteil von Hans und Werner hatte sie in die Tasche gesteckt. »Wart', ja – etwas Nettes! Eigentlich eher vom Aristoteles. Also der Werner, der hat ihn immer am Schwanz genommen, und da hat ihm der Aristoteles mit den Krallen eins auf die Hand gegeben. Werner hat geweint; aber Grossmama hat gesagt, es sei ihm recht geschehen. Und nachher ist der Aristoteles beim Schwesterlein gesessen, und da hat es ihn auch am Schwanz gezogen, und es hat auch einen Klaps bekommen; aber, weisst du, weil es noch so klein ist, hat der Aristoteles die Krallen eingezogen. Gelt, wie klug!«
Marianne nickte. Sie wäre so schrecklich gern wieder beim Werner und beim Schwesterlein, bei Hans und Lotti gewesen. Am Sonntag nachmittag hatte sie zu Grossmama gehen dürfen. Aber das war nicht dasselbe; sie war sich fast fremd vorgekommen unter den Geschwistern, und Hermine hatte sie sehr bald wieder geholt.
Und noch viel stärker zog es Marianne nach Hause zu Mama. Mama –! Marianne sagte das Wort manchmal vor sich hin, und dann musste sie sich immer wehren, dass ihr nicht die Tränen in die Augen kamen. Wenn sie nur einmal hätte zu Mama hingehen können, nur einen Augenblick! Doch der Herr Doktor hatte das streng verboten.
Am Morgen machte Marianne oft den Umweg über den Kornplatz. Die erste Treppe hinauf durfte man schon.
»Ulrich, wie geht es Mama!« fragte sie dann atemlos vom raschen Laufen.
»Es geht so, so, Marianne«, sagte Ulrich, indem er sich bückte, um das Seil unter dem Ballen durchzuziehen. »Wir wollen das Beste hoffen!«
Heute hatte Marianne auch Papa gesehen. Aber er war ganz anders als sonst.
»Kind«, sagte er, »was tust du da? Ihr sollt ja nicht herkommen!«
»Papa, gelt, Mama wird doch wieder gesund?«
»Ja, Marianne, ja –« sagte Papa, ohne Marianne anzusehen. »Geh jetzt! es ist höchste Zeit! Sei recht brav bei der Tante!«
Marianne ging schweren Herzens in die Schule und aus der Schule zu Onkels.
Das Mittagessen schmeckte ihr nicht. Sogar den süssen Eierkuchen ass sie nur auf, weil man nichts liegen lassen durfte.
Am Abend gingen Tante und Onkel aus.
»Marianne bleibt noch ein Weilchen bei Hermine und legt sich dann bald zu Bett«, hatte die Tante gesagt.
Hermine war immer freundlich mit Marianne. Aber heute waren Anna und Babette von droben da, und die drei Dienstmädchen plauderten eifrig über ein Stück weiss und blauen Stoff, aus dem sich Anna ein Kleid zuschneiden wollte.
Marianne sass dabei mit ihrem Buche. Sie las die Geschichte vom Silberkettchen. Aber es war so schrecklich traurig, wie die kleine elternlose Flora ihren Grossvater suchte, von dem weder die Matrosen im Hafen von Antwerpen, noch die alte Fischfrau, noch der Diener in dem Palaste etwas wussten. Marianne stand auf. Ihre Trübsal und die der armen Flora gaben so viel zusammen, dass sie es nicht aushalten konnte.
»Ach, Marianne – gelt, du gehst heute allein«, sagte Hermine. »Ich komme nachher noch zu dir.«
Sie zündete Marianne das Licht an, und diese ging in ihr Schlafzimmer.
Das Fenster stand offen. Marianne sah hinaus. Das Haus stand am Kanal; dunkel und still floss das Wasser dahin. Drüben waren die Fenster hell. Marianne sah, wie sich drei kleine Mädchen in dem Zimmer um den Tisch jagten. Ja, die konnten wohl lachen; die hatten ihre Mama bei sich –
Marianne fiel jetzt wieder ein, was sie heute den ganzen Tag geängstigt hatte. Wie sie vor Lottis Schulzimmer gewartet hatte, waren zwei Lehrerinnen vorbeigegangen und hatten sie angesehen und dann leise gesprochen.
