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Maria Strom wohnt in München und macht Ottomar einen Vorschlag. Ottomar geht darauf ein. Der Drillichwurm. Peter Asam und das Juristenjunge. Wie man es machen muß, um den Zorn eines Menschenquadrates von sich abzulenken. Ein toter Schimmel und eine Fledermaus. Ein Menschenquadrat.
Maria Strom hatte sich in München eine kleine Wohnung gemietet, um Ottomar nahe zu sein, da er zu seinem großen Verdruß fürs erste als Abrichter in der Garnison bleiben mußte. Er fühlte sich gesund und sein ganzes Sehnen ging hinaus ins Feld. Sie hatten eine kleine möblierte Wohnung am Englischen Garten gefunden, und er konnte meist abends nach Hause kommen, um dort zu schlafen. Ottomar wollte seine Mutter jetzt in der Nähe haben. Sie tat ihm leid in dem stillen Haus am großen See, das so ganz von Erinnerung durchlebt war. Es gefiel ihm wohl, wenn er abends ihr erleuchtetes Zimmer von weitem sah und wußte, sie würde ihn froh empfangen. Sie führten eine behagliche Wirtschaft miteinander, und Ottomar gewann viel Vertrauen zu seiner Mutter Standhaftigkeit. Wenn er ihr vertraute und sich mit ihr einer Art fühlte, nicht an ihrer Kraft und Erkenntnis zweifelte, hatte sich ihr der Sinn ihres Lebens erfüllt. Und so war es gekommen, daß Maria Strom sich das Recht 257 erworben hatte, ihrem Sohn zu raten, und daß er diesen Rat dann ehrerbietig und treu aufnahm.
Eines Abends, als er wieder einmal trübselig aus seiner Kaserne heimgekommen war, sagte Maria zu ihm: »Schau, mach' dir doch nicht so viel aus Zurücksetzungen und solchen Dingen, die beim Militär alle nasenlang vorkommen müssen. Wie wär's, wenn du dir in langweiligen Wartestunden aufschriebst, was dich plagt. – Studiere die Menschen dort, bezieh sie nicht auf dich, studiere auch dich, – so hast du dich und die anderen aus dem Bereich deiner Empfindung gesetzt. Sie sind dir ein Studium geworden oder eine Kunst, wie dir's lieber ist.«
Maria berührte die Sache nicht weiter. Er hatte nicht dagegen gesprochen, war aber fröhlicher geworden und erzählte allerhand, was ihm am selben Tag begegnet war.
*
Ottomar brachte eines Abends ein schwarzes Heft und gab es seiner Mutter: »Lies es, du wirst vielleicht lachen müssen, und leg' es gelegentlich für früh um vier auf den Küchentisch; – aber steh mir nicht etwa auf. Ich hab's ja herrlich, wenn du abends mir alles zurechtstellst und ich mir auf dem Gas den Kaffee wärme. Die Küche ist so warm und gemütlich. – Also!«
Und Maria las, was Ottomar erlebt hatte.
Mein Versuch, Vorgesetzte und Untergebene zu beobachten, statt mich über sie zu ärgern.
Personen.
Der Gefreite Strom (weil er nun einmal so heißt).
Ein Juristenjunges.
Peter Asam, ein Kanonier.
Dessen Mutter, eine Bauersfrau. 258
Vorrede.
Das Militär übt seine Wunderkraft, nicht allein am Kampfplatz, auch bei jedem einzelnen Mann, den es verschlingt. Den einen, der fröhlich war, macht es betrübt, den anderen, einen Traurigen, macht's froh, und eine große Anzahl, die sich dem neuen Soldatenberuf so recht widmen, denen läßt es ihr einstiges Interesse gar völlig verschwinden.
Strom wurde als Gefreiter ohne weiteres ein Abrichter in der Alfonsschule, dem Rekrutendepot des 7. Artillerieregiments, zu München.
Die Wunderkraft des Soldatentums berührte auch ihn.
Während seiner Lungenentzündung hatten sich seine Freudigkeiten geduckt und klein gemacht und jetzt fühlte er, daß sie ihm nicht verloren gegangen waren, sie hatten sich eben nur geduckt und saßen ihm nun als eine geheimnisvolle Schar strahlender Kugeln, gleich einer Gesellschaft verschlafener Sterne, in der Brust.
Das Lattendepot in der Isarstadt.
Das Portal der Alfonsschule tut sich auf. Es starren ihm, gleich zwei gelben, giftigen Fangzähnen, rechts und links vom dunklen Schlund die beiden Flügeltüren. So speit die Schule im frühen Großstadtmorgen einen langen, unendlich langen, gräulichweißen Wurm aus – und es ist der Drillichwurm. Und der schmutzigweiße Wurm kriecht langsam aus dem Maul des Hauses und kriecht die drei Granitstufen hinunter in den Schulhof und will kein Ende nehmen. – Nebenher geht der Gefreite Strom.
Die alte viereckige weiße Schule hat dabei ein Gesicht geschnitten, als läge ihr großer Ekel und ein bitterer Geschmack auf dem Zungenläufer des Hausgangs. 259 Wie der Wurm draußen war, hat sie schmatzend die zwei gelblichen, giftigen Fangzähne wieder eingezogen und hat dann mit allen Fenstern der Ostseite erleichtert und vergnügt dem Sonnenaufgang zugezwinkert, gerade als hätte sie die Sonne schon lange nimmer gesehen.
Das Rekrutendepot war in besseren Tagen eine Mädchenschule gewesen. Und so hatte der Widerwille, mit dem sie heute Morgen den Wurm hinausgelassen hatte, seinen guten Grund. – Eine Mädchenschule für kleinere und auch für höhere Töchter und ein bräunlichweißer Drillichwurm! – da bedarf es wohl keiner weiteren Worte. Nun sah sie der Sonne zu, wie die sich in die Höhe arbeitete, und sie träumte von der guten alten Zeit, von der Friedenszeit und von der silberhellen Schulglocke.
Wie es uns allen so um neun, um zehn Uhr und dann wieder um zwölf Uhr oft im Magen gar wunderlich knurrt, klingt und trommelt, bis wir, verwundert und erstaunt oder gar, wenn wir nicht alleine sind, bestürzt aufsehen, so kannte einst die Schule wohl zur selben Zeit wie wir ein silberhelles Klingen. Und wenn's begann und wenn's kam, sprangen all die Mädelchen von den Bänken auf, auch die Lehrerin auf dem Katheder, und alles trippelte und schusselte in den Gängen des Schulgebäudes durcheinander. Brotbüchsen klapperten, es raschelten Papiere, blitzblanke Zähnlein knackten Äpfel und bissen Butterbrote.
Wonnige, sonnige Augenblicke für die gute, alte Schule – unvergeßliche Zeiten! Und immer war's ihr warm und behaglich dabei, wenn sich ein junges Plappern und Trippeln, ein Lachen und Klingen vertraulich warm und schmeichelnd an ihre kahlen Wände schmiegte. Kein Wunder da, wenn sich die Schule 260 von Stunde zu Stunde auf ihr Glockenzeichen freute. Und das Glockenzeichen war silberfein und hell.
Da kam die harte Zeit. Die Mädels durften nimmer ins Schulhaus, es kamen statt ihrer die Rekruten. – Und was für welche! –
Und mit dem stundenweisen Magenklingen war's vorbei. Es verschob sich das Läuten auf vier Uhr in die Nacht hinein und dann gab's kein Lachen mehr, kein schmeichelndes Plappern. Es hob sich ein Räuspern und Husten und Spucken, und von Zeit zu Zeit fuhr ein bitterer Fluch durch die Räume von Wand zu Wand. – Und gar seit einigen Tagen, wo die neuen Rekruten gekommen waren, die vom Land, mit den runden Köpfen, den großen, gefräßigen Mäulern und den dicken Ohren, da wurde am Morgen die Feuerglocke geläutet, vorbei mit dem silberhellen, silberfeinen Klingen. Das war ein Schreck, als das zerhackte Stoßen und Schlagen begann. – Wer will aber auch jeden Morgen mit Messerstichen geweckt werden? Sie lagen ihr recht im Magen, die vom Lande mit den fürchterlichen Trittlingen. Ein städtisches Juristenjunges war auch darunter, ein Kriegsfreiwilliges, das benahm sich so kratzig und eckig, daß die Schule einen ständigen Brechreiz und ein fürchterliches Kitzeln kaum bezwingen konnte. Gar in der Nacht, da hatten die Rekruten vom Lande geschnarcht und geträumt von den heimatlichen Fleischtöpfen, von Kühen und Ochsen und übelriechenden Misthaufen, bis der feinen Lehranstalt das Dach trotz aller Dunkelheit noch röter wurde, als es war.
Und dennoch hatte die Gütige geheimnisvolle Freude an all dem Neuen, Ungewohnten. Und so gab sie auch heute wohl acht auf den Rekrutenwurm, wie er hinaus in den Schulhof kroch: Paar hinter Paar kommen sie ans Licht, knorplige, kloßige, klotzige Gestalten. Wie 261 ein Bäckerverein sehen sie aus, die weißen Brüder – doch wahrlich keine Feinbäcker.
Nach rechts und links lugten ihre runden Augen aus den schmutzigen Fellen. Manche Augen sind trüb, doch manche versuchen schon zu blinken und zu blitzen, wie es eigentlich ein munteres Soldatenaug' am Morgen zu tun hat, und kugeln sich gar groß und sonderbar. – Gar ein stolzes, ein ansprechendes Kugeln: »Schaut's uns an! Mir – mir, der Stolz vom Bayernland! Ja, dös san ma, dös mirkst da! – Mia san da fei die allerletzti Hoffnung! Vastehst? Mir wern's euch nacher scho zeigen!«
So war ihre Augensprache. Zwei Augen waren aber darunter, es war zum Glück ein zusammengehöriges Paar, der erste Mann trug sie, die blitzten nicht und rollten nicht und sprachen auch nicht, waren aber auch nicht trüb. Sie sahen nur gerade aus und waren klein. Dafür tat der Mann, dem sie gehörten, weiter unterhalb ab und zu ein gar grundloses, rotes Loch um so weiter auf, und – ein jedesmal war da ein sehr schmerzliches Knarren zu hören, eine Art von Seufzer, Heimweh und Müdigkeit in trüber Mischung.
Die neuen Rekruten hatten eine gewisse Berechtigung zur Müdigkeit. Vor sechs Stunden, also gestern, da hatten sie harte Arbeit am Biertisch. Es galt zu schaffen, bis ein jeder die Rechnung mit sich selbst ins reine gebracht, bis er abgeschlossen hatte mit sich und dem Leben, sie waren doch nun Kriegsmänner geworden.
Hilflos, wie alle Würmer, wand sich auch der lange, gräulichweiße Drillichwurm mit seinem vorderen Ende nach rechts und links und tastete sich ängstlich, ratlos und hilflos vorwärts.
»Wollen Sie vielleicht geradeaus marschieren? Sie langes Elend da vorne? – Ja, ja, du bist schon gemeint.«
262 Es war wieder der müde Augenträger.
»Rechts schwenkt, marrrrsch!!«
»Gerade – ausssss!!«
»Haaaaaaaalt!!«
»Linksum!!!«
Beim ersten Anruf mußte sich der Wurm strecken, knickte dann aufs Kommando: rechts schwenkt, marsch, von vornher nach rechts ab und hielt dann. Auf linksum gab's eine Wellenbewegung zur Seite. Dann verlor er alles Leben und erstarrte. Seine vielen, vielen Wurmherzen hämmerten in wilder Angst.
Diese Kommandos hatte der Gefreite Strom gekrächzt mit dem allerabscheulichsten Ton, der ihm gegeben war.
Er war ja selbst hilflos und hatte Angst, war er doch erst kurz vom Felde in die Garnison gekommen und hatte keine Ahnung von dem felsenhaften Mut, der zum Rekrutenausbilden gehört.
Und doch haben sie alle haltgemacht und dann linksum und standen nun als langes, doppeltes Glied regungslos da. Kopf und Schwanz hatte der Wurm verloren und steht nun da, erstarrt, zum endlosen Lattenzaun geworden, wobei jede Latte zwei große, runde Schauaugen hat, die den Gefreiten mit ängstlichen Blicken trafen. Es fand sich an so einer Latte noch ein Haken, die Nase und ein Loch, das aber geschlossen sein sollte, der Mund, sonst fielen noch zwei unregelmäßig abstehende Späne auf, die Arme. Der Gefreite hatte heute noch nicht viel gedacht als guter Soldat, und jetzt begann er zu denken.
O – Schreck, o Arbeit, bis ihr da miteinander – Menschen geworden seid, ihr Hammel! Ihr Büffel! Solches zu denken machte ihn stolz, denn er ersah daran, daß er Soldat geworden und auch dazu geboren war. Prachtvoll, wie er die Menschen so ganz mit 263 militärischem Auge beurteilen konnte. Mit solchem Gefühl blickte er seinen Lattenzaun an und wunderlich; was war's mit der ersten Latte? Er konnte dort die vorhin festgestellten Eigenschaften nicht bemerken. – Ja wahrhaftig, stand da so eine Latte verkehrt im Glied.
»Linksum! hat's geheißen! – Sie!« Doch der schien nicht zu hören. – Da erschrak der Gefreite Strom.
»Gott im Himmel, es ist weitaus der Längste, der muß ja Flügelmann werden. Einen Austausch gibt's gar nicht. Du bist der allergrößte, du mußt ein richtiger Soldat werden!«
Das Haupt und Hirn des Drillichwurms ließ sich nur von hinten sehen. Dennoch fühlte der Gefreite, der da ist vom starken Schlag. Ein Eckpfeiler, ein Stiernacken und oben darauf in voller Bescheidenheit ist etwas Kleines, Kopfartiges, noch höher eine speckige Mütze über einem strohgelben Stachelhaar. Aber zu beiden Seiten hingen ihm, groß wie Pfannkuchen, an übergroßen Pendeln, unflätige Pfoten.
Und dies Knochengefüge war starr und steif, die Schultern hochgezogen, die Pfannkuchen ans Gesäß gedrückt, als käme er von einer Rauferei, den Blick zum Himmel gerichtet.
Doch es durchlief ihn ein leichtes Beben und es drang ihm aus dem Innern ein Gurgeln. Kanonier Peter Asam stand still mit falscher Front und hatte seine Blasebalgvorrichtung vollständig eingestellt.
»Rührt – euchchch!«
Erlösendes Zucken ging durch den Zaun. Es wurde jeder Pfahl kleiner und noch krümmer und verwachsener, doch Asam blieb, wie er war, fing aber an zu atmen. Er machte immer noch nicht kehrt und schien das Furchtbare und Sündhafte seiner Lage nicht erfassen zu können. Und Asam blieb mit falscher Front.
264 Daheim, die Berge, die sonnigen Wiesen, die hatten kein Rechts und Links, kein Vorne und Hinten, da war es nur schön, und er kannte alles, und es waren seine Berge und seine Weiden und seiner alten Mutter gehörten sie auch. Bei seinen Kühen gab's freilich ein Vorn und Hinten, wäre da eine verkehrt den Berg hinunter, der hätte er solches schon ausgetrieben, aber heute fand er sich nicht zurecht!
Als in den Bergwäldern draußen die Stämme fürs große Depot in München, der Isarstadt, gefällt wurden, da traf es auch Peter Asam. Seinen Verstand hatte er nimmer mitnehmen können in die Garnison, so schnell war es gegangen. Sie hatten seinen stämmigen Körper telegraphisch gefällt. Draußen geblieben war sein Verstand, sein alter Freund, dem er stets getraut hatte. Asam war ohne Verstand. Fremd war die neue Umgebung, und er war hilflos.
Und er fühlte sich selbst steif wie von Holz, das versteifte ihn noch mehr. Was anfangen mit der eigenen Holzmaschine? Und er fühlte auch, wie ihm die Bäckchen blau wurden aus Luftmangel. So stand er und lauschte auf Kommandos, und kam eins, so glaubte er zu ersticken vor Angst und Eifer. Vielleicht glaubte er auch noch weitere Bewegungen zu machen, zu sehen war da aber nichts. Der Gefreite schritt würdevoll und schweigend auf ihn zu und suchte ihn umzudrehen. Mit einer Hand, mit zwei Händen, mit einem kurzen Ruck, Asam blieb standhaft. Der Gefreite ging um ihn herum und besah sich diese sonderbare Einrichtung von einem Menschen. »Soll ich dir eine Kindsmagd bringen zum Umdrehen, oder willst gutwillig gehorchen? Soll ich dir a Bier hinhalten lassen, daß du den öden Leib umdrehen tust. Wie wär's damit?« So flötete der Gefreite Strom und wollte ihm in die Seele greifen. 265 – Da traf ihn ein so schmerzvoller, so gemarterter Blick, daß Mitleid den Gefreiten am Halse erwischte. Er sprang, so wie es Vorgesetzte eben tun, mit acht, neun federnden Schritten zurück, stand still, daß die Sporen klirrten und versuchte es nochmals mit einem militärischen, aber freundlichen Kommando:
»Den Kanonier Asam allein geht's an!«
»Stillgestanden!«
»Batteri i i i i i i – – k i r r r r t!«
Er wankte nur zum Zeichen, daß er seinen Namen gehört hatte.
»Sagen Sie's ihm, Nebenmann!«
»Du, Asam? – umdrahn soist di!«
Er verstand, machte Front, suchte seinen Peiniger mit den Augen, schien ihn nicht zu finden und nahm schnell wieder »Haltung« an.
»Wart, du Bursch, du sollst es mir schon noch lernen! Du bist ein ganz, ein Windiger, du. Immer noch Asam allein geht's an.«
»Asam, stillgestanden! – Batteri i i ie – kir r r r t!«
»So, warum geht's jetzt?? – Noch kürzer!«
»Asam, Batter i i i ie ke e ehrt!«
»Batterie kehrt! Wart, ich komm dir!«
Es ging. Die Holzmaschine war geschmiert. Endlich konnte der Gefreite weitermachen. Wieder springt er zurück und . . . fast hätte er geweint, fast hätte er gelacht! Da stand immer noch einer verkehrt im zweiten Glied.
Ein Winziger, war er unter die Größten geraten, und daher hatte der Gefreite ihn übersehen. – Krumm und haltlos stand der da. – Es war das borstige Juristenjunge. Dieses hatte nun eben zu viel gedacht.
Er wußte es schon: Immer auf einen Punkt in Augenhöhe schauen, und nach vollbrachter Wendung niemals 266 nachrühren, so stand es im Reglement. Voll Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen, hatte er es nun nach der Wendung unterlassen, zu einem Nachbar hinüberzuschielen.
Sein Körper war klein und verkümmert, der diente bis heute keinem anderen Zweck, als ein großes, hoffnungsreiches Hirn bald hierhin, bald dorthin zu tragen, es unter die Menschen zu bringen und einmal da, einmal dort strahlen zu lassen.
Sein Hirn war ein endlos gewundenes Gedärm geworden, durch das, da er ein Juristenjunges war, alle Sünde und alle Not einer Großstadt gegangen war. Es gab kein Ereignis, dem er sich nicht gewachsen fühlte. Alles ließ sich in eng begrenzte Paragraphen zwingen. Wunderlicherweise war militärischer Ehrgeiz in seinen armen Leib geschlichen, und daher stand er nun vorn bei den Größten.
Da dachte der Gefreite:
»Nur keine Angst, Herr Doktor, ich beachte Sie schon!«
Dieser Gedanke beherrschte ihn, als er das Juristenjunge die Mütze abnehmen hieß und so dessen jungen Glatzenansatz in ein richtiges Höhenverhältnis zu den Knödelköpfen seiner Kameraden brachte.
Drei Stunden lang bewegten sich Menschen ruck- und zuckweise im Schulhof. Drei Stunden lang mußten sie dem Gefreiten gehorchen. Viel Kunst ist nötig, um ein Soldatenherz zu bändigen und zu zwingen. – Kleine, sonderbare Mittel. – Alle hatte der Gefreite angewandt. Geben sich die Rekruten Mühe, sind aber ungeschickt, Mitleid zeigen und tun, als ginge es noch gar nicht richtig los. – Dann schwitzen sie, bis die Mützen rutschen, aber wenn's dann geht und wenn sie herumspringen wie aufgescheuchte Gedankenblitze – dann ist der rechte Augenblick gekommen. Man muß 267 hart werden, man muß fluchen, geht's nun noch viel besser, noch mehr fluchen, Strafe drohen! Geht's zuletzt prachtvoll und ausgezeichnet, dann muß man tobsüchtig werden, auf einzelne losstürzen. Das alles wußte der Gefreite aus ureigenster Erfahrung.
Dann aber, nach wenigen Minuten – lautlose Ruhe; nur noch leise, verbissene Flüche, die aber immer demselben Manne gelten müssen, und das gewählte Opfer darf nicht aus den Augen gelassen werden.
Halb geflüsterte Kommandoworte; – wie sie dann die Ohren spitzen, wie sie beim geringsten Geräusch zucken und zu rennen beginnen, und wie sie dann selbst über solche Unaufmerksamkeit erschrecken. Ja, hat man's so weit gebracht, dann fliegen sie besser wie eigene Gedanken, sie werden alles machen. Ihr Atem, ihr Herzschlag liegt dem Abrichter in der Hand.
Zu fürchten ist nur die große Wut, die so ein geplagtes Menschenquadrat ausdünstet. Und – da braucht man eben sein Opfer. Wenn das geschickt gewählt und gefunden ist, dann ist die Quadratwut von dir abgeglitten, hin zum Sündenbock.
Von jetzt an muß man zum zweiten Male rasen! Mitrennen, mitspringen, dann muß man aber langsam beginnen, Mitleid zu haben für das Opfer – dann fühlt man es genau, wie sie von Kommando zu Kommando stürzen und nichts anderes mehr zu denken haben, und man fühlt, wie der zusammengepreßte Wille des Quadrats dir restlos zwischen den Zähnen sitzt, und man knirscht mit den Zähnen. – Dann aber hat man gewonnen. