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Gudrun ist wie ihre Schwester Tänzerin geworden. Sie bleibt geheimnisvoll, aber Ottomar bemerkt es nicht. Will einer die Erde verstehen, so muß er auch in ihr gegraben haben. Der Ammersee bekommt ein neues Wässerlein. Heinrich schlägt eine Brücke über den Abgrund. Ottomar zögert noch.
Über den Schwestern Romberg lag es wie der Zauber von Wasserrosen. Gudrun, eine gelbe Rose, Wera, eine helle weiße. Die gelbe Rose atmete schweren, betäubenden Duft.
Über Wera, der weißen Rose, lag unendliche Jugendkraft, doch das Wesen der gelben Blume lag im Leid. Wenn Gudrun fröhlich war, war in ihrem lauten Lachen etwas Dunkles verborgen. In ihr schlummerte Naturgewalt, das fühlte sie auch. Sie war tapfer und wild, und sie liebte die Natur und die Tiere. Mit ihrer geraden Art, mit der weiten Stirn, mit den offenen Augen suchte sie nach der Freundschaft, einer Freundschaft hoch über der Liebe, wie sie meinte. Wera war in ihrem Tanz das Bild einer weißen Blume. Voll Duft, voll Anmut und Jugendkraft. Sie tanzte so manchen Abend im Atelier, das zu der Wohnung ihrer Mutter gehörte, vor einem kleinen Kreis von Künstlern, und die saßen und staunten und zeichneten. Wenn sie gingen, war es ihnen, als hätten sie ein Bad genommen in lauter, lauter Frühling. In ihrem fünfzehnten Jahre hatte sie den 206 Tanz eines spielenden Kindes, und Frühjahrswind umwehte sie.
In Gudrun aber wuchs ein finsteres Ding, – Verschlossenheit. – Als der Winter kam, begann auch sie mit dem Tanz, und wenn sie schritt und wogte und sprang im Tanz, dann war es, als stände sie unter einer fesselnden Gewalt. Ihre Bewegung, ihr Schritt war wie verhalten, ihr Tanz wie gebannt von ihrem dunklen Blick. Und die Künstler, die im Atelier saßen, staunten und wagten nicht zu zeichnen. Und wenn sie gingen, war es ihnen, als sei ihnen da oben im kahlen Atelier etwas Schweres geweissagt worden.
So tanzten die Schwestern; Wera im rauschenden Frühlingswind, und ihr Erfolg wuchs. Außer den engeren Abenden gaben sie öfters Vorstellungen im Theater.
Es war ein stiller, schöner Abend, und im Rombergschen Atelier sollte getanzt werden. Wera hatte, was sie bisher immer vermieden, die Freunde eingeladen. Gudrun, ihre Schwester, hatte darauf bestanden. Es waren auch viele von Münchens jungen Künstlern erschienen. Wo die Stühle nicht reichten, lehnten Gäste an der Wand, den Skizzenblock in den Händen, oder sie saßen am Boden. Frau von Romberg breitete eine grüne Decke aus und rief Gudruns und Weras Freunden aus dem Jugendländchen zu: »Kommen Sie doch hierher, den Wandervögeln, eine Wiese!«
Wera hatte ungern die Freunde eingeladen, sie hatte Sorge, es könne so zwischen sie und die Freunde etwas Fremdes treten. Es war ihr oft schmerzlich und beschämend, zu tanzen, weil sie dies für ein Zeichen von Armut erachtete. Sie hätte sich nicht Sorge zu machen brauchen. Sie und Gudrun waren keine Tänzerinnen wie man sie sonst wohl unter diesem Namen vermutet. 207 Solche, die etwas Verborgenes in zierlicher Begehrlichkeit und Schmiegsamkeit zu bieten hatten, nein, die beiden brachten nur ein Stück ihrer Naturfreude, Geschöpfe, die sich austollen. Sie traten einzeln und auch zusammen auf.