»Das wäre schrecklich!« hatte die eine gesagt. »Wie viel Kinder sind es denn?«
»Fünf«, hatte die andere geantwortet. »Noch ein Büblein von drei oder vier Jahren und ein ganz Kleines –«
Warum hatten sie so hergeschaut? Sprachen sie von Marianne und ihren Geschwistern? Was wäre schrecklich –? Wenn Mama – Nein! so etwas Furchtbares hatten sie doch nicht gemeint –!
Aber Marianne musste immer wieder an das denken.
Plötzlich ertönte Musik. Sie kam gegen die Brücke her, eine frische, muntere Weise. Marianne horchte – das war ein Stück aus dem Samstagschwanz daheim –
»Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen …«
Marianne erkannte die Melodie. Der Samstagschwanz, das war immer, wenn Papa eine Stunde früher aus dem Bureau heraufkam. Dann bettelte Werner:
»Papa, jetzt tun wir marschieren!« und fasste Papa am Rocke, und dann ging's los: Papa begann, fest im Takte auf und abschreitend, irgendein schönes Marschlied zu singen, und hinterdrein folgten die Kinder; alles suchte Schritt zu halten und mitzusingen, so gut und so laut es ging. Der Samstagschwanz machte seinen Weg durch sämtliche Zimmer, durch den Korridor und in die Küche …
Marianne legte den Kopf auf das Fenstergesimse und fing an bitterlich zu weinen. Die Musik verklang in der Ferne.
Auf einmal wischte Marianne die Tränen ab, zog die Schürze, die sie weggefegt hatte, wieder an und sah sich um. Dann ging sie rasch auf den Fusspitzen vor bis zur Korridortüre. Aus der Küche drang das Geplauder der Dienstmädchen.
Die Korridortüre war noch nicht abgeschlossen. Vorsichtig huschte Marianne hinaus und die Treppe hinunter. Aber die Haustüre konnte sie nicht aufmachen. Sie besann sich: Hinten, der Fensterladen bei der Waschküche liess sich loshaken. Marianne stieg hinaus. Nun war sie erst im Garten. Es war fast ganz dunkel, und der Wind raschelte durch die kahlen Sträucher. Marianne ging vor bis zum Gitter, wo das Gartenhäuschen stand. An den Latten des Häuschens konnte man hinaufklettern und, wenn man sich gut hielt, auf das Gitter hinüberkommen. So – nun musste Marianne bloss noch an der andern Seite des Gitters hinunter. Hans hatte einmal gesagt, hinunter komme man immer, wenn man den Mut habe loszulassen. Marianne kauerte hin, drehte sich, indem sie die Eisenspitzen gefasst hielt, und liess sich hängen. Jetzt –! Sie schlug das Knie auf und mit dem Kopf traf sie an das Gitter. Aber das machte nichts; drunten war sie. Schnell lief sie davon.
Es gingen nicht mehr viel Leute auf der Strasse. Hin und wieder wandte sich verwundert einer um nach dem kleinen Mädchen, das da so spät allein durch die Stadt rannte. Ein Polizeidiener, der unter einer Laterne stand, wollte auf sie zutreten. Aber Marianne lief rasch weiter und weiter. Da war schon die Schwalbengasse. Jetzt stand sie auf dem Kornplatz vor dem Hause. Sie schöpfte Atem. Aber wie sollte sie hinaufkommen zu Mama? Wie konnte sie überhaupt nur ins Haus gelangen, das abgeschlossen war? Wenn Ulrich sie sah, wollte er sie natürlich zu Onkels zurückführen. Ratlos stand Marianne vor der Haustüre.
Da kam ein grösserer Bub daher.
»Willst du hinein?« fragte er Marianne. »Hast du geläutet?«
Marianne schüttelte verlegen den Kopf.
»Ja, von selbst geht's nicht auf!« Der Bursche zog fest an der Klingel.
Marianne erschrak. Wenn nun Ulrich kam – . Richtig, man hörte den Schlüssel sich im Schlosse drehen. Marianne hatte eben noch Zeit, um die Ecke zu flüchten.
Ulrich trat heraus. Er sah niemand als den Burschen, der im Weitergehen sich umwendete.
