Helene Böhlau
Im Garten der Frau Maria Strom
Helene Böhlau

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Drittes Kapitel

Maienwind, Lebensänderungen. Ottomar beißt seine Mutter in den Finger. Alle reden auf einmal. König David findet ein Märchentier. Einer wird's nicht leicht. Franz Sebald schläft unter dem gestirnten Himmel.

Der See rauschte im frischen Wind Schaumwellenköpfchen auf. Das Gebirge stand leuchtend und strahlend in Sonnenherrlichkeit. Die Dörfer und einzelne Häuser am Seeufer waren eingebettet wie Kleinodien in grüner Emaille. Ein Funkeln und Strahlen. Die Herrlichkeit Gottes lag ausgebreitet vor jedermanns Augen, und alles Häßliche, Alltägliche war wie versunken, so wie es in einer Seele ist, in der der Stern des Lebens aufgegangen ist. In einer kleinen Bauernstube, nahe am Seeufer waren vier Wesen eifrig dabei, den kleinen Raum zu schmücken. Blumensträuße, grüne Maienzweige, und ein emsiges Huschen und eifriges Tun. Da war ein zartes feinknochiges Dirnlein mit einem Blumengesichtchen, zwei Buben Ottomar und Heinrich und ein Weiblein mit einer kleinen Stumpfnase, zwei Zöpfen um die Ohren gelegt, mager und gelenk wie ein Bub, ein Weiblein, das Kind, Bub und Weiblein war, nicht hübsch, ein wenig seltsam für den, der es zuerst gewahrte. Es hätte für einen, der nur so oben hin schauen konnte, für ein kleines Kindsmädel gelten können; auch dem Gewand nach, das fast ärmlich, die schmächtige Gestalt umspannte. Auf seinem 67 Kopf aber trug es einen ganz hellen, schmalen Kranz aus rosa Immortellen.

Diese vier waren versunken in ihrer fröhlichen Arbeit, das Gemach mit allen Herrlichkeiten der Erde zu schmücken und dazu gehörte auch ein roter baumwollener Sonnenschirm mit einer Blumenkante.

Ottomar hatte sich des Schirms bemächtigt, obwohl er von allen vieren gemeinschaftlich gekauft war. Er zog dem Schirm ein Nachthemdchen an, das ihm selbst gehörte, legte ihn sorgsam in das geschmückte Bett und war voll Seligkeit und Schaffensfreude. »Die wird schauen! das Muttili! Jubeln müssen wir, – entgegenlaufen und laut jubeln!«

Und das taten sie. Sie standen am See auf dem Dampfschiffsteg und der Wind zauste ihnen die Haare, die Gewändchen flogen. Hand in Hand standen sie alle vier, so leicht, so beflügelt, als müßten sie sich, um nicht fortgeweht zu werden, aneinander halten.

Das alte würdige Dampfschiff, das aus der Ferne herangewachsen war, rauschte gewaltig auf. Die grünen Wogen hoben sich und schwollen an, das Schiff schnob, die Seile wurden geworfen, die Balken des Steges krachten. Alles schwankte. Die Kette der Leichtbeflügelten jubelte auf, Dampf, Rauch, Stöße, Bewegung aller Art, und Heinrich und Ottomar stürzten voran, auch das Dirnlein. Ottomar hing an Marias Hals mit dem Ungestüm seiner Natur. Heinrich verschämt, ein wenig um sich schauend zog Marias Hand zärtlich an seine Wange und das Dirnlein umschlang Maria mit beiden Armen.

»Und wer bist denn du, du Kloans,« fragte Maria, als sie ihre Buben an sich gedrückt hatte.

»Das ist Ruthele Brankoni,« sagte Heinrich.

»Und das ist,« rief Ottomar, »das Schlanglein, weißt du noch, – zu deinem Geburtstag den schönen Engel.«

68 Maria reichte dem Weiblein die Hand und blickte auf sie mit leichter Befangenheit.

»Gib ihr doch einen Kuß,« sagte Ottomar.

Maria lächelte und das Weiblein hob den Kopf und reichte Maria den klugen Mund und Maria schaute in ein paar lebendige, warm blickende Kinderaugen.

Was willst du denn von mir, kleines Schlänglein? dachte Maria, wie wunderlich nah du mir kommst, sie fühlte noch den fast sehnsüchtig zarten Kuß auf ihren Lippen.

»Onkel Sebald!« jubelte Heinrich, »da ist sie schon!«

Und der gute Freund, mit dem frohen Wanderschritt, kam und begrüßte Maria. »Aber jetzt wird's ernst,« sagte er, »frag deine Buben, jetzt bleibt ihr hier, wir lassen dich nicht wieder fort, frag Heinrich und Ottomar.« Die gingen, die Mutter fest umschlungen haltend, neben ihr. »Ja,« sagte Ottomar, »hier geblieben wird! 's Häusel ist da.«

Da war Sebald an Marias Seite und verdrängte Ottomar mit einem frischen Klaps, der wendete sich zum Schlänglein und hing sich ganz heimatsicher in des Weibleins Arm.

»Und,« sagte Sebald, »das ist Magdalena, die kleine Schlange. Glaub mir, Maria, es ist außerordentlich. Es gibt noch Wunder, es gibt noch Überfluß und es gibt noch Gotteskinder.«

Maria lächelte und sah in die strahlenden festen Augen ihres guten Freundes. »Ich glaube, das weißt du, an deine Wunder,« sagte sie; »aber laßt mich nur zu Atem kommen, es ist ja, als käme ich hier in einen Wind hinein.«

Und der Wind blies auch überdies frisch und lebensvoll, die Wellen rauschten und das Mailaub rauschte weich und lebendig, wie junge unverhärtete Herzen in 69 Lebensseligkeit rauschen. Jung und voll keimender Kraft war alles um Maria, Menschen, Kinder, Laub, Blüten, Baum und Strauch und das tiefe große Wasser klang mit starken Akkorden. Die blaue Himmelsbahn, mit ihren sonnendurchleuchteten segelnden Riesenwolkenbergen, überwölbte alles. Die gewaltige Gebirgskette war im Sonnenglast zu zarten schimmernden Gebilden aufgelöst, eine große Herrlichkeit, die in die Herzen drang. Jeder hatte etwas zu sagen; aber doch blieb alles ungesagt. Jeder wollte sich mit seinem Erleben in den Vordergrund drängen, doch kam keiner dazu.

Der starke duftende Maiwind war mächtiger als alles Wollen. So wußte Maria eigentlich nicht, welche Wunder sich mit der kleinen Schlange begeben hatten und weshalb sie alle hier bleiben sollten und weshalb Sebald so froh und eifrig war und weshalb Ottomar sie vor Seligkeit jetzt in den kleinen Finger biß.

»Ja, was fällt dir denn ein!« rief Maria.

Da waren sie am Bauernhaus und in Marias Stübchen, das mit allen Herrlichkeiten der Erde geschmückt worden war.

Und jeder zeigte nun, welchen Anteil er an der ganzen Pracht hatte. Sebald deutete sehr eindrucksvoll auf einen hohen knorrigen Wacholder, den jedenfalls er zum Willkomm gebracht hatte. Der stand in einem Wassergefäß zwischen beiden Fenstern und machte sich ernst und festlich zugleich in seiner stacheligen Blauheit, als wäre er mitten am Tag vom Mondlicht übergossen. Maria stand davor und sah ihren Freund lächelnd an. »Wie magst du den herbeigeschleppt haben, ich seh dich das eigene Ebenbild tragen.«

»Oder,« entgegnete er, »wie Christus sein Kreuz. – Unter diesem Kreuz und Bild des Wacholders geh ich 70 mein Lebtag daher, – ›der nutzlose Baum‹. Stachlig, – nur in Freiheit nach eigenem Gutdünken.«

»Aber voller Geheimnisse und Kräfte,« meinte Maria.

