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2. Treibjagd.

Als ich am nächsten Morgen meine Augen öffnete, fielen sie gerade auf unsern heiteren Wirt, der vor meinem Bett in einem grünen, mit Pelzwerk eingefaßten Rock, einer Pelzmütze auf dem Kopf und mit Wasserstiefeln bis über die Knie stand.

»Mein Sohn hat mir erzählt,« sagte er, »daß Sie Jäger sind; ich habe deshalb Anstalten zu einer richtigen Treibjagd getroffen. Das Wetter kann nicht besser sein; aber der Tag ist kurz. Sie müssen daher entschuldigen, daß ich Sie aufstöre.«

»Au! Ich fürchte, ich wecke den alten Mann«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort und wandte sich gegen das andre Bett, worin der Konrektor lag.

Der aber war schon wach; er schlug den Vorhang zur Seite und sagte:

»Leporem venator ut alta sectetur in nive – mane surgit.«

Der Kammerrat lachte und, nachdem er mich noch einmal an die Wichtigkeit, die Zeit wahrzunehmen, erinnert hatte, machte er dem Diener Platz, der mit Tee und Kaffee kam.

Es dauerte nicht lange, bis ich vollständig für die Jagd angekleidet mich mit der übrigen Gesellschaft am Frühstückstisch vereinigte, wo ich von meinen Mitlehrern nur den der Tertia vorfand – der alles mitmachte. Alle andern waren mir unbekannt; doch ich erfuhr bald, daß es hier Offiziere und Pastoren, Gutsbesitzer und Bauern, ja sogar einen Küster gab, der sich außerdem als Zielscheibe der Gesellschaft erwies, obgleich er doch verschiedenen durch seine oft beißenden Antworten eins auswischte.

Mein Nebenmann, ein wohlgenährter Pferdehändler und Freisasse, sagte mit einem Blick auf das Pulvermaß in meinem Knopfloch: »Ich dachte nicht, daß die gelehrten –« (es war die Redeweise dieses hochvornehmen Mannes, daß er fast nie eine Periode vollendete).

Der Küster, der sich dadurch verletzt fühlte, antwortete für mich:

»Ich habe auch Latein gelernt und denke doch, ich kann einen Büchsenlauf entlang sein, versteht Er!«

»Hm!« sagte der Händler mit einem spöttischen Lächeln, »wenn ein Hase so groß wie ein Ochse wird, wie so –«

Der Küster, der besser als ich die Bedeutung dieser Figur kannte, erwiderte ebenso spöttisch:

»Er hat wohl nie einen Neverkuk bekommen? Kann Er sich erinnern, als Er an der hohlen Eiche in Schlaf fiel und Reineke das Hinterbein über seinen Stiefeln hochhielt – weiß Er noch?«

Hier brach der ganze Tisch in Lachen aus; der Gezüchtigte machte gute Miene und lachte selbst mit. –

In diesem Tone verlief das Gespräch, bis der Jagdherr hereinkam und uns verkündete, daß die Treiber versammelt seien.

Indem wir gingen, kamen Quintus und Quartus und setzten sich an den leeren Tisch. Der Konrektor kam auch, doch nicht um zu essen; er hatte seinen Reisemantel an, eine Nachtmütze unter dem Hut und einen Stock in der Hand.

»Gott bewahre!« riefen mehrere von uns wie aus einem Munde, »wo wollen Sie hin?«

»Auf Jagd!« erwiderte er und stieß den Stock auf den Boden mit einer Miene, als wenn er in der Schule den Schülern »Pax!« zurief, »das ist das erstemal in meinem Leben, das wird wohl auch das letzte. Domine confrater!« sagte er zu mir, »ich will Ihnen folgen, Ihre seltsamen Taten sehen und Sie durch meine Rede entflammen.«

Das rief ein allgemeines Gelächter hervor; aber der Kammerrat sagte doch:

»Sprechen Sie nur nicht so laut, daß der Feind es hört!«

Und darauf stiegen wir in die angespannten Schlitten und glitten fegend nach dem Walde dahin, wo die Jagd beginnen sollte.