»Was hast du zu läuten? Wart, ich will dir –« rief Ulrich und ging ein paar Schritte dem Burschen nach, der aber ohne zu hören im Dunkel verschwand.
Marianne war blitzschnell ins Haus geschlüpft und hatte sich hinter einen grossen Ballen versteckt. Als Ulrich die Treppe hinaufgegangen war, schlich sie nach; auf jeder Stufe blieb sie lauschend stehen.
Da tappte Schnauzel heran! Mit einem lauten Wau! schoss er auf Marianne zu.
»Still!« rief Ulrich mit gedämpfter Stimme von der Garnkammer her.
Marianne fasste den Hund und versuchte, ihm die Schnauze zuzuhalten. Wenn er noch einen Laut gab, so war Marianne entdeckt –
Schnauzel aber machte sich los und sprang zu Ulrich zurück.
»Wau!« bellte er. Marianne ist draussen! Auf der Treppe steht sie! hiess das in seiner Sprache.
Aber diesmal verstand ihn Ulrich nicht.
»Dass du still bist –!« drohte er, indem er die Garnkammer schloss.
»Wau!« machte Schnauzel noch einmal und kratzte an der Türe.
»Nein«, sagte Ulrich. »Mäuse werden nicht mehr gefangen heut abend. Leg dich!«
Nun wagte Marianne vorbeizuschleichen zur zweiten Treppe. Es wurde jetzt immer schwieriger: von unten waren Ulrich und Schnauzel zu befürchten, von oben die andern. Aber auf dem Korridor, wo's sonst türaus und türein ging unter Lachen und Rufen, war es totenstill. Einen Augenblick glaubte Marianne Papas Stimme zu vernehmen. Sonst, wenn sie Papa hörte, rannte sie auf ihn zu; jetzt duckte sie sich auf die Treppe nieder.
Nach einer Weile öffnete sich geräuschlos die Küche. Balbine kam heraus und ging mit behutsamem Schritte in die hintere Stube. Und von da geht sie zu Mama hinein! dachte Marianne. Das Herz klopfte ihr fast zum Zerspringen. Sie wartete einen Augenblick; dann huschte sie hinüber.
Nun trennte sie nur noch eine Türe von Mama! Wenn sie da in den grossen Kleiderschrank schlüpfte und wartete, bis Balbine wieder zurückging in die Küche –? Dann konnte Marianne hinein; dann war sie endlich, endlich wieder bei ihrer Mama –!
Sie zog die Türe des Schrankes zu und lauschte zwischen den Kleidern hinaus. Vielleicht hörte sie Mama sprechen. Aber kein Laut drang aus dem Nebenzimmer. Wie diese Stille einem bang machte! Marianne war schon oft da drinnen im Schrank gestanden, wenn sie mit Lotti und Werner Versteckens gespielt hatte. Da war es immer sehr schwer gewesen, nicht durch Lachen sich zu verraten. Es schien Marianne eine Ewigkeit, seit sie mit Lotti und Werner gelacht hatte.
Marianne besann sich auf ein Gedicht. Das war gut, wenn man Angst oder Schmerzen ausstand in der Nacht, hatte Grossmama einmal gesagt.
»Die Sonne, sie machte den weiten Ritt um die Welt …«
flüsterte Marianne. Aber der zweite Vers ging nicht; sie konnte sich nicht besinnen. Vielleicht war es besser zu beten.
»Lieber Gott – lieber Gott –« wiederholte Marianne ein paarmal. Doch weiter kam sie in ihrer Angst nicht.
Plötzlich machte Balbine die Türe auf – Marianne fuhr zusammen. Balbine kam aber nicht heraus, sondern ging leise zurück zum Fenster. Und Marianne sah nun weit ins Zimmer hinein. Da lag Mama auf den weissen Kissen. Durch den Lampenschirm fiel das Licht auf sie. Wie seltsam Mama aussah – blass und schmal; die Augen waren geschlossen, und die Hände lagen still gefaltet auf der Decke. So hatte Marianne Mama noch nie gesehen – . Auf einmal überkam sie ein furchtbarer Schrecken: Das Gespräch der Lehrerinnen fuhr ihr durch den Sinn und zugleich eine andere Erinnerung: So war Tante Agnes dagelegen vor ein paar Jahren – so schneeweiss und schmal, und die Hände hatte sie so gefaltet gehabt, und im Hause war es auch so ganz still gewesen. Und am Sonntag darauf war Grossmama mit den Kindern auf den Friedhof gegangen, wo man Tante Agnes begraben hatte. Und Lotti, die damals noch klein war, hatte gefragt:
»Kommt die Tante dann wieder einmal zu uns?«
Aber Marianne hatte gewusst, dass die toten Menschen nie mehr zurückkommen können.