»Und die Beeren geben einen guten Schnaps und vertreiben böse Geister,« lachte er.

»Also,« sagte Maria.

»Nicht also. Wer liebt seine bösen Geister und seine Dämonen nicht.«

Maria fühlte sich wie betäubt vom Andrang des Lebens. Sie verstand sich selbst nicht, daß ihr alles zu viel wurde und ihr wie eine Bedrängnis erschien.

Als ihr Sebald, an dessen Armen beide Buben hingen, sagte: »Maria, Eure Heimat hat sich gefunden.« Da schaute sie in so lebendige Augen, daß sie den Schreck überwand und fröhlich sagte: »Habt ihr ein Schneckenhaus gefunden, ihr drei?«

»Nein,« rief Heinrich, »es ist ganz ein wirkliches Haus und ein wirklicher Garten.«

»Aber,« sagte Sebald, »für Euch wie vom Himmel gefallen.«

Es währte nicht lange, und Maria wußte alles, sie waren dort gewesen und hatten geschaut und hatten wirklich ihre neue Heimat gesehen, ein niederes breites Haus, mitten in einem Garten, der Blick über den See auf das Gebirge, das in seiner ganzen Herrlichkeit vor ihnen lag und alle waren mitgezogen, das Dirnlein Brankoni und die glückseligen Buben.

»Das ist was für die Stroms,« rief Frau Sebald, die auch mitgegangen war, immer von neuem und auf ihrem hübschen Gesicht, um das reiche, leichtergraute Haare in jedem Windzug sich bewegten, lag Gutherzigkeit und Mitfreude, die es ganz jung erscheinen ließen. »Aber so geht's,« rief sie, »der eine muß ins Grab, damit der andere sich freuen kann. Na, so'n alter Knasterer, gerad 71 schad ist's nicht um ihn; aber gefreut wird's ihn auch nit haben. Gell? Nein, so ein Glück!«

Sie lief die Gartenwege auf und nieder. »Da hinein wär ich doch gar zu gern einmal gekommen, und nun bin ich drin! – So geht's, alles geschieht einmal; aber warten muß eins können – warten, bis der Spatz 'nen Zentner wiegt! Aber die Ströme kriegen's jung wie die Eier! Und du Stromin, bist doch auch noch gut beieinand. –

Und bestellt haben sie den Garten auch noch, die beiden Alten, eh sie hin worden sind. Aber der Tod macht keine Geschichten, – ob bestellt oder nicht bestellt. Aber der alte Hausdrach, nach ihren Salathäupteln wird's ausschauen; sie ist freilich nicht mitgestorben, die Pfründnerin. Und nach den Zuckerschoten und Bohnen-Krautköpfen und Gurken! Aber vergunnt hat's keinem was. Lieber ließ sie den Salat aufschießen, daß man meinte, sie zöge Schlinggewächse, und Blumen hat's net mögen; aber er hat's mögen, besonders seine Rosen. Und Rittersporn gibt's und Flocks, ja, nicht zu sagen! Jetzt spitzt alles erst heraus. Ihr seid ja auch oft genug am Garten vorüber und habt neingelugt. Nein, daß der den Stroms blüht! Na, – aber auch ich werd nun nicht mehr ausgesperrt, wart alte Knorzerin! – Aber die Obstbäum laßt ihr mich pflanzen, da kenn ich mich aus, wie die Prinzen sollen sie's haben – eine weite Gruben und Dung wie die Herrgöttle – Kalk und allerbeste Erden, daß sie nur so schauen!«

Frau Alma Sebald war die Chorsprecherin für das große Geschehen, Maria wandelte still neben Franz Sebald und auch den Buben leuchtete etwas auf, daß sie im Stern der Stunde gingen. Das Weiblein sagte mit einer zart verschleierten, merkwürdig bewegten Stimme und breitete beide Arme aus: »Ein Stück Erde blüht 72 mir nie! – aber die ganze Erde und der ganze Himmel!« Das sagte sie so, wie Menschen eigentlich nicht sprechen, so aus allertiefster Seele herausgedrängt von Übermacht des Gefühls, und das ärmliche Gesichtchen bekam etwas Beflügeltes und Bedeutungsvolles.

Franz Sebald wies Maria leicht auf sie hin. Er selbst war wie versunken in den Anblick des Weibleins. Frau Sebald sagte flüsternd, wie zu sich selbst und doch zu Maria gewendet: »Biss'l verrückt.«

Heute hatten die Sebalds alle zu Tisch eingeladen. In ihrem Garten mitten in den Feldern hatte Frau Sebald einen schmalen langen Tisch gedeckt, der eingerammt auf der Wiese unter Obstbäumen stand. Maiblumen und blühende Apfelbaumzweige schmückten ihn, so geordnet, daß jede Blume für sich zur Geltung kam. Das weiße Tuch leuchtete, so saßen sie, Franz Sebald, Maria, Frau Sebald, die Buben und Magdalena Fabris, die kleine Schlange, eng aneinander gedrängt und verzehrten ein Mahl, das in der Art, wie es zubereitet und von Frau Sebald aufgetragen wurde, an das Weizenbrot erinnerte, das sie mit goldenen Ähren geschmückt hatte. Es war etwas Ursprüngliches in allem, was diese Frau tat, die Schönheit der Ursprünglichkeit, eine Liebe zum Leben und zur Erscheinung.

Während sie noch bei Tische saßen, im Schatten der noch blühenden Apfelbäume, kamen einige hell gekleidete junge Mädchen mit schmalen Kränzen im Haar, wie auch das Schlänglein eins trug, und riefen: »Onkel Sebald! Onkel Sebald!«

»Die Madeln,« sagte Frau Alma. »Geben die je Ruh!« Franz Sebald stand geduldig und freundlich auf, ging zu ihnen, sprach und lachte mit ihnen und schickte sie dann freundlich wieder fort. Sie kamen aus dem 73 Landerziehungsheim vom nächsten Dorf, in dem Franz Sebald Lehrer war.

Maria nannte dies »Lehrersein« ihres guten Freundes die schönste und die schmerzlichste Geschichte, denn er war von den Nöten des Lebens eingefangen worden zu diesem Amt, das er voll Güte und Hingebung versah, ein Lehrer von Gottes Gnaden, der aber dies Gottesgnadentum etwa wie einen stachligen Wacholderbusch mit gutem freundlichen Willen trug. Ottomar hatte einmal gesagt, als sie jenem wunderlichen Mann in der engen Straße am Abend begegneten, »das wird wohl ein Weltenseher sein«. Seitdem hatte Maria dies Wort für ihren Freund behalten. Er war für sie der Weltenseher, der Ausgucker für alles. Sebald stand für sie auf dem Wartturm, sie konnten ruhig und friedlich leben, Franz Sebald stand und schaute in die Welt der Sterne, schaute in die Welt Gottes, in die Welt der Blumen und Tiere, der lustigsten Dinge und größten Narrheiten und schaute und schaute.

Er brauchte wahrlich kein Amt, um sich die Zeit zu vertreiben. Er war wie ein Wissen von allem, als stände er schon auf der Schwelle einer höheren Welt, von der aus er eindringen konnte in das Wesen des Seins, ohne Tat und Qual, überfließend von den Herrlichkeiten und Geheimnissen des Seins. So sah sie ihn voll Freude und Vertrauen auf dem Wachtturm stehen und lächelte, wenn man ihr erzählte, daß er oft seine Schulstunden verschlief und die Kinder ihn zum Unterricht holen mußten. – Ja, holt ihn euch nur, dachte sie dann, so etwas muß man holen, das kommt nicht daher gelaufen wie die Alltäglichkeit. Und wenn Frau Sebald über ihn klagte, daß er zu nichts im Hause zu gebrauchen sei, lächelte sie wieder und tröstete sie und sagte: das wird sich alles klären, sie solle nur Geduld haben.

74 Damit aber kam sie immer sehr übel an. »Was klären! Nix klären, der macht so fort. – So ist er, nicht anders, da red', was ihr wollt.«

»Lern ihn nur kennen.«

»Meinen Mann soll ich kennen lernen, daß i net lach, den ich wie mein Taschtüchl kenn', ach liebe Stromin, man sollte meinen, du bist so ein verrucktes Frauenzimmer, wie sie so daher kommen.« Und sie ließ auch heute Maria, das Weiblein und die Buben mit ihrem Mann allein und machte sich an die Hausarbeit, wies alles Anerbieten, ihr zu helfen ab und lachte. »Macht's nur so weiter, ich versteh euch doch nicht! – Und ihr mich nicht. – Noch weniger!«

Sebald trat mit ihnen allen ins Haus, führte sie in das schlichte Wohnzimmer, in dem Kunstwerke an der Wand hingen und Gebilde aus der Natur, ein graubemooster Zweig, ein geheimnisvoll sich auftürmendes Wurzelgewächs. Von Kunst nur das Edelste, Reinste. Durch die breiten kleinen Fenster schimmerte der See und Blumenstöcke blühten und waren gepflegt und gesund erhalten durch Frau Almas Hand. Jedes Stöcklein grünte und blühte so vollkommen es nur konnte. Um die Fenster zog sich Efeu, frisch, als grünte er im Wald. Maria bewunderte ihn und Sebald sagte: »Sie ist eben ein Naturwesen und alles, was wächst, fühlt sich ihr nahe. Sie verstehen sich miteinander. Wenn sie mit bloßen Füßen durch das Gras geht, geht die nicht etwa, sondern wühlt sich ein, als wollte sie Wurzeln schlagen.«

Er öffnete die Türe zu seinem Allerheiligsten, in dem nur er Herr war, da quollen Mappen und Stöße von ungebundenen Werken aller Art, Regale voller Bücher bis an die Decke, jeder Fleck Raum war ausgenützt. Für ihn selbst war nur eine Ecke da, in die sich jetzt alle zusammendrängten.

75 Er öffnete eine Art breiten Schrein, der an der Wand hing, öffnete ihn nicht so weit, daß alle Einblick haben konnten und entnahm ihm Beethovens Maske nach dem Leben geformt, legte sie behutsam auf den Tisch, öffnete den Schrein noch einmal und entnahm ihm noch eine Maske, die von dem toten Antlitz Beethovens. »Viele meinen, die nach dem Leben geformte sei die Totenmaske,« sagte er, »sieh her, Magdalena – staune – welche Formen! Berg und Tal, die kleine Felsennase, wie von Stürmen und Wogen gedrückt, alles durchstürmt, wie beunruhigt. Ungeheures hat da gewaltet, die Formen erschüttert, Götterkämpfe und Götterseligkeiten, denen das Gehäuse aus Fleisch und Bein hat Stand halten müssen. – Etwas Unfaßbares solch ein enges Haus der Gottheit. Erschauernd nahm ich das Gebild oft zur Hand – und keine Kirche bringt mich dem Göttlichen so nahe wie dieses gottdurchraste Gesicht, das alle Gottesstürme ausdauerte. – Und hier,« mit der andächtigen Art, mit der Sebald einen ihm heiligen Gegenstand berührte, sei es eine Blume, ein zartes Tier oder ein Kunstwerk, hob er die Totenmaske Beethovens langsam in die Höhe.

»Hier – seht hier die Zusammengefaßtheit in der Stunde des Todes – Gott hat gelitten, die Gottheit ist aus seiner Menschwerdung erlöst – sich ihrer Gottheit staunend bewußt. Die Stürme ruhen. Die düstere Stirn, unter der die Offenbarungen gärten, ist ruhig wie ein See. Die breit gedrückte, überwogte Felsennase hebt sich wie ein schlankes Riss in die Höhe, der Gottsturm, der hier gewütet und frohlockt hat, ist zur ewigen Gottheit geworden. Kann man etwas Erschütternderes sehen –! Etwas Offenbarenderes?«

Sebald war ganz in sich versunken.

76 »Eins zeige ich jetzt noch, weil das so sein muß. Ihr habt den Gottesmenschen gesehen. Nun will ich euch das feinste Instrument zeigen, das je vom Wissen, den Kräften, den Pflichten, den Kämpfen und Einsichten, dem Genie dieser Welt gebildet wurde.«

Und Sebald nahm Friedrich des Großen Todesmaske aus seinem Schrein.

»Daran haben Generationen, Menschenrassen, Ewigkeiten gemeißelt, bis dieses Wunderwerk entstehen konnte. Seht diese schlanke, feste unbezwingbare Nase, die Gesetz und Willen an sich ist. Durch alle Stürme der Welt fährt sie daher wie ein stolzer Kiel – und alles ihr gleich gebildet in der Harmonie des unbezwingbaren Herrscherwillens. – Diese königliche Stirn und Schädelkuppel zart, fest und schmal. Unaushaltsam alles, was darunter als Wille und Befehl entsteht. Die Nase wie ein Pfeil, der die Gedanken vorwärts schnellt, die schmalen Wangen, nichts hindert den Flug. – Der Mund so fein gebildet, daß kein Gedanke an Freßwerkzeug aufkommen kann, nur Herrscherwillen und Majestätsausdruck dieser Welt.

Und über all dieser Herrlichkeit des wahren Königtums dieser Erde, das in solcher Reinheit Generationen brauchte, um zu entstehen –, das ewig geheimnisvolle Siegel des Todes.

Erstarrt, zu Eis gefroren, die unausdenkbare erstaunliche Geschliffenheit.

Ich glaube, dies Gebilde hier ist wohl das schärfste, geistigste, was der Gedanke Herrscher kristallisieren konnte. –

Aber wie wird einem, wenn man dagegen das erschütternde Beethovengesicht betrachtet, diese leidvollen gedrückten von göttlichen Kräften fast vernichteten Formen.«

77 Das Schlänglein lag mit aufgestützten Armen fast über der Lebensmaske Beethovens und schaute ganz entrückt.

Franz Sebald wies kaum merklich auf sie hin – und blickte Maria an.

»Ich sprach für sie!« sagte er leise.

»Ach, aber,« sagte das kleine wunderliche Wesen ebenso leise, »ich bin eine Frau – und in mir glüht es nur im Herzen.«

»Aber was du willst, ist das, was ich dir eben zeigte.«

Ein Aufatmen und das Weiblein lag Franz Sebald am Herzen und schlang seine Arme um seinen Hals.

»Ich will, was ich nicht sagen kann, Vater!« schluchzte sie auf und lächelte, dann ließ sie ihren Halt los und zog sich wie in sich selbst zurück. Ihr Gesicht wurde das Gesicht des kleinen ärmlichen Kindsmädels mit der rührenden Stumpfnase und sie wendete sich Ottomar zu, den sie an sich drückte.

Am späten Nachmittag kam König David und suchte Maria in ihrem bekränzten blumenreichen Stübchen auf. Er war vor ihr wieder heimgekehrt und kam jetzt auch an den geliebten See, schweren Herzens und begrüßte sie. Er küßte ihre beiden Hände und war von zaghafter Zärtlichkeit, saß neben ihr und hielt ihre Hand.

»Meine Heimat, das hast du mir zum Trost gesagt, meine liebe, einzige Heimat, – weißt du's noch, daran halt ich mich.« Und er lag vor ihr auf den Knien.

»Und wieder finde ich dich in einem geschmückten Kapellchen, meine Maria, und du siehst aus wie mein guter Engel.«

»Und will's auch sein,« sagte sie einfach.

In ihrem Herzen aber war eine große Wiedersehensfreude, die ihr bänglich war, und sie konnte nicht umhin, daß ihr Tränen in die Augen kamen.

78 Er sah sie betroffen an.

»Weil du so ein Narr bist,« sagte sie, »komm zu dir und sieh mich wie ich bin, ich bin's ja gar nicht, die du liebst!«

Und dann saßen sie miteinander im blumenreichen Stübchen, daß die Kinder und das Weibchen mit allen Herrlichkeiten dieser Erde geschmückt hatten – und beide waren, jedes auf seine Art, tief bewegt.

Da rief es vom Fenster: »Maria! David! Ich will euch etwas zeigen, das ihr nicht vermutet, kommt herunter!«

»Wir kommen,« antwortete Maria. Vor der Haustür wartete Sebald und empfing sie auf seine lebendige Art.

»Daß es allerlei zum Staunen gibt, habe ich dir schon auf dem Weg vom Schiff versprochen. Haus und Garten hat sich schon gefunden; aber das ist nicht alles.«

Der Wind hatte sich gelegt, der See lag ruhig und schimmerte perlmutterfarbig, die Sonne stand hinter leichtem Dunst, das Gebirge hell wie ein Hauch, farblos geisterhaft, das Grün des Maienlaubes zart hineingewoben in das sanfte Abendbild. So kamen sie ins Dorf, in dem alles noch farbig, stark leuchtend war, die Gerüche, die Laute voller Leben sich aufdrängend; und wieder ging's durch einen Bauerngarten unter spät blühenden Apfelbäumen hin, Blüten, junge Blätter, rosige Pracht des Mai und man stand vor einer Scheune, um welche ländliche Gerätschaften lehnten und lagen, Bretter, entrindete Birken und Eschenstämme.

Sebald öffnete ein Tor und trat in eine scheuerartige Werkstatt ein. Die Arbeit ruhte.

Durch eine Tür aber blickte man in eine kleine Stube, die von einem Fenster vom See her erleuchtet war und in diesem Raum bewegte es sich zwischen Abendsonnenschein und dem Geflimmer der Blätter vor dem 79 Fenster. An der Decke blinkten die Sonnenspiegelbilder der Seewellen hell auf und in dem kleinen Raum bewegten sich die Ströme und das Schlänglein.

Sie mochten die in die Scheuer Eingetretenen nicht gehört haben und blieben ungestört.

»Du, Schlängle, stell das so – weißt du –, so sieht's ganz lebig aus,« sagte Ottomar und rückte an etwas.

»Geh, du verdruckst ihr's ja!«

»Nein,« sagte Ottomar, »dös is ja schon gebacken oder was.«

»Gebacken is dös net! Gell? Schlängele.«

»Nein, gegossen, aus Wachs gegossen.«

»Aus Wachs? aus Bienenwachs? – aber nicht süß?« fragte Ottomar wieder.

»Du meinst?« – sagte das Weiblein bedeutungsvoll.

»Dös mein i nöt, i woas schon,« sagte Ottomar bös, »so dumm bin i nöt.«

»Hallo!« rief Sebald und trat zu den dreien ein. »Nun kommt einmal,« rief er Maria und David zu, »und ihr geht 'naus ihr drei!« Die drei faßten sich bei den Händen und waren eiligst verschwunden. Maria und David traten ein und standen vor einem Tisch, der grün bekränzt war und die letzten Strahlen der Sonne flimmerten auf zarten Bildwerken, die aus weißem Bienenwachs gegossen, edel schimmerten oder in Holz kräftig und dunkel golden leuchteten.

Da stand auch der Engel aus den himmlischen Heerscharen. Und ein Hirtenjunge, der ein Lamm im Arm hielt, das sich ganz in ihn verkrochen hatte, saß in der Nacht auf freiem Felde und blickte in die Sterne. Da war kein Zweifel, daß es Nacht war, Einsamkeit, und daß er die Sterne sah. – Sehnsucht, – da hockte ein Weib ganz in sich versunken in sich blickend, in sich suchend –, nicht in die Weite schauend, in sich einblickend. 80 Aus dem Sockel stand mit fester Schrift eingegraben: Gott ist überall, aber nur in dir kannst du ihn erfassen.

»Das ist ja unerhört! diese Kraft der Anschauung!« rief Seppl David.

»Und das geringe technische Können,« setzte Sebald hinzu. »Welches Genie steckt in ihr.«

»Und wer ist sie?«

»Die, die da hinaussprang,« sagte Sebald.

»Das kleine Ding?«

»Frau Magdalene Fabris.«

»Das Ding mit dem Immortellenkränzchen?«

»Ja, Freund Seppl.«

Seppl David hielt eine kleine Gruppe in der Hand, eine kniende nackte Gestalt, die auf ein Kindchen vor ihr liegend blickte. Das Kind hing an ihrem Blick und ihr Blick an dem des Kindes. Ihre ganze Haltung Hingebung an Unbegreifliches, Demut und Erschauern.

»Der nackte Leib der Maria, der Gottesmutter,« sagte Sebald.

»Wie ist das in ihr entstanden? – Unbegreiflich. Niemand hat es gewagt, als der größte von allen und sie tat es wie ein Weib tut, ohne Zusammenhang mit allem was schon geschah und nicht geschah. Sieh dir den Rücken an, welche Unschuld, welche Reinheit und Ergebenheit, gebeugt von allen Wundern.«

»Und wer ist sie eigentlich?« fragte Seppl David wieder. »Die Frau eines unmöglichen Mannes, der, Gott weiß wo lebt, ihr nicht die Freiheit gibt, sich aber nicht um sie kümmert, so ein umhergewirbeltes Blatt oder Gott weiß was, lebt fast von nichts, kriecht da und dort unter, ist aber voller Glückseligkeiten,« sagte Sebald.

Seppl David ließ die kleine Gestalt der Maria nicht aus der Hand.

81 »Ich,« sagte er, »liebe die verhüllte Maria, ihre Gewänder sind Liebe, – jede Falte ist Seele. Das rote Gewand des tiefen Schmerzes und der tiefsten Liebe, der blaue Mantel der Gotthingabe und die weiße Maria unter dem Kreuz: – alle Welt ist von ihr abgefallen, alle Farben, alle Erscheinung, aufgelöst im Leiden Gottes ihres Menschensohnes. Welcher Schmerz ist dem meinen gleich? – der da auslöscht die Farben meiner Gewänder!

Welcher Leib könnte das ausdrücken? Der Leib ist immer Leib, Werkzeug der Fortbewegung, Nahrung, Zeugung. – Verhüllung ist Symbol der Entkörperung, hohes Mysterium – kann es sein – sollte es sein.

Aber doch, es ist ein Wunder, daß dieses Wesen das geschaffen hat, eine Kühnheit sondergleichen und eine Tiefe.

Wie kann das kleine Ding diese Kräfte tragen?«

Sie schauten und sprachen noch lange.

Franz Sebald rief jetzt zum Fenster hinaus: »Kommt herein, Kinder, wir wollen miteinander noch einen Abendgang machen. Solch ein Abend will erlebt sein!«

Alle drei kamen, das Weiblein zwischen den beiden blonden Buben.

»Habt ihr nun gesehen, was das Schlänglein gemacht hat,« rief Ottomar jubelnd. »Ihr könnt ihr ruhig jedes einen Kuß geben vor ihrer Bravheit.« Und er zog sie wieder zu seiner Mutter und schob sie ihr in die Arme, und Maria hob ihr mit beiden Händen das Köpfchen und küßte sie auf die Stirn. »Sie glückseliges Kind,« sagte sie. Sebald klopfte Magdalene auf die Schulter und lächelte strahlend, als wäre das Schlänglein mitsamt seiner kleinen Wunder sein eignes Kunstwerk, und König David küßte ihr ganz ehrfürchtig die kleine feste Hand und schaute sie ungläubig an, als bezweifle er, ob alles wirklich mit dem wunderlichen Wesen seine Richtigkeit habe.

82 Sebald holte den Schlüssel zu Garten und Haus, und sie besahen sich alles andächtig noch einmal. Abendstille lag in den sauberen, leeren, gut gehaltenen Zimmern, aus denen ein fremdes Leben geschwunden war, und die nun bereit waren, neues Leben in sich aufzunehmen. Der Garten in seiner abendlichen Maienpracht duftete ganz wundersam nach blühenden Apfelbäumen. Vom Gras stieg der feine Opferruch der lieben Veilchen auf, ein paar Kaiserkronen hoben die stolzen Häupter, und alles keimte und drängte aus der dunklen Erde hervor. Weit zog sich der Garten bis zum Seeufer hin; da schatteten alte weichlaubige helle Buchen einen festen Rasenboden, auf dem man wandeln konnte, der teppichgleich moosig sich ausbreitete. Das Gebirge leuchtete in seiner letzten Sonnenpracht über das Dämmerland.

Maria ging still und sinnend die Wege, die ihr wohl vom Schicksal bestimmt waren, oft zu gehen. Sebald hielt sich zu den beiden Strömen, und König David sprach etwas befangen mit dem wunderlichen Wesen, das er sich nicht recht zusammenreimen konnte. Sie schaute zu ihm auf und sprach lebhaft und lachte –, und auch er lachte, hörte ihr aber doch wie ehrerbietig zu, ohne all zu viel zu erwidern und sah auf sie nieder, als ginge neben ihm etwas Unwahrscheinliches, etwa als träume er, ein liebes Märchentier, ein Zauberfuchs oder Vogel, erzähle ihm Zauber und Schicksalsdinge.

Die tiefe Nacht war dunkel angebrochen. Maria schlief in ihrem geschmückten Kapellchen, seelenmüde vom dumpfschweren Entschluß, dessen Erfüllung ihr im Blute lag, dem sie sich nicht entziehen konnte.

König David wanderte ruhelos und wie verwaist durch die milde Maiennacht.

Sebald schlief im Freien in seinem Garten, der mitten in den Feldern lag, eingehüllt in einen weiten, warmen 83 Mantel, der ihm von einem teuern Freund hinterlassen war; eine Hülle, die ihm sehr zugute gekommen, denn sie hatte ihn unter die Sterne geführt. Der Mantel war so weit und warm, daß er den beweglichen Mann im Gehen gehindert haben würde; aber zum Ruhen unter dem ausgestirnten Himmel war er eben recht. Vielleicht hätte ihn dieser ererbte Mantel auch nicht unter die Sterne geführt, wenn diesem Mantel nicht noch etwas beigegeben worden wäre, ein Buch, ein Werk, was mit dazu gehörte, zum toten Freund, dem warmen Mantel, dem Sternenhimmel und dem Franz Sebald, in dessen Augen sich die stille Sternenschau bei Nacht, auch am Tage widerspiegelte. Wer so eingewickelt in warmer Hülle, mit offenem Blick und furchtlos in die Sternenwirbel der Ewigkeit nachts wie in seiner Mutter Augen blickt, eingehüllt wie ein Kind, und von der Unendlichkeit eingeschläfert wird, dem müssen Kräfte ausstrahlen, von denen die nichts ahnen, die nur aller langen Zeiten einmal einen mühseligen Nicker zum Sternenhimmel hinauf tun.

Ruhe aber fand in dieser Nacht wie König David auch das Weiblein nicht, wie so manche Nacht und gar Maiennacht, sie konnte vor Überfreude nicht schlafen, weil es Mai war; weil sie so froh war, so voll Liebe und Glück. Sie wußte den Vater im Garten, wie sie Sebald nannte, da konnte keine Furcht über sie kommen.

So saß sie an einem Wegrain, mitten in den nächtlichen Wiesen, die Arme um die Knie gelegt, und schaute, dachte an die beiden Ströme, an Frau Maria, der sie schon ihr lebendiges warmes Herz geschenkt hatte, und an Seppl David, den König David, dessen zarte Zeichnungen und Farbenmusik sie durch Sebald so wohl kannte und unaussprechlich liebte. Es war ihr so wohl, sie war so dankbar. Und ich meine fast, dachte sie, ich höre den Vater unter seinen Sternen schnarchen.

84 Da wurde es ihr vollends heimlich in der stillen, feierlichen sternenhellen Nacht, daß ihr die Tränen kamen vor lauter Liebe zur schönen Welt und dem Leben und den Menschen: und es war ihr, gerade als der Wind leise anhub, als striche Gottes Weltenmantel weich über sie hin. Da schloß sie die Augen; und sie fühlte Gottes Liebe, des wahrhaftigen Gottes wirkliche, wahrhaftige Liebe. Er hatte sie mit seinem Wind- und Maienmantel gestreichelt, wie er die Bäume, die Blumen, die Vögel im Neste streichelt.

Und wie sie die Augen wieder öffnete, sah sie eine Gestalt des Weges kommen und hörte langsame Schritte. Da duckte sie sich zusammen wie ein Häschen, und es wandelte still an ihr vorüber, und wie sie wieder aufschaute, sah sie deutlich, daß es »König David« war. – Und im selben Augenblick rief sie auch: »König David!« Da gab es bei ihr gar keine Bedenken. Seppl David schaute sich um und gewahrte niemanden, der ihn gerufen hatte. Das Weibchen kroch noch mehr in sich zusammen und spürte, wie er schaute und suchend um sich sah. Da rief sie wieder voll Übermut: »König David!« Und da gewahrte er das geduckte Wesen am Wege. »Das Schlänglein,« sagte sie leise, weil es ihr Spaß machte, so als Schlänglein am Wege zu sitzen und König David zu rufen. Wie aus einem uralten Märchen kam ihr das vor.

»Das Schlänglein?« wiederholte Seppl David. »Aber was tut es draußen mitten in der Nacht?«

»Es spinnt,« sagte sie lächelnd.

Da beugte er sich zu ihr nieder, und weil sie hocken blieb, setzte er sich zu ihr. Beide waren still und wußten nicht recht, was sie sagen sollten. Aber in der tiefen Sternennacht war das auch ganz das Rechte, und sie gewöhnten sich an ihr Schweigen und blieben dabei.

85 »An was dachten Sie, in der großen Einsamkeit, wenn Sie draußen so allein im Dunkeln sind?« fragte er nach langem Schweigen. »Es ist nicht dunkel,« sagte sie, »heute gar nicht und ich dachte an Gott und daß ich sein Kind bin, das kann man am Tag nicht denken. Ich sag's Ihnen so, weil ich Sie schon lange kenne.«

»Sie kennen mich?«

»Ihre Kunst kenne ich.«

»Und so glauben Sie, daß ich Sie verstehe?«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es. Wir gehen dieselben Wege, sonst würden wir uns heute nacht auch nicht begegnet sein, das ist einfach.«

»Freilich, das ist einfach; aber doch sehr verwunderlich; denken Sie, was es überhaupt heißt: zwei Menschen begegnen einander, das ist gar nicht auszudenken, – da müßten wir bei den ersten Lebensregungen im Weltall beginnen und so weiter. Durch ungezählte Millionen Jahre hindurch, bis etwa zu dieser Stunde.«

»Erschreckt mich gar nicht,« sagte sie, »es ist doch einfach, für mich ist's einfach. Sie lieben die Nacht und auch ich liebe die Nacht, der Tag bringt viel Unruh, da verliert man sich, und nachts will man sich selbst finden.«

»Was aber tun Sie nachts, wenn Sie nun in der Stadt sind und sich finden wollen?«

»Ich gehe in keine Stadt.«

»Aber Ihre Kunst? Sie mußten doch lernen und müssen es noch.«

»Ich lerne nicht.«

»Aber was wird da?«

»Nichts,« sagte sie, »ich bin eine Frau. Es wird nichts werden.«

»Es gibt doch Frauen, die Gutes schaffen.«

»Aber nichts Ewiges,« antwortete sie leise, »ich spiele, weil ich's weiß.«

86 »Das ist nicht recht, was Sie da sagen, Sie sind außerordentlich begabt.«

»Es ist doch so. Es kommt alle nasenlang etwas, was mich ganz überwältigt. Es kommt so viel. – Und man liebt so viel –.«

Da lachte er etwas, weil es so drollig altklug klang.

»Ich meine nicht Verlieben,« antwortete sie ungeduldig, in der Art, wie etwa Ottomar es getan haben würde, »ich meine so: ich liebe jetzt die Maientage mit allen meinen Kräften, da könnt ich gar nicht in eine Akademie gehen, – lieber sitze ich hier nachts oder in der Dämmerung und schau so lang in die Wolken, bis ich da oben das sehe, was ich will, ich meine, was ich ausführen will, – die Maria habe ich da oben gesehen, groß und herrlich, wie kein Mensch sie schaffen kann, dann hab' ich das kleine Bildchen zur Erinnerung gemacht. – Nur ich weiß, was es bedeutet, für andere mag's ein Püppchen sein – für mich nicht.«

»Auch für mich nicht, auch für Sebald nicht,« sagte er bewegt.

»Weiß ich!« Die Hände hielt sie um die Knie geschlungen. »Aber was ich sah, das wißt ihr doch nicht.«

»Jede Kunst ist so, Schlänglein.«

»Nein – nein – so nicht!«

»Kein Mensch ist wie der andere und keine Kunst ist wie die andere, und nicht jeder kann in eine Akademie gehen. – Bin auch zu arm dazu. – Hab' auch schon viel gelitten.«

Da schwiegen sie beide.

Und Seppl David war es, als sie das so ruhig und selbstverständlich sagte, als wollte er das wunderliche Weibchenkind wie ein Kind in die Arme nehmen. Sein Herz wallte auf. – Und es war ihm, als hörte er Maria, seine geliebte Maria sagen: »Ich bin's ja gar nicht, die du 87 liebst.« – Ja, er hörte sie mit ihrer weichen Stimme das wiederholen, was heute abend, in der blumenreichen Stube ihr letztes Wort gewesen war, das Wort, das ihn keine Ruhe hatte finden lassen, das ihn hinausgetrieben hatte in die milde Nacht.

Unmöglich erschien ihm, was er hier, am Wegrand sitzend, empfand. Er stützte die Arme auf die Knie, stützte den Kopf in die Hände und baute sich so, wie es schien, ein Gerüst, um seinen verwunderlichen, verwirrenden Zustand leichter tragen zu können. So blieb er – und auch das Frauchen blieb, die Arme um die Knie geschlungen, schweigsam und in sich versunken sitzen, wie vordem, ehe König David ihre Einsamkeit mit ihr geteilt hatte.

Nach einer langen Weile sagte Seppl David wie für sich hin: »Zu arm und hat auch schon viel gelitten, – wie das klingt.« »Gut klingt's nicht,« meinte das Weibchen, »doch ist's besser, als es klingt. Es heißt: arm, aber war immer mutig und fand oft gute Menschen – und hat sich auch selbst geholfen. In kleinen Porträtbüsten bin ich nicht schlecht. – Und hat auch schon viel gelitten. – Ist auch besser, als es klingt. Gottesnah wäre ich ohne Leid nicht geworden. – Hätte ich den gleich gefunden, den ich liebe, wer weiß, ob ich nicht in Liebe zu früh untergegangen wäre. – Doch will ich in Liebe untergehen. – Die Menschen, denen das nicht wurde, haben nicht gelebt.«

Inmitten der Nacht, allein am Wegrand, unter dem Sternenhimmel und alle Vielheit in tiefem Schlaf versunken, das heißt ausgelöscht, fortgewischt, spricht sich's so leicht und schrankenlos mit seinem Nächsten, den der Zufall mit wachen läßt. Es ist dann eine Einheit hergestellt, die der Tag mit seinen Heerscharen streitbarer Ichs nicht zuläßt. Seppl David dachte, wie sie das sagt: in Liebe untergehen, – als spräche das Stück Erde selbst 88 nachts vor sich hin. Dann stellte er sich das zarte Wesen am lichten Tage vor mit dem klugen Mund, der eckigen ärmlichen kleinen Gestalt und dem Immortellenkränzchen, das sie auch jetzt noch trug. Es leuchtete wie ein lichter Streifen um den dunkeln Kopf und den Zopfwickeln um die Ohren. Oh, du Menschenwelt! Was birgst du in dir für Wunder und Zeichen! – So ein Nichts – so ein Ding! so wie ein grauer unscheinbarer Stein am Weg oder ein Sperling, den man nicht beachtet oder gar nicht sieht – und nun – nun sitz ich hier und ein Wesen, das wie in mich hineinzuwachsen scheint. Eine Ehrfurcht vor der arglosen Künstlerseele überkam ihn, eine Zärtlichkeit sondergleichen für das frohe, einsame, seltsame Geschöpf. Er selbst, so auf die zartesten tiefsten Dinge des Lebens gestimmt, stand vor so ganz Unerwartetem, gefeit seit langem durch eine große Liebe, und in die Nacht hinausgelaufen vor Liebesweh und Liebessehnsucht, saß er nun am Wegrand unter den Sternen und konnte sich nicht enthalten, den kleinen grauen Sperling bebend und behutsam an sich zu ziehen, wie einen Vogel, den er sanft an sein Herz legte.

»König David, was tust du, hast du mich denn lieb? Und wie denn? So mit einemmal?«

»Ja,« sagte er, »es ist so.«

»Ist das wirklich wahr?« fragte sie unbeschreiblich ernst. »Wie ist das möglich?«

All die unausgesprochenen Liebesworte und Laute, die so lang in ihm verschlossen waren, drängten sich nun dem zarten Wesen zu, das er nachts am Wege gefunden.

Wolken und Dunst verdunkelten den Sternenhimmel, ein Nachtwind hub an und Seppl David erhob sich wie trunken und zog sein zartes Kind zu sich. – »Ich bring dich in dein Heim, du zartes seltsames, ganz Verwunderliches du, Liebeswunder du, wo bist du daheim?«

89 »In der Scheuer wohnt das Schlänglein,« sagte sie leise.

»Wirklich, in dem Stübchen, in dem die Wunderwerke stehen?«

»Ich schlafe beim Liebsten, was ich habe, wie ein Kind bei der Weihnachtsbescherung schlafen möchte.«

Und Seppl David dachte daran, daß Sebald gesagt hatte, sie lebe fast von nichts, sei arm. Er hatte in dem Stübchen nichts sonderlich Wohnliches gesehen; doch er entsann sich, es stand da allerlei Hausrat, aber was eigentlich, wußte er nicht. Das Stübchen war ganz voll Sonnenstrahlen, Flimmern und Wellenglitzern gewesen, und er von den kleinen Werken des Schlängleins so betroffen, daß nichts anderes sich ihm eingebildet hatte.

So gingen sie miteinander eng verschlungen durch die jetzt tiefe Dunkelheit und kamen durch das schlafende Dorf in der Nachtstille. Die Brunnen rauschten. Im Obstgarten fanden sie kaum den Weg und wurden von den kühlen, taunassen Apfelblütenblättern, die niederrieselten bei jedem Lufthauch, zart an Gesicht und Händen gestreift.

Das Weiblein fingerte an dem Schloß der kleinen Tür, die in den großen Torflügel der Scheuer eingelassen war. Er half ihr und ihre kühlen Hände berührten sich, was ihnen beiden gar wunderlich und fremd erschien und sie durchschauerte. Der Holzgeruch der Werkstatt schlug ihnen entgegen und sie tasteten sich bis zum Stübchen.

»Dein Heim,« sagte er leise und bewegt, »dein armes, überschwenglich reiches Heim, du Kind!«

Sie zündete eine Kerze an, die an dem Bauernbett auf einem Holzstuhl stand und stellte sie auf den bekränzten Tisch zwischen die zarten Gebilde. Der rötliche Schein zitterte auf dem weißen Wachs.

90 »Schau,« und in ihrer Stimme schluchzte es vor innerer Bewegung auf: »Das schenk' ich dir alles!« Tränen überströmten ihr blasses Gesicht, und er blickte in Augen, aus denen alle Wunder der Liebe strahlten und eine Seele voller Kräfte und Geheimnisse. Das Immortellenkränzchen stand wie ein zarter Heiligenschein um ihr Häuptlein.

»Und du schenkst auch mir alle Herrlichkeiten deiner Seele und was deine lieben Hände bilden?«

»Alles ist dein!« stammelte er und umschlang sie.

Und so beschenkten sie sich wie königliche Menschen und schöpften Unermeßliches aus ihrer Armut. Aus der dunklen Scheuer drang der scharfe Geruch der Hobelspäne, der Bretter und des Menschenwerktages in ihre Herrlichkeit hinein.

So ward ihre Liebe im Stall geboren wie der Erlöser.

Und König David nahm vom bekränzten Tisch die Gestalt der Sehnsucht, die nicht in die Ferne, sondern in ihr eigen Herz blickte. Als er das Gebilde so vor sich hin hielt, schimmerte es wie ein Opalkleinod und er las wieder, was die kleine Hand in den Sockel eingegraben hatte: Gott ist überall, aber nur in dir selbst kannst du ihn erfassen.

Das ergriff ihn mächtig und er fühlte: Gott hatte ihm seinen Engel geschickt, seinen geliebtesten, zartesten. Er gedachte an Michelangelos Gottvater, der Adam die erweckenden Fingerspitzen reicht und in seinem Wolkenmantel die Seele der Eva seinem Herzen am nächsten hält.

Die Dunkelheit der Nacht verblaßte, die Kerze verlor von ihrem Schein – und ein Neugeschaffener, den Gott berührt hatte, ging freudig und selig aus dem dämmernden Stübchen, durch die noch fast dunkle Werkstatt und trat hinaus in das erste fahle Morgenlicht.

91 Keine Sorge, keine Schwere belastete ihn, er wandelte in reiner Glückseligkeit, vor der alles andere hinschwand. Die Magdalena ist nicht frei, hatte Sebald gesagt, wir aber werden dennoch frei sein! Sein Jubel überwand alles, alle Härte des Lebens, und er schritt seiner Herberge zu, die ihn immer, wenn er Franz Sebald aufsuchte, aufnahm.

An Marias Fenster ging er leise vorüber, wie um sie nicht zu wecken.

Sie soll nicht leiden! dachte er wie im Gebet. So wie er sie sah und liebte, stand Maria vor seiner Seele. Aber alle Unruhe war nun geschwunden, mit der er sich und sie bedrängt hatte. Nur ihre Augen voll Tränen, als sie ihm so bewegend eindringlich sagte: Sieh mich an, ich bin's ja gar nicht, die du liebst, erschütterte ihn.

Er hatte sie hingerissen in diesen Kampf, in diese Tränen durch seine Ungeduld, seine Liebesheimatssehnsucht.

Und er fühlte, daß er zu ihr stehen würde in jeder Not und Freude des Lebens. Seine gewandelte Liebe zu ihr war in ihrer großen Zuneigung geblieben.

Er spürte in seinem Herzen einzig sie, sah sie in ihrer ganzen Eigenart, ihn anziehend. Eine Freundesliebe sondergleichen gehörte ihr.

Sieh in mein Herz, Maria.

Vor dem er mit Maria gesprochen und ihr alles vertraut, wollte er sein geliebtes nächtliches Wunder nicht wiedersehen.

So kam es, daß sie beide in heller durchleuchteter Morgenstunde in dem Garten, der das künftige Leben der Ströme und ihrer Mutter aufnehmen sollte, Hand in Hand miteinander gingen. Und Maria hörte den bebenden Worten ihres guten Freundes still zu. Für ihn war trotz aller Sorge und Unruhe über das, was 92 zwischen Maria und ihm sich begeben hatte, doch alles geschlichtet im tiefsten Grund der Gefühle. Er stand ausgeglichen, hatte gewonnen, war reich geworden, in ihm hatte sich ein köstliches Doppelleben gestaltet, wie er es fühlte, war alles gegeben, um eine Harmonie zu schaffen, trotz der Erregung, in der er sich befand, trotz des Schuldgefühls, wenn er an seine werbende ungeduldige Liebe dachte, trotz der Tränen, die er in Marias Augen gesehen, die ihm sagen mußten, daß ihr stiller Verzicht auf Liebe ein Opfer ihres ganzen Wesens war.

Maria hatte, ohne ihn zu unterbrechen, sein Geständnis mit angehört, hatte ihn lächelnd angesehen, ihm die Hand gedrückt, ihr Mitgefühl, ihre Zustimmung wortlos zu erkennen gegeben.

Sie aber stand unter dem Einfluß einer Kräfteberaubung, ein Lebensgewinn, ein Kraftgewinn war ihr durch Davids Liebe zugeflossen, ein Überfluß war jetzt gehemmt. – Sie erfuhr eine Entziehung, ihr Ich mußt eine Lebensentsagung erleiden, die immer von Schauern der Ent-Ichung begleitet ist, von dem, was wir Tod nennen.

Ihr gütiges Wesen mußte Stand halten, ihr Ur-Ich aber bekam einen Stoß. Es sollte hergeben, es sollte sich aufgeben – und wollte nicht. Nie will es sich hergeben, es stemmt sich, leiden will es nicht, es ist nur zur Freude da, meint es. Da wird niemand verschont.

Maria Strom mußte den alten Leideskampf bestehen. Und sie schämte sich seiner. Es kam ihr vor, als wäre sie aus einem schönen, ruhigen Haus in eine dunkle Gasse geworfen bei Wetter und Nacht – und würde angefallen von einem häßlichen Unbekannten, der sie quält. Nie hatte sie den noch kennen gelernt. Ihr Leben war so schön gewesen, so rein, ihre Natur war nicht 93 zugreifend, und es war ihr alles zugefallen. König Davids Liebe hatte sie nicht fest gehalten; – aber doch – sie war geliebt worden von einem Menschen, dessen Liebe schwer wog; von einem seltenen, – von einem, der mit seiner Liebe einen Lebensüberschwang gab, sie fühlte sich verlassen von einer schönen Welt. Das war ein böser Schmerz, nicht so weh und heilig wie jener, als sie Heinrich Strom hergeben mußte, mit dem sie bis an die Grenze der Ewigkeit gegangen war, wo sie ihn Gott hingab. Das Weh jetzt hatte etwas Böses, wie die Schmerzen dieser Welt sind und die Gesetze dieser Welt fern von Gottes Gesetz.

»Bist du nicht mehr meine Maria,« fragte König David schmerzlich, als sie stumm blieb.

»Doch – doch,« sagte sie leise.

Sie standen unter den hellen Buchen am Seeufer, auf dem moosigen Grasgrund, und Maria ließ sich auf die Bank nieder, von der aus man auf das Gebirge blickte und die ganze Herrlichkeit der Erde vor sich hatte.

»Nun erzähle mir,« sagte sie ohne recht zu wissen, was sie sprach, aber sie hatte den Ton gefunden, den warmen, guten, den sie finden mußte.

Und er setzte sich neben sie, erzählte mit der Unschuld des Nichtwissenden und floß über vor Staunen über das, was ihm begegnet war, – und sie lächelte und drückte ihm die Hand und tat mit den schwachen Kräften, die ihr der Kampf mit dem Fremdem, Unbekanntem übrig ließ, was eben möglich war.

Und es genügte ihm. Er war versunken in sich selbst, im Ur-Ich, nicht weniger wie sie, und versank vor ihren Augen immer tiefer, war immer des anderen unbewußter, erblindete nach den Gesetzen dieser Erde.

Die in Zuneigung zu einem Ich geworden waren, weil nichts Fremdes zwischen sie trat, waren nun wieder 94 geschieden zu zwei Einsamkeiten, die nicht mehr zueinander gelangen konnten.

Und wahrlich solch ein Abschied ist schwer; vielleicht der schwerste auf Erden.

Und wenn Maria vor Scham verging, so auf die dunkle Gasse geworfen zu sein und dort zu kämpfen, so tat sie, was keinem Lebendigen erspart blieb; aber daß sie es mit Scham tat, war ihre Gnade.

Sie gingen voneinander, er beglückt, daß er ihr nicht weh getan, daß sie die liebe, gütige, ihn ganz erfassende Maria geblieben, und sie erschüttert und schwer verwirrt.

So saß sie noch lange auf der Bank unter den hellen Buchen, deren zarte Blätter leis im Winde rauschten. Da kamen leichte, hüpfende Schritte den Weg entlang und auf sie zu, Ottomar war's und rief: »König David hat mich geschickt, ich soll zu dir und er käme auch heute oder morgen wieder und brächte dir das Schlänglein.«

Ottomar aber, den nichts Fremdes von Maria trennte, spürte Fremdes in ihr und schaute und sah sie an mit seinem Blick, der nicht abließ zu schauen, wenn ihm etwas auffiel. »Mutti, hat dir wer was getan? König David doch nicht?«

»Weshalb denn,« fragte Maria.

»Weil er bei dir war.«

»König David, das weißt du doch auch, ist gut,« sagte sie gedankenlos.

»Gut ist doch niemand,« antwortete Ottomar, »vielleicht du, aber du kannst auch hübsch bös werden.«

»Mutterl,« sagte er mit einemmal ganz nachdenklich: »lieb nichts, was Beine hat, alles läuft fort!«

Das war Maria schon oft aufgefallen, daß Ottomar etwas sagte, was ganz wunderlich der Begebenheit, die ihm unbekannt war, sich anschloß.

95 Sie blickte ihn verwundert an.

»Ach du, mein Lausbub!« sagte er zärtlich – und drückte sich an sie.

»Lausbub? – aber geh!«

»Sei nicht fad, was ist's denn weiter? Gar nichts ist's, gar nichts! Liebe ist's.«

»Du lieber Kerl.«

Da stampfte er mit dem Fuß auf: »Nichts sagen! nichts sagen!« . . .

»Schau Mutti,« da hatte er schon wieder etwas anderes im Sinn, »wenn der Garten uns gehört, wollen wir alles schön und herrlich machen, ich will einmal mit dem Körper arbeiten, der ist dazu da, er ist so groß und stark. Man sieht ihn und fühlt ihn, der unsichtbare Geist soll nicht arbeiten, er soll tun, was er will.«

»Doch,« sagte Maria, »der gerade muß arbeiten – und wie sehr,« das sagte sie wie in sich hineinfühlend.

»Ist das schlimm,« fragte Ottomar – »du sagst's so traurig?«

»Manchmal ist's schlimm,« lächelte sie, »weil er nicht will und gerade er muß wollen.«

»Meiner nicht.«

»Darum geht's bei dir mit dem Lernen so schwer.«

»Darum? Lernen ist traurig, das mag i nöt.«

»Es kann auch schön sein.«

»Nie,« meinte Ottomar kurz. Da sah er auf Marias Kleid eine grüne Eintagsfliege, bewunderte sie sehr, nahm sie in die Hand.

»Schau, Mutti,« sagte er, »ein schönes Viechlein, wie aus Flor.«

»Nimm sie in acht, sie ist so zart, das arme Ding und hat nur einen einzigen Tag zu leben.«

»Was armes Ding!« fuhr er auf »nicht ärmer als wir, wir haben doch auch nur einen einzigen Tag zu leben. 96 Ihr Leben ist ebenso gemacht für einen Tag und gerade so eingeteilt wie unser Leben. Ein Leben ist so lang wie's andere, denn es ist alles drin. In jedem was 'neingehört. Es ist doch nie Eile, dann ist's auch nicht zu kurz, Mutti.«

Wie kam er auf solche Gedanken? Und wunderlich, daß er in dieser Stunde so mit ihr sprach, so ganz aus seiner Eigenart heraus, als wollte er sie rufen: Komm aus der dunklen Gasse herauf, bleib nicht da unten, komm nur! Das geht ganz leicht – komme nur.

Als hätte ein Engel den Ottomar geschickt, erschien es ihr; und sie trat wieder ein ins lichte Haus, schwer und matt, aber das Grausen auf der dunklen Straße war nicht mehr. 97

 


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