Es war einer der Wintertage, der, obwohl in völligem Gegensatz zu dem lächelnden Sommer, in meinen Augen eine feierliche, eine – wenn ich mich richtig ausdrücken soll – eine herzstärkende Schönheit hat. Ein stiller Schneefall hatte später in der Nacht die Erde, Wald und Feld in das reinste Weiß gekleidet. Einzelne Baumstämme, die Wände von ein paar fernen Bauernhäusern waren die einzigen schwarzen Flecken in dem unendlichen Schneemeer, das ringsum mit dem Himmel verschmolz.

Der Himmel war klar und völlig wolkenrein, aber Farben, glänzend, lebend, die kein Irdischer nachahmt, silberweiß, blaßrot, rotgelb, rotblau, purpurrot – oder wie wir in der armen Sprache sie zu beschreiben versuchen – schmolzen zusammen, wechselten, trieben unablässig und doch unmerklich, je nachdem das Tageslicht im Südosten stand. Im Westen hoch saß der Mond mit einem kleinen Einschnitt in seiner bleichen Scheibe: er schien zögernd mit der Sonne um die Herrschaft des Lichts kämpfen zu wollen.

Nahebei blinkte nur noch der Stern, der stets die Königin der Nacht begleitet und der letzte ist, der der des Tages weicht. Doch da diese in ihrer blendenden Schönheit aufstieg, flammend, funkelnd, aus dem weißen Wintermeer, vor sich her den Morgenglanz weithin, hoch am Himmelsbogen jagend, da ihr Flammenblick wie ein belebendes Lächeln auf die kalte und bleiche Erde fiel, die nun wie eine Braut beim Nahen des Bräutigams errötete, da die Silberzweige der Bäume im Morgenlicht glänzten, die Reiffunken in der klaren Luft knisterten und wie Diamanten auf den schneebedeckten Feldern funkelten – doch wo gäbe es wohl den Sterblichen, der Worte für die süßeste, reinste aller Freuden besitzt? Wir haben ja nur ein Organ für die Freude wie für die Trauer – die Träne.

Die Schlitten hielten am Rande des Waldes. In aller Stille stiegen wir aus.

Der Kammerrat, der selbst absetzte, wies uns unter Flüstern und Hinweisen mit der Hand unsre Plätze in einem langen, tiefen Tal an. Mein Konrektor blieb bei mir, mußte sich aber darein finden, Platz hinter dem Baum zu nehmen, vor dem ich mich aufstellte.

Ich ermahnte ihn noch einmal, sich beim Anblick des heraustretenden Wildes ruhig zu verhalten, und wartete mit der Büchse an der Hüfte auf das Signal zum Beginn der Jagd.

Nach einer Viertelstunde ertönte kurz vor mir rechts ein Knall, dann einer links und der dritte in der Mitte, und darauf Klappern und Klopfen gegen die Baumstämme, gleichzeitig mit den Rufen des anführenden Jägers und der nächstkommandierenden Förster. –

Bald zeigte sich ein stattlicher Kronhirsch ganz oben auf dem gegenüberliegenden Hügel. Er blieb ein paar Augenblicke stehen, sah sich um und bewegte die Ohren, und darauf sprang er in kurzem Galopp gerade auf mich zu. In zehn Schritte Abstand blieb er wieder stehen und drehte den Kopf. Ich hielt auf seinen Hals und drückte ab – er fiel.

Der Konrektor steckte den Kopf zu mir vor und fragte, was denn wäre. Ich zeigte auf den Hirsch, der in den letzten Zuckungen lag.

»Macte virtute esto!« rief mein Sekundant triumphierend.

Ich bat ihn inständig, seine Freude und seine Stimme zu dämpfen, und lud wieder.

Der Hügel vor mir stieg gleichmäßig an und war ziemlich baumlos, so daß ich den ganzen Schießplan vom obersten bis zum untersten Ende des Tales übersehen konnte.