War Mama nun auch tot –? Kamen nun dann Männer und trugen sie weg ins Grab –?
»Mama –!« schrie Marianne und stürzte aus dem Schranke hervor.
Balbine fuhr entsetzt vom Stuhle auf.
»Mama, Mama –«, Marianne warf sich an das Bett und fasste die gefalteten Hände.
Da öffnete Mama langsam die Augen und sah Marianne an, verwundert, freundlich.
Jetzt erst begann Marianne laut zu schluchzen.
»Mama, Mama – ich hab gemeint – du hast so weiss ausgesehen, und so still – ganz wie –«
»Kind, Marianne! ssst –« Balbine suchte Marianne wegzuziehen. »Wie um des Himmels willen kommst du hieher –«
Aber Marianne konnte nicht antworten. Sie hielt Mamas Hand.
»Mama, ich bin so froh, ich bin so froh – ich hab' solch eine Angst gehabt –« schluchzte sie.
Mama streichelte leis des Kindes Kopf. Sie war zu müde, um darüber nachzudenken, wie denn Marianne auf einmal da an ihrem Bett knien konnte. Aber es tat ihr wohl, wieder eins von ihren Kindern bei sich zu haben.
Balbine stand da und wusste nicht, was tun. Man war glücklich gewesen, als Frau Turnach endlich in einen festen Schlaf verfallen war. Und nun brach Marianne plötzlich herein –
Indessen war unten im Hause auch allerlei vorgegangen.
Bald nachdem Marianne ins Haus geschlüpft war, hatte es wieder geläutet.
»Wenn das noch einmal der nichtsnutzige Bub ist –« hatte Ulrich gebrummt, als er zur Türe ging.
Es war nicht der nichtsnutzige Bub. Es war Hermine in grösster Eile und Aufregung.
»Ulrich!« rief sie. »Marianne ist doch da –? Mein Gott, der Schrecken, wie ich ihr Bett leer sehe und sie in der ganzen Wohnung nirgends finde –«
»Marianne?« fragte Ulrich bestürzt. »Nein, hier ist sie nicht!«
»Nicht –?« Hermine schlug die Hände zusammen. »Ulrich! es wird doch kein Unglück begegnet sein! Sie wird doch um Gotteswillen bei ihrer Grossmama sein! Anna von droben ist hingelaufen. Ich geh ihr entgegen; ich halte es nicht aus, hier zu warten –«
»Ja, gehen Sie!«, sagte Ulrich, der ängstlicher war, als er's gestehen wollte.
Nach einer kurzen Weile kam Hermine zurück, verstört, in Tränen.
»Nein, Ulrich! Auch nicht dort!« Hermine drückte die Hände vors Gesicht. »Ich vergehe vor Angst! Ulrich, das Fenster in Mariannes Zimmer stand offen und unten das Wasser –«
»Seien Sie vernünftig, Hermine! Man soll nicht gleich ans Schlimmste denken –« Aber Ulrich konnte selbst fast nicht anders. Was war zu tun? Sollte er zu Herrn Turnach hinaufgehen –
Da läutete die Hausglocke wieder. Hermine hob den Kopf. Vielleicht –
Aber herein traten Herr und Frau Oberst. Sie hatten bei ihrer Heimkehr von der Köchin Babette gehört, was geschehen war. Und über den Platz herüber kam im selben Augenblick Friederike, von Grossmama geschickt.
»Ulrich, das Kind, die Marianne ist doch da –!« riefen alle drei und lasen auf den ersten Blick aus Ulrichs und Hermines Gesichtern die Antwort.
