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7. Die Seiltänzerin.

Der Tag verging, ohne daß ich mit mir selbst ins Reine damit gekommen war, auf welche Weise ich mich Alice gegenüber erklären wollte; doch da ich mich nun einmal entschieden hatte, daß ich es wollte, konnte ich auch ohne merkliche Zerstreuung an den verschiedenen Munterkeiten der Gesellschaft teilnehmen, die doch jetzt so wenig Anziehendes für mich hatten, daß ich nicht imstande bin, mich ihrer zu erinnern, noch weniger sie zu beschreiben.

Es war Heiligabend. – Den folgenden Feiertag ging ich in die Kirche, begleitet von wenigen, worunter die beiden Brüder, Alice war da, das wußte ich, die Komtesse aber nicht, da sie sich nicht wohl befand.

Während des ganzen Gottesdienstes sah das andächtige Mädchen nur auf den Geistlichen und das Buch: das erfreute mich.

Erst als wir gleichzeitig aus dem Kirchenstuhl traten, trafen sich unsere Augen. Sie errötete und grüßte freundlich; aber miteinander sprachen wir nicht – mir fehlte es an Mut dazu.

»Morgen!« dachte ich.

Es wurde wieder Morgen. – Die Brüder hatten, wie die Tage vorher, das Zimmer verlassen.

Ich stand auf – ich stand eine volle Stunde, lauschte, sah in den Saal – nein! sie war da nicht. Mehrere Male ging ich an die Kammertür und kehrte wieder um. Mein Entschluß wankte, mein Mut sank. –

Da ertönte schließlich das wohlbekannte Knirschen.

»Jetzt oder nie!« sagte ich halblaut und ging hinein.

Sie war an der Kommode beschäftigt, aber wie sie jemanden vernahm, drehte sie sich rasch zu mir um; ich sah, daß sie sich erschreckte – die Farbe wechselte, und damit stieg mein Mut aufs neue: der erste Schritt war überstanden.

Ich blieb in ehrerbietiger Entfernung stehen und sagte:

»Mademoiselle!« –

Doch mehr sagte ich nicht, weil ich nicht recht wußte, was ich sagen wollte. –

»Monsieur!« versetzte sie, jedoch nicht mehr.

Ich wurde verzagt, beklommen, in meine eigene ratlose Ängstlichkeit verstrickt. Da entdeckte ich plötzlich einen Ausweg.

»Ich habe gehört,« sagte ich rasch, »daß die Komtesse sich nicht wohl befindet.«

»Heute geht es ihr etwas besser.«

»Das freut mich.«

Wieder eine Pause.

Meine peinliche Verlegenheit stieg mit jedem Pulsschlag – sie war nicht auszuhalten.

Wie ein geschwollener Strom den Damm durchbricht, so ergossen sich meine eng eingesperrten Gefühle in einen Strom von Worten – welchen? – das weiß ich nicht; doch an soviel erinnere ich mich, daß die Farbe Alices Wangen und der Glanz ihre Augen verließ, und daß sie sich mit der einen Hand auf die Kommode stützte.

Der Boden brannte mir unter den Füßen.

»Mein Herr!« begann sie mit klarer und fester Stimme; doch kam es mir vor, als sei diese Festigkeit gekünstelt, »mein Herr! Ihr ehrenvoller Antrag ist von solcher Beschaffenheit, daß er mich zu einem aufrichtigen Geständnis verpflichtet –« (das ist echt französischer Stil! dachte ich): »ich bin an Komtesse R... durch solche Bande gebunden, die nichts in der Welt zu lösen vermag. Sie ist mein alles – und ich – ihr letzter Trost – der letzte Faden, der sie mit dem Leben verknüpft.«

»Sie sehen –« setzte sie schleunigst hinzu – »daß ich Ihr sehr ehrenhaftes Vertrauen schattiere, indem ich ein Verhältnis berühre, das sonst dem Blick der Welt sich nicht darbietet.«

Meine Augen hatte ich, während sie sprach, niedergeschlagen wie ein Sünder vor dem Richter.