Es war ein hübscher Anblick für den Jäger, wie das Wild, je weiter die Treiber vordrangen, springend, humpelnd oder schleichend hierher kam, Rehe, Hasen und Füchse, die letzteren vorsichtig nach einem sicheren Durchschlupf spähend und jene planlos hierhin und dorthin irrend, bald zurückfahrend und bald in ihrer blinden Angst dicht an den Schützen vorbeilaufend, alles unter lebhaftem Schießen – bald treffend, bald fehlend.

Der Konrektor konnte sich nicht halten, mir zuzuflüstern, wenn er etwas sah:

»Ecce! Ecce!«

Worauf ich wiederum mit halber Stimme flüsterte:

»Tace! Tace!«

Noch war mir nichts in passende Schußweite gekommen.

Ein Fuchs war lange am obersten Kamm des Hügels auf und ab gelaufen. Schließlich verschwand er auf der andern Seite. Bald verkündeten die wilden Schreie der Treiber, daß er versuchte sich zwischen ihnen hindurchzuschleichen; aber kurz darauf rannte er hinab auf meinen zweiten Seitenmann rechts zu.

Dieser trat unbesonnen ein paar Schritt vor und legte an. Der Fuchs drehte sich wie der Wind – die Büchse knallte – vorbei! Nun setzte er den Lauf seitwärts fort, vorbei an meinem Nebenmann – er schoß – auch vorbei!

Mit heimlicher Freude über diese Fehlschüsse erwartete ich nun, die Reihe würde an mich kommen, aber ach, allzu früh äußerte mein Hintermann dieselbe Erwartung mit einem allzu hörbaren:

»Jam ad triarios venit res.«

Wups, machte Reineke wieder eine Wendung und rettete sich rückwärts zwischen meinen beiden Nebenmännern, die, ärgerlich über sich selbst, lange Hälse nach dem Schelm machten. Ich selbst konnte nicht ein kummervolles: »Oh, pfui doch!« unterdrücken.

Aber ich mußte doch schließlich über die Entschuldigung meines Kollega lachen:

»Ich glaubte profecto nicht, daß er Latein verstand.«

Nun wurde abgerufen.

Die Jäger versammelten sich um den gefällten König des Waldes; und mit Stolz teilte ich ihre Freude über diesen glücklichen Schuß; denn ein großer Hirsch war auf der Ulvedaler Jagd eine große Seltenheit. Hierüber vergaß man die Fehler meines Seitenmannes und die Flausen des armen Konrektors. Ja, das übrige erlegte Kleinwild wurde kaum beachtet.

Die zweite Jagd war mager; aber in der dritten war ich so glücklich, drei Füchse zu schießen, wofür ich die bewundernden Glückwünsche der ganzen Gesellschaft einheimste. Aber am schmeichelhaftesten war mir doch die Äußerung des Ritterguts-Jägers zu ein paar andern:

»Das ist ein ganz verfluchter Rektor; der könnte überall Förster werden.«

Der erste Wald war abgetrieben, und als wir uns auf den Weg nach dem zweiten machen wollten, kam Kammerrat Hansens große Familie uns entgegen.

Da waren beide Jungfern Hansen, da war Quartus und da war Quintus, und – wie in einer sehr natürlichen Verbindung – Flaschenfutter und Eßkorb. Die schelmischen Mädchen, die von ihrem Bruder über die Lieblingssünden seines Lehrers unterrichtet waren, ließen ihm jedoch einen Wink geben, daß es eine unabänderliche Sitte auf Ulvedal sei, nie etwas früher zu genießen, wenn Jagd war, als am Abend nach Heimkehr der Jäger.

So lockte der Essenskorb den einen, die Flaschen wie die Mädchen den andern. Dieser machte seinem Amt als Ausschänker Ehre, saß aber selbst auch nicht mit trockenem Munde da; denn der Kammerrat erinnerte ihn wiederholt daran, daß er nicht sich selbst vergessen dürfe.

»Habe ich wirklich nicht selbst getrunken?« fragte er jedesmal ganz verwundert und leerte mit einem entschlossenen »Dann also!« den Silberbecher.

Quintus aß für sie beide.