Frau Oberst tat einen Schrei des Entsetzens und stürzte sich auf die jammernde Hermine, die sie zu der Bank hinter der Treppe führte.
»Ulrich«, sagte der Herr Oberst, »man muss sofort Schritte tun! Einer von uns muss auf die Polizei –«
Da läutete es zum vierten Male. Alle hofften einen Augenblick.
»Guten Abend, Ulrich!« sagte eilig eine tiefe Männerstimme. Es war der Herr Doktor, der heute so spät seinen zweiten Besuch machte. »Wie geht's oben?«
»Frau Turnach schläft; sie schläft seit drei Uhr«, antwortete Ulrich und hielt die Lampe so, dass nach hinten ein Schatten fiel. Es war besser, wenn der Herr Doktor, der jetzt hinaufging, nichts wusste.
»Schläft? seit drei Uhr?« wiederholte der Herr Doktor, schon auf der Treppe. »Das ist gut! das ist ja prächtig! Machen Sie doch kein so trübseliges Gesicht, Ulrich!« Rasch ging der Herr Doktor hinauf, ohne dass er sich umgesehen hatte.
Der Herr Oberst trat wieder hervor und fasste seinen Stock.
»Ich gehe, Ulrich; Sie können hier nicht fort!«
Dann aber horchten alle auf. Laut und im Tone höchsten Erstaunens ertönte von droben Herrn Doktors Stimme:
»Marianne –!« und noch einmal: »Was tust du denn hier, Marianne –!«
»Marianne –!« wiederholten drunten alle wie aus einem Munde, Onkel und Tante, Ulrich, Hermine und Friederike.
»Ulrich!« rief Hermine. »Sie sagten doch –«
»Ja – ich begreife nicht – das ist nicht mit rechten Dingen zugegangen –« stotterte Ulrich, eilte dann aber froh und erlöst wie die andern zur Treppe.
Oben war der Herr Doktor unter der Türe stehen geblieben. Marianne hielt Mamas Hand fest.
»Balbine«, rief der Herr Doktor, »was ist das! Wie kommt das Kind daher! Was habe ich gesagt –!«
Der gute alte Herr Doktor, der schon seit vielen Jahren Hausarzt in der Turnachfamilie war, konnte manchmal ziemlich streng sein.
»Herr Doktor –« wollte Balbine anfangen.
»Nein! auch Marianne nicht! Frau Turnach soll unbedingt Ruhe haben –« Der Herr Doktor wendete sich horchend rückwärts. »Aber es scheint, Ruhe gibt's hier nicht – weder drinnen noch draussen! Was kommt denn jetzt wieder die Treppe herauf?«
Er ging rasch durch das Vorzimmer hinaus und schloss die Türen hinter sich zu.
»Herr Oberst –! Was fällt Ihnen ein! Wir wollen keine Besuche, absolut keine! Und zu dieser Stunde –«
Hinter Onkel Oberst wurde die Tante sichtbar.
»Der Kuckuck noch einmal –« Der Herr Doktor wurde ganz zornig. »Der Kuckuck noch einmal, was ist denn heute abend los –!«
»Marianne, Marianne!« hörte man Hermine hinter Tante Oberst rufen.
»Und was kommt da noch für ein Frauenzimmer – und noch eins! Wollen Sie beide die Güte haben, sofort umzukehren! So, Sie auch, Ulrich –! was haben Sie hier oben zu tun! Hüten Sie lieber das Haus, damit nicht alles hereinläuft –«
Aber nun trat auch noch Herr Turnach herzu, der droben Briefe geschrieben, und Sophie, die in der Küche etwas eingenickt war, weil sie nachts bei Frau Turnach gewacht hatte. Erstaunt sahen sie auf all die Leute.
»Schön!« fuhr der Doktor fort. »Immer mehr! Wollen wir nicht noch einige von der Strasse herauf holen oder vielleicht vom Goldenen Degen drüben –! Jetzt möcht' ich doch endlich erfahren, was das zu bedeuten hat!«
Hermine, die sich etwas erholt hatte, fing an zu erzählen; alles wusste sie aber auch nicht.
»Wie kann das Kind nur zum Haus hinausgekommen sein –! Marianne, sag doch –« In ihrem Eifer trat Hermine zur Türe.
Aber der Herr Doktor wehrte.
»Machen Sie nicht noch mehr Lärm als wir schon haben, Jungfer Hermine!«
Er ging hinein und zog die Türe hinter sich zu.
»Komm her, kleine Missetäterin, Urheberin dieses nächtlichen Auflaufes –«
Marianne liess zögernd Mamas Hand.
»Wollen Sie mir Marianne wieder nehmen?« fragte Mama mit ihrer schwachen Stimme.
»Gleich, Frau Turnach, gleich!« Der Herr Doktor fasste Marianne am Arm.
»Also hör mal, Marianne. In dunkler Nacht bist du hergelaufen zu deiner Mama. Es ist hübsch, wenn man seine Mama lieb hat. Nun sei noch recht vernünftig dazu, dann bist du ein Prachtsmädel! Du gehst jetzt ruhig mit Onkel und Tante zurück –«
Marianne warf einen flehenden Blick auf Mama.
»Wenn dieser Überfall deiner Mama nicht geschadet hat –«
»Ich glaube nicht, Herr Doktor«, sagte Frau Turnach. »Ich fühle mich so viel besser.«
»Ssst –! nicht sprechen! Was ist heute? Mittwoch – pass auf, Marianne – wenn alles gut geht, so darfst du am – sagen wir am Samstag heimkommen.«
»O!« rief Marianne.
»Du kommst und hilfst uns, Mama gesund pflegen.«
»Ja, ja!«
»Du bringst ihr frisches Wasser und holst die Suppe aus der Küche und –«
»Und ich lese Mama vor! Das Silberkettchen, gelt, Mama! Es ist furchtbar traurig; aber wenn ich dir's vorlesen darf, ist's schön! Ich bin jetzt da, wo Flora –«
»Willst du gleich aufhören mit deiner Flora und die Mama nun endlich wieder schlafen lassen?« unterbrach der Herr Doktor Marianne. »Schnell sag ihr Gutenacht!« Der Herr Doktor schob Marianne hinaus.
Aber erschrocken fuhr sie zusammen, als sie vor die Türe trat. Wer stand da alles! Tante, Onkel und Hermine, Papa, Sophie, Ulrich und Friederike! Verlegen sah sie von einem zum andern. Doch niemand schalt sie. Man war zu glücklich, sie wieder zu haben; man umringte sie:
»Marianne! Gott Lob und Dank! Was für eine Angst haben wir ausgestanden!«
»Fast gestorben wär' ich vor Schrecken!« versicherte Hermine, aufs neue in Tränen ausbrechend.
»Kind, Kind, du hast dich doch nicht erkältet!« rief zugleich die Tante. »Du blutest an der Schläfe –«
Sie wollte Marianne die Haare von der kleinen Schramme streifen; aber der Onkel zog das Kind zu sich her.
»Da haben wir den Deserteur! Ei, ei, ei! Was fangen wir mit ihm an? Was tun wir, dass er wieder zurückkehrt? Hat er am Ende gar etwas Heimweh bekommen bei uns?«
Marianne legte ihre Hand in die des Onkels. Es war ihr so froh und leicht zumut nach all dem Jammer. Mama lebte; Mama wurde wieder gesund, und Marianne durfte am Samstag kommen und sie pflegen! Jetzt schien es ihr auf einmal nicht mehr schlimm, noch bei Onkels zu bleiben. Onkel und Tante waren ja so freundlich, und es tat Marianne leid, dass sie ihnen eine solche Angst bereitet. Daran hatte sie in ihrem eigenen Kummer gar nicht gedacht.
»Ja, Marianne, du musst Onkel und Tante schon recht um Verzeihung bitten«, sagte Papa, während man unter vielen Reden und Fragen die Treppe hinunterstieg. Die Tante geriet von neuem in Schrecken, als Marianne auf Onkels Verlangen ihren Weg über das Gitter beschrieb.
»Marianne«, sagte Ulrich, der den Weggehenden die Haustür öffnete, »später erzählst du mir dann auch einmal genau, wie du hier hereingekommen bist.«
»Ja«, rief Marianne fröhlich zurück. »Das war nicht so schwer, Ulrich. Du hast mir selber die Türe aufgemacht!«