Nun erhob ich ihn wieder, und gleichzeitig senkte sich der ihre; aber zwei große Tränen quollen unter den langen Wimpern hervor. Mir kamen Mut und Sprache wieder.

»Das Verhältnis«, sagte ich, »in dem Sie zur Komtesse stehen – ich ehre es – wie wenig ich auch davon kenne – aber – gestatten Sie mir nur die eine Frage: – wenn dieses Verhältnis nun nicht bestünde? –«

Hier warf sie einen flüchtigen Blick auf mich, zog ihre Handschuhe an und erwiderte mit anscheinender Kälte:

»Es ist aber – und –«

Sie sah sich um wie jemand, der eine Gelegenheit sucht, um zu entschlüpfen.

»Alice,« sagte ich mit zunehmender Dreistigkeit, »ich kenne Sie nur unter diesem Namen, und mit ihm rede ich Sie an, wenn Sie es wollen, zum letzten Male. Ich bin kein leichtsinniger Jüngling; als Mann, als ehrlicher Mann und nach ernsthafter Prüfung meines Herzens sage ich frei und offen: es gehört Ihnen – rein und ungeteilt. Doch – wenn in dem Ihren kein Gefühl für mich sprechen sollte –«

Sie sah mich mit einem schmerzlichen Blick an, in dem ich einen Schimmer von Zärtlichkeit zu erblicken glaubte. Ich ergriff ihre Hand, die sie mir nicht entzog.

»Alice,« fuhr ich fort, »wenn ich Ihnen nicht ganz gleichgültig bin – nur ein Wort, ein einziges tröstendes Wort! Ich kann warten, will geduldig warten, bis das Verhältnis, das Sie soeben erwähnten, sich vielleicht ändern könnte, ohne daß es gelöst wird.«

Sie zog ihre Hand sanft zurück, hielt die andere ein paar Sekunden vor die Augen, preßte die Lippen zusammen, um ein ausbrechendes Weinen zu unterdrücken, und zeigte dann auf einen Stuhl neben mir.

Mechanisch setzte ich mich; sie sank auf einen andern oder richtiger sie fiel darauf –

Ein paar Augenblicke saß sie in innerem Kampfe da; rasch wogte der Busen, die Augenlider bewegten sich hin und her; schließlich brachen ihre Worte mit einem zitternden Seufzer heraus.

»Ehe Sie zum zweiten Mal meine Antwort auf die wichtige Frage wünschen, die Sie mir zu stellen beliebt haben,« – sagte sie mit Fassung – »müssen Sie mehr von mir, meinem Schicksal und meiner Stellung wissen, als das wenige, das Sie bisher wußten. Doch zuerst, falls Sie die gleiche Hochachtung für mich haben wie ich für Sie, bitte ich Sie um die Zusage, daß Sie, wenn meine Geschichte zu Ende ist, warten, bis ich selbst unaufgefordert auf Ihre allzu artige Äußerung antworte.«

Ich versprach es.

»Was meine Geburt und meine Herkunft angeht,« sagte sie, »so bin ich mir selbst eben so unbekannt wie Ihnen. Ich kenne weder Vater noch Mutter; einsam, ohne Verwandte und Freunde, bin ich auf den Schauplatz des Lebens hinausgestoßen. – Und an einen wirklichen Schauplatz knüpfen sich meine frühesten Erfahrungen; ja, mein Herr! Ich habe meine Kindheit mit Seiltänzern, Springern und Kunstreitern verbracht –«

Ich fühlte, es durchfuhr mich wie ein kalter Schauer; und ich bemerkte, daß sie mir einen Seitenblick zuwarf.

»Meine geringe Fertigkeit im Tanz – habe ich unter Tränen und Peitschenschlägen erworben. Oft wünschte ich – ach! ich konnte nicht zu Gott beten; denn ich kannte ihn nicht – ich wünschte, das Tau möge reißen und ich durch einen zerschmetternden Fall ein Ende meiner Leiden finden. Selbst wagte ich mich nicht hinabzuwerfen; denn ich fürchtete die Peitsche mehr als den Tod. Oft, wenn Klatschen und Bravorufe auf mich niederregneten und ich mit über die Brust gekreuzten Armen mich vor dem jubelnden Publikum verbeugte, rollten die bittersten Tränen über meine mageren, geschminkten Wangen herab.

Ich hätte zweifellos einmal Gelegenheit gefunden, meinem elenden Dasein ein sicheres Ende zu machen, wenn nicht die für mich so günstige Änderung eingetreten wäre, daß ein paar reisende Musici sich irgendwo unserer Bande angeschlossen hätten. Einer von ihnen, ein Römer von Geburt, entdeckte meine Gesangbegabung und übernahm es, sie auszubilden. Da ich hierdurch doppelt dazu beitragen konnte, die Kasse des Direktors zu füllen, erlaubte er mir gern, den Unterricht des Römers zu genießen, und ich genoß ihn mit doppelter Lust; denn einmal liebte ich Gesang – den Dolmetsch der Freude und der Sorge in der Menschenbrust –; und dann war ich so lange vor den Mißhandlungen des Direktors und seiner Frau sicher, und drittens konnte ich mich bei meinem gutherzigen Lehrer mit Makkaroni satt essen.

Ich machte gute Fortschritte, doch zu meinem eigenen Schaden; denn vorher hatte ich nichts weiter gebraucht, als zu tanzen und voltigieren, nun mußte ich auch öffentlich singen. Und da ich dies unter Zwang und mit Furcht tat, war ich nicht immer so glücklich, den Beifall der Zuschauer zu ernten: und da bekam ich armes Geschöpf Prügel als Abendessen.«

Hier seufzte sie schmerzlich und trocknete ein paar herabrollende Tränen; auch die meinen rannen bei der Vorstellung von der grausamen Behandlung dieses Engels.

Ich fühlte mich so beklommen, daß ich kein Wort hervorbringen konnte.

»Aber«, fuhr sie fort, »Gott erbarmte sich des elternlosen Geschöpfes und befreite mich aus den Händen dieser Barbaren. Wir befanden uns gerade in Livorno, um uns von dort nach England einzuschiffen. Bei der letzten Vorstellung hatte ich meine Sache so schlecht gemacht, daß ich die härteste Strafe zu erwarten hatte. In meiner großen Angst beschloß ich nun, den Vorsatz auszuführen, an dem ich bisher immer gehindert worden war. Noch ehe die Vorstellung vorüber war, schlich ich mich fort und lief aus allen Kräften zum Hafen und stürzte mich ins Wasser.

Es war in der Abenddämmerung; aber einige Seeleute, von deren Schiff ich hinabsprang, hatten mich gesehen. Sofort warf sich einer hinab, ergriff mich und brachte mich unbeschädigt auf Deck. Kaum war dies geschehen, als mein Tyrann mit einem andern von der Bande, der meine Flucht bald bemerkt haben mußte, angestürzt kam und meine Auslieferung verlangte. Ich schrie und warf mich vor meinen Retter nieder. Ich umschlang seine Beine. ›Rette mich! Behalte mich! Töte mich!‹ rief ich mit meiner letzten ersterbenden Kraft – das Bewußtsein verließ mich.

Als ich erwachte, befand ich mich entkleidet in einem Bett, in einem hübschen Zimmer liegend, das ein für mich ganz fremdes Aussehen hatte. Ein freundlicher Mann in blauen Kleidern saß bei mir, und als er sah, daß ich die Augen aufschlug, streichelte er meine Wangen und sprach so lieb zu mir, daß ich seine Hände ergriff und sie mit Küssen bedeckte. ›Bleibe ich bei dir? Ist Roletti fort? Wirst du mich vor ihm schützen? Wirst du mich behalten?‹ so rief ich und streckte ihm meine zitternden Hände entgegen. Er küßte mich auf die Stirn und gab mir die tröstlichsten Versicherungen, daß ich in vollkommener Sicherheit wäre; er hatte mich losgekauft und ich hätte von dem schlimmen Roletti nichts mehr zu fürchten.«

Alices Augen schimmerten, sie streckte ihre Hände aus, als stände er noch vor ihr, und sagte:

»Gott segne dich, Erretter meiner Seele, wo du auch seiest! In dieser Welt oder in einer besseren! – Da! –«

Mit dem Antlitz einer Madonna wandte sie ihre Augen dort hinauf, wo sie ihm einmal danken würde. Ihre Hände falteten sich und sanken in ihren Schoß.

Ich glaubte, sie hätte meine Anwesenheit vergessen.

Doch nicht lange; sie fuhr wieder fort:

»Es war derselbe, der mich aus dem Wasser gezogen hatte. Er führte ein Handelsschiff, aber noch jetzt in diesem Augenblick weiß ich nicht, ob er ein Engländer oder von einem andern nördlichen Volke war; denn seine Muttersprache verstand ich nicht. Doch seine letzte Wohltat an mir war ebenso groß wie seine erste.

Gleich am nächsten Tage kaufte er mir ordentliche Kleider, nahm mich mit nach einer Villa in der Nähe von Livorno und stellte mich einigen der dort wohnenden Damen vor, deren jüngste mich mit besonderer Güte aufnahm; und als ich ihr das traurige Bruchstück meines kurzen Lebenslaufs erzählt hatte, fragte sie, ob ich bei ihr bleiben wollte. Sie können sich wohl vorstellen, daß ich mich zu Anfang weigerte, mich von dem Kapitän zu trennen. Doch bald überzeugten beide mich davon, daß es nicht anders ging. Ich blieb. Er reiste. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Diese Dame ist meine Erzieherin. Ich mochte damals zehn oder elf Jahre gewesen sein, hatte jedoch weder lesen noch schreiben gelernt; Religion war mir vollständig fremd. Sie unterrichtete mich selbst in allem, und so holte ich bald das Versäumte ein, ebensosehr aus Liebe zu ihr wie aus eigener Lust am Lernen. Ja, mein Herr! Gott hatte sie als Mutter für die Waise bestellt. Und diese meine zweite Mutter ist – Sie erraten es bereits – die Komtesse hier – und –«

Hier erhob sie sich – »Nun kennen Sie, Herr Rektor, die Stärke und die Heiligkeit eines Bandes, das aufzulösen Sie gewiß zu edel sind!«

Auch ich erhob mich, küßte in stummer Ehrfurcht ihre Hand, was sie mir nicht versagte, und kehrte auf mein Zimmer zurück.

Ich fühlte nun allzu gut, daß ich auf die schöne Alice verzichten und meine Leidenschaft bekämpfen mußte, und daß der erste Schritt hierzu meine baldige Heimreise war. Trotzdem würde eine allzu plötzliche Aufsehen erweckt und das Geheimnis meines Herzens verraten haben, das die Umgebung zu ahnen begonnen hatte. Außerdem war die Hälfte der Ferien noch übrig.

Ich mußte also einen triftigen Vorwand finden, um nicht den vielen Artigkeiten und der herzlichen Gastfreundschaft der braven Ulvedaler gegenüber undankbar zu erscheinen. Diesen fand ich leicht und beraumte nun die Abreise für den nächstfolgenden Tag an.

Unsern besten Handlungen fehlt doch immer die Einheit. Sie entspringen alle mehreren Beweggründen, von denen einige wiederum nicht ganz rein sind. So entsprang dieser mein Entschluß nicht allein der Achtung vor dem gegenseitigen Verhältnis der beiden Damen, sondern ebensosehr einer Art von Klugheit – einer gewissen Politik des Herzens, die mir zuflüsterte, daß ich mich hierdurch in Alices Gunst befestigen würde. Vielleicht sogar, daß hierunter etwas männlicher Stolz lag und dieser wiederum mit einem gewissen Zusatz von dem gemischt, was die Franzosen dépit amoureux nennen.

Und außer dem allem, darf ich wohl bestimmt behaupten, glomm nicht eine schwache Hoffnung auf den Besitz Alices noch in meiner innersten Herzenskammer.


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