Ihr, die ihr diese meine erste und einzige Liebesgeschichte lest, vergebt mir die Geschwätzigkeit, womit ich mich bei so vielen kleinen Zügen in diesen meinen glücklichen Jugendtagen aufhalte. Jeder von ihnen ist erwähnenswert für mich; selbst die unbedeutendsten würde ich ungern in diesem ländlichen Winterstück vermissen, das sich noch so oft auf dem fernen Hintergrunde der Vergangenheit darstellt, meine Erinnerung anzieht und fesselt, mein altes, von schweren Sorgen danach so hart geprüftes Herz belebt und verjüngt.

Lieber Leser! Ich habe niemand anders, zu dem ich sagen kann: »Kannst du dich dessen erinnern? und kannst du dich dessen erinnern?«

Sie sind fort – alle die, die damals mit mir das frohe Weihnachtsfest teilten. Ich bin allein unter einem jüngeren Geschlecht, und deshalb weilen meine Gedanken so oft und so lange bei dem Entschwundenen.

Nachdem unsre schönen Marketenderinnen uns diese Erfrischung hatten zuteil werden lassen, kehrten sie mit einem leichten Essenskorb und leeren Flaschen zurück. Der Konrektor, der nun von der Jagd genug bekommen hatte, folgte ihnen; wir andern kamen erst nach, als die Sonne ihre kurze und niedrige Bahn vollendet hatte und die großen Sterne an dem vielfarbigen Himmelsgewölbe zum Vorschein kamen.

»Otium est pulvinar amoris«, sagte der Konrektor warnend zu den Schülern, wenn er ihnen eine Stelle im vierten Buch der Aeneis auslegte, wo der fromme Schelm Aeneas Dido in der Grotte begegnet, und er erklärte stets otium mit: »gute Tage und Mangel an bestimmter, ständiger Arbeit«.

Hier fand ich die Richtigkeit seiner Maxime. Vorher hatte ich wirklich nie Zeit oder Ruhe gehabt, mich zu verlieben. Die hübschen Mädchengesichter waren wie Bilder in der magischen Laterne an mir vorübergeglitten. Hatte ich mir einmal Zeit genommen, meinen Blick auf einen ausgezeichneten Gegenstand in dem glänzenden Panorama der Hauptstadt zu heften, – die ernsten Musen hatten doch immer ihren gehorsamen Sohn auf die Kollegien und Bibliotheken, die Lukubrationen und Unterrichtsstunden verwiesen.

Es gehört otium dazu, zu lieben, und das fehlte mir nun nicht auf Ulvedal. Auch waren da Mädchen genug; aber die eine kam für mich der andern in den Weg. Es ging mir wie dem Berauschten, der mitten auf dem Markte mit dem Hausschlüssel in der Hand dastand und nach den unablässig herumsegelnden Häusern stach.

Die hübschesten von allen denen, die ich sah, waren zweifellos die beiden Töchter des Kammerrats selbst; aber sie waren beide gleich hübsch; so daß ich nie wußte, welcher ich den Vorzug geben sollte, wenn sie nebeneinander standen. Und waren sie nicht zusammen, schien mir die Anwesende ihn stets zu beanspruchen.

Ob es nun von diesem Gleichgewicht in meiner geteilten Neigung oder davon kam, daß die jungen Mädchen im Grunde nicht mehr oder weniger als Alltagsfrauenzimmer mit glatter Oberfläche, aber ohne tieferen Grund waren – genug, ich konnte mir von der einen die Kaffeetasse reichen lassen, ohne einen elektrischen Schlag in den Fingern zu verspüren, und beim L'hombre-Tisch mit den andern scherzen, ohne mich zu verspielen. Selbst die Küsse, die mir bei den Weihnachtsspielen so reichlich zufielen, verursachten in meinem Herzen nicht jene süße Beklemmung, von der die Dichter so oft sprechen. – Niemand wird also daran zweifeln, daß ich nach der Ermattung des Tages und der Lustigkeit des Abends so fest schlief, als ob es gar keine Liebe gäbe.


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