Die Mutter spielte ihnen kurze Mozart- und Chopinstücke. Mozarts blütenfeine Freude entsprach der weißen, Chopins schwer atmende Klänge der gelben Wasserrose. Wera tanzte einen Kuckuckstanz, sie spielte am Boden, hörte dann aus der lieblichen Melodie ein lockendes Kuckucksrufen und sprang diesen Klängen nach. Frühling im Raum! Und draußen ja auch. Dann war's ein Blumentanz, sie streute Blumen, da kam die finstere Schwester und streute Reif. – Es war Salz, was sie auswarf.
Und dann war Gudrun allein, um die Stirn trug sie ein schwarzes Band. Sie schritt langsam, durchflutet von Musik, dumpf ringend, sehnend, drohend. Dabei war ihr Tanz nur ein langsames Schreiten durch den Raum. Ein zarter Schleier lag ihr über dem Kopf. Geheimnis in allen ihren Bewegungen.
Die beiden Mädchen waren breite, gesunde Geschöpfe. Fesseln hatten sie wie junge Tiere. Und es lag eine ungewöhnliche, knospende Frische über ihnen. Wenn Wera lief und in weiten Sätzen sprang, dann lächelte sie gar fein. Wenn Gudrun einherschritt, in gefesselter, gerungener Bewegung, dann schloß sie die Augen. Beim letzten Tanz waren die Schwestern wieder zusammen. Auch Gudrun sprang nun voll Leben, und ihr Tanz brachte ein ganz unerwartetes Bild; denn in ihrer Art, wie sie mit dem jüngeren Schwesterlein sprang, und wie sie alle ihre Bewegungen und Schritte nur ihr zuliebe tat, lag etwas Liebevolles und Mütterliches.
208 Nach dem Tanz kamen die Mädchen in weiße Mäntel gewickelt unter die Gäste und ernteten viel Lob.
Während der Vorstellung lief ein geflochtenes Körbchen bei den Zuschauern von Hand zu Hand, und ein jeder konnte so, nach eigenem Ermessen, sein Eintrittsgeld zahlen.
Ottomar gab Gudrun beim Fortgehen ein Blatt Papier mit einem Gedicht.
Du Tänzerin!
Nicht wie der Schmetterling im Sonnenstrahl,
So tanzt du nicht!
Nicht wie die Sünde und der Sünde Qual.
Dein Tanzen spricht,
Spricht nicht vom Sturm, auch nicht vom warmen Schein,
Gudrun, dein Tanz, der spricht von dir allein!
Die Sonne hat dich nie geküßt,
Ach, ich vermut,
Was brütend, glühend in dir ist,
Ist Erdenglut.
Du tanzt nicht Gott zulieb wie alles Gute,
Du tanzt dich selbst in deinem roten Blute.
Was in der Menschen Augen Tiefes lebt,
Schau ich nur matt;
Was sich an Wundern um die Stirnen webt,
Dein Stirn ist glatt.
Mich scheut dein Blick,
Weil er so trübe spricht,
Drum, wenn der Tanz dich treibt,
Schließt du dein Licht. 209
Ein Schleier schützt dein Wunder vor der Welt
Vor falschem Blick.
Doch eins hat Gott dir zugesellt,
Es ist Musik.
Musik in langen Tropfen, frühlingsfein,
Hat er geschenkt, du wärst sonst ganz allein.
Doch du gehörst der Erde und nicht ihm.
Drum fürcht ich dich, du Erdentänzerin!
Als Gudrun zu Bett ging, war sie traurig; sie hatte ja so ganz für den Freund getanzt, nur ihm zuliebe, sie wollte ihn zurückgewinnen durch ihr geheimnisvolles Wesen. Das hatte er doch früher so gern gehabt?
* * *
Wolfgang Stürmer und Ottomar traten sich jetzt näher. Heinrich war nicht mehr im Haus, diente sein Jahr ab in einem kleinen bayerischen Städtchen, in dem er sich wunderlich wohl fühlte und beglückte Briefe schrieb. Von da sollte er dann die Universität besuchen. Das Leben als selbständiger Mensch, wenn auch in den engen Banden seines Dienstjahres, gab ihm Selbstbewußtsein. Wolfgang Stürmer hatte sein Abitur gemacht. Er war von den Freunden der erste, der mit der Schule fertig wurde, und jetzt wohnte er bei Stroms.
Aber dies Reifezeugnis übte keinerlei Wirkung auf die Art der Unterhaltung der Freunde aus. Tag für Tag gingen sie mit Hacke und Schaufel zu dem Waldhang hinunter, der zum Landhaus gehörte und bis ans Seeufer reichte. Dort führten sie ein Leben wie Schwerarbeiter. Sie gruben an Stellen, die eine Quelle vermuten ließen, tiefe Gräben und verbanden sie miteinander; und wirklich plätscherte nach wenig Tagen in dem Tälchen, das zum See führte, ein neugeborenes 210 Bächlein. Weiter unterhalb sollte ein kleiner Weiher gebaut werden. Und jeden Morgen, es war noch kaum Tag geworden, da weckte einer den anderen, forderte ihn auf: »Komm und mach schnell, wir wollen zum Wässerchengraben gehen.« Das taten sie in Erinnerung an ihre alten Kinderspiele.
War Wolfgang in vielem ganz anders als Ottomar, diese Arbeit verband die zwei und gewann ihm Ottomars Herz völlig, der so ganz in solcher Arbeitsluft aufgehen konnte.
Wenige werden die Freude kennen, wenn nach langer Arbeit sich so ein Quellchen einstellt, dem dann nacharbeiten, es beobachten, zusehen, wie es kleine Steine und Sand vorbringt, ganz still sein und horchen, wie es leise spricht – einen kleinen Weiher machen, das Quellchen darein fangen und zur Kraft kommen lassen. Eine Insel, Moos, Steine, Molche.
Und dann kommen gar die Libellen und besehen das Werk. Abends kommt ein Reh und trinkt, und ein durstiger Fink. Und das Bächlein läuft mit einem kleinen Geplätscher in deinen neuen See, und du entdeckst einen freundlichen, rötlichen Frosch, der sich ganz von selbst eingefunden hat. Du kannst dich von der Arbeit gar nicht losreißen und du gehst nachts nach dem Abendessen nochmals hinunter mit einer Laterne, setzt dich an deinen Teich, beschaust ihn liebevoll und wunderst dich, wie er so ganz in deine Umgebung paßt. Die Nacht schleicht darüber hin. Du denkst an das Reh, wie die Tiere alle dein Werk, die Schaffung, anerkannt haben; dann siehst du am Ende gar einen Stern, eine Welt am Himmel, die sich in deinem Nachtspiegel besieht. Und dann geht man freudig heim in der Sommernacht und schläft ein und träumt von der Arbeit und freut sich aufs Weiterschaffen. So, 211 wenn du arbeitest und baust, bist du froh und gesund, und es wird dich auch niemand auslachen können, wenn du bei der Arbeit aussiehst, den Pickel beiseite legst und den schönen Buchenstamm neben dir ein paarmal streichelst und abklatschst wie einen guten Freund oder ein Pferd. Du kannst ja dann weiter arbeiten, und es wird wirklich niemand lachen. Du bist ganz allein und die Vögel verstehen dich schon und die Eidechsen, die sich in deiner Nähe sonnen.
Wenn du heimgehst, und beginnst beim Gehen ein Blatt aufzuessen oder ein Gras, und kommst dir sonderbar vor, fast wie ein Waldtier, dann wundere dich und freue dich ruhig – und komme dir auch sonderbar vor, das schadet nichts, das kann dich nur reicher machen.
Ottomar führte ein Tagebuch. Um nicht allzu gewissenhaft sein zu müssen beim regelmäßigen Eintrag, nannte er es das »ruckweise Tagebuch«. Und dies ruckweise Tagebuch war eine nicht endende Kette von Freude und Eigenheit. Über die letzten Tage schreibt er:
»Schaffen, daß der Schweiß an den Augen vorbeiperlt, das ist Wonne, daß die Finger sich nicht mehr gerade biegen lassen, das ist Wonne! Und in der Erde graben, ist die schwerste und die schönste Arbeit! Welche Kraft liegt im Erdreich. Alle Bäume, alle Wälder, alle Blumen, all die vielen frohen Farben, die kommen ja von der Erde. Und wenn du eifrig mit Liebe gräbst und gräbst, dann kannst du von der Erde solch schöpfende Kraft bekommen. Wenn du der Erde ein Freund bleibst, dann kannst du auch einmal ein Schöpfer werden.
Wie schön sind diese Tage mit Wolfgang. Wie veränderlich wir Menschen sind, er schien mir immer kalt, trotz aller warmen Freundschaft. Erst jetzt ist er mir ein Freund geworden. Woher kommt denn 212 Wolfgangs Wandel? Wie veränderlich wir Menschen sind! Was ist denn Beständigkeit? Ist die Natur beständig? Nein. – Immer neu, immer reich und ewig jung! Unbeständigkeit scheint mir der Träger der meisten und größten Freuden zu sein. Und wie kam Wolfgangs großer Wechsel? Mir bleibt's wohl verborgen. Es könnte vielleicht Dorothee Garbes Liebe sein? Ob aber Liebe solche Zauberkraft hat? Wenn Wolfgang von ihr spricht, kann man an seinem dankbaren Klang im Ton hören, daß Dorothee sein Reichtum und seine Freudenquelle ist. Wolfgang ist neu geboren, ja er ist jetzt erst dem lebendigen Leben gegeben.
Doch wenn er wieder in die Stadt kommt und nicht mehr unter Bäumen ist und nimmer gräbt, dann ist er von neuem im Land der Stadtmolche, in der Menschenfalle. Nur, wer in den Wald hinein geboren ist, der bleibt ein Baum auch in der Stadt, auch unter starren, wissenden, unter den allwissenden Stadt- und Weltmenschen.
Heut sagt mir Wolfgang beim Graben: »Du – du sollst das Körperliche nie gering schätzen. Ich glaube in dem Wunder des Körpers beruht das Göttliche der Menschheit. Religion lasse ich natürlich gelten; aber die ist sicher auch so zu verstehen: das Wunder des Körpers soll uns erheben, das ist meine Ansicht.
Vielleicht leidest du und Dorothee und sogar ich darunter, daß wir zwiespältig leben, nicht einheitlich.
Wie doch gemeinsame Arbeit – so ureinfache Arbeit, unsere Freundschaft sichert, viel mehr, als alle Schöngeisterei oder vielleicht ein völliges Übereinstimmen unserer religiösen Anschauungen.«
»Du weißt gar nicht, wie du mich erschreckst, Wolfgang. Weißt du, ich glaube fest: Freundschaft ist nur durch göttliche Gemeinschaft gesichert.«
213 Wie das wunderlich tut – mitten im Wühlen, mitten im Einssein! –
Menschen sind nicht groß,
Alle Menschen klein.
Nur der ist groß,
Nur der allein:
Schau ich durch ihn hinein
In Gottes übermächtigen Schein,
Da schau ich durch ein frohes Herz
Das große Land,
Weit, weit vom Erdenschmerz.
Und weiter schrieb Ottomar in Freundschaftssehnsucht:
Einsamkeit wird nicht das Rechte,
Selbstigkeit ist die Begrenzung,
Und es drängen Weltenmächte
Nach der starken Freundergänzung.
Und die Kraft der Gegenarten
Und die Wucht vom Gegensinn
Drängen sich zu gleichen Fahrten,
Doppelkraft wird hier Gewinn.
Doch bis Kräfte sich gefunden,
Doch bis Ströme sich vereint,
Bis zwei Taumler sich gefunden,
Bis die Sonne Freundesglück bescheint,
Ach, da müssen Jahre gehen,
Ach, da drängt Enttäuschung, Schmerz,
Ach, da drängen Mißverstehen
Um ein freundbedürftig Herz.
214 So stand's im ruckweisen Tagebuch. Das meiste der Arbeit war geschehen. Als der Weiher sich füllte, da mußten die beiden zwei Tage lang ohne Kleider im dunklen Erdenschlamm wühlen und formen. Aber der große Ammersee war ja nah, und der leckte sie wieder zu weißen Menschen, wenn sie auch noch so schwarz waren und erdig schmeckten; aber sie waren ja so fleißig und besorgten ihm ein neues Quellchen.
*
Der Juli ging dem Ende zu, und mitten in ihr frohes Spiel hinein trug die Zeitung die schweren Worte: Es droht Krieg! Ottomar blieb ganz ruhig, er verstand es nicht. Das ist Zeitungskunst. Leere Worte. Die Menschen haben viel zu große Angst vor dem Kriegstier, sie spielen nur damit und keiner wird es loslassen von der Kette der Übereinkommen.
Wolfgang war fest entschlossen: »Am ersten Tage melde ich mich, mein Regiment weiß ich schon.«
In Marias Seele wuchs etwas grauenhaft empor – urweltlich – mit nichts vergleichbar – eine Unmöglichkeit, die möglich werden konnte. – Sie ging wie im tiefen Schreckensschlaf – hörte von ferne Menschen reden – sah von ferne ihre Kinder – es schienen ihr noch ihre kleinen, zarten Kinder zu sein – hilflos – ganz ihrer Liebe anheimgegeben. Sie sah das Wunder der Menschwerdung sich entfalten – sah sich – die Mutter –, der das ewige Wunder, das ewige Geheimnis anvertraut war.
Was langte nach ihrem heiligen Besitz? – Wie aus der Urwelt heraus. Die Seele verliert den Namen Seele und wird Unermeßlichkeit und Unendlichkeit auch im Grauen und in der Todesangst dieser Welt. – Wir tragen die Unermeßlichkeit in uns, und unser Leid und unser Glück ergießt sich in 215 sie. Das ist das Ungeheure unseres Schicksals auf dieser Erde.
Das Gerücht aber blieb – wurzelte in den Menschen, und es kam mit dem August der Tag, der keinen Zweifel mehr duldete. Das Unausdenkbare mußte kommen. Das Kriegstier hatte sich losgerissen.
Früh morgens um vier ruderte Ottomar den Freund Wolfgang und dessen Mutter über den See zum Bahnhof. Stürmer wollte sich bei seinem Regiment melden. Grauer Morgennebel verschlang das Boot. Wortlos der Freund. Wortlos die Mutter.
Es hebt sich das Nebelgewölk, und rosig leuchtet die Sonne, beleuchtet die Kieferstämme am zurückgelassenen Ufer, und gen Süden zu weitet sich der See zum Nebelmeer.
Ottomar war nur der Fährmann und hatte keine Fühlung mit den beiden, die der Krieg nun bald trennen würde. – Er träumte. –
Ottomar fuhr mit in die Stadt, er wollte die Menschen dort sehen.
Am Marienplatz konnten sie nimmer weiter, dort kam in einem Automobil ein Soldat mitten in die erregte Menschenmenge gefahren; stieg aus, schlug den Generalmarsch und verlas den Kriegszustand.
Die Menge wollte ein brausendes Hurra ertönen lassen; aber es war die Sorge in die Kehlen gekrochen, und in dem Jubelruf lag Erschütterung.
Solche Sorge ist nimmer Frau Sorge. Das Weib! – Nein, das ist ein bärtiger Mann – der steht nahe vor dir, sieht dir ernst und stechend ins Auge, er legt dir die eisigen starren Finger um den Hals und biegt dir langsam das Genick zurück.
Ottomar liebte das Volk in der Masse nicht. Die Massen sind immer beeinflußt und bestochen und von 216 einer Idee getragen, sei es Politik, sei es Hunger, sei es Zorn, sei es Neid, und darum blieb ihm die Masse und auch die von Begeisterung getragene Masse fremd. Und wer sich von einer Idee tragen läßt und sich nicht mehr selbst trägt, der verliert seine geheimnisvollen Verborgenheiten. So fühlte Ottomar. Als ihm die Kriegsbegeisterung seine Freunde nahm und verschlang, da wurde er schweigsam und betrübt. Solche Traurigkeit kam über ihn, daß er alle Lebenslust verlor. Und er fühlte, wie sündhaft sein Trauern war, er weinte seinen Freunden vom Feuertanz nach, und schrieb sich ein paar Zeilen in einsamer, verlassener Stunde nieder:
Die Freunde gingen alle fort,
Ich ließ sie gehen.
Und keiner fand für mich ein Wort,
So blieb ich stehen.
Ich heb' den Blick aus starrem Traum –
Die Welt ist kalt.
Ein zartes Blatt fällt da vom Baum. –
So bald, so bald!
So verträumt, so fern aller Wirklichkeit fand Heinrich seinen Bruder, als er selbst, leuchtend vor Begeisterung, über die Schwelle des geliebten Hauses trat, um Abschied zu nehmen. Er umschlang seine Mutter, die, wie gebannt und erstarrt, ihm entgegenkam. Aber Heinrich, der stille, einfache, der alles nahm, wie es kam, ruhig, besonnen, ohne sein Gefühl damit zu sehr zu belasten, nahm sie wortlos in die Arme – drückte sie voll Kraft und Liebe an sich und sagte leise: »Gut ist's, Mutter! – Schön und herrlich ist's! – Die überfallene Heimat zu schützen – und ich tu's gern! Mach dir keine Sorge, nimm's nicht so wichtig. – Es ist dieselbe Pflicht, wie sie überall zu finden ist – in der 217 Schule und im Leben. Laß dich nicht blenden von der Aufmachung.« Er lächelte. »Es sieht sich dumm an für die, die nicht mittun – es ist gar nichts weiter, Mutterle, als alles andere auch.« –
Es war eine wunderliche Kraft, die von Heinrich ausging. Sie nahmen ihr Mahl ein, als wäre Heinrich ein harmloser Gast. Als das Mahl beendet war, faßte er Bruder und Mutter an der Hand und hielt sie so eine Weile. So saßen sie alle drei, innig miteinander verbunden.
»Wir danken dir,« sagte Heinrich, in Erinnerung an das heilige Fest im Garten, »für Speise und Gemeinschaft. – Sagte Sebald nicht: Wer das so aus Herzensgrunde weiß, nimmt bei jedem Mahle das heilige Mahl Christi – ißt und trinkt Gottheit. Was geschieht, ist göttliches Geschehen, deshalb dürfen wir recht ruhig und getrost sein.« Damit küßte er die Mutter zärtlich und schüttelte Ottomars Hand.
»Draußen im Feld, auf Wiedersehen, Kleiner!«
Somit hatte Heinrich Abschied genommen zu einer Stunde, als es niemand dachte, und hatte in seiner Schlichtheit das Unerhörte eingereiht in den gewohnten Lauf der Begebenheiten.
So sind die ganz Schlichten, die schlagen Brücken über Abgründe. Maria sah ihrem Sohn nach, der, fröhlich winkend, sich immer wieder umschaute, durch den blühenden, fruchttragenden Garten ging, in dem köstliche Jahre ihn gebildet hatten. Ottomar lief ihm nach – und Maria sah noch, wie die beiden schönen Jünglinge sich in die Arme fielen und brüderlich küßten.
Und es verging kein Monat, da war auch Ottomar Soldat geworden. Er wollte das wilde Tier kennen lernen, das ihm alle Freunde und den Bruder verschlungen hatte.
218 Maria aber ging still auf der Brücke, die ihr schlichter Sohn ihr über den Abgrund geschlagen hatte.
Und Unzählbare gingen über diese Brücke, den einzigen Weg, den sie gehen konnten, der durch Unausdenkbares führte, das sich sichtbar erhoben hatte – und sie trugen alle Dornenkronen und gingen im Schreckschlaf, wußten nicht, was sie erlebten – und folgten einem, den sie lange schon kannten; aber nie mit ihrem geistigen Auge gesehen hatten; der ging mit seinem Kreuz und seiner Schmerzenskrone still vor ihnen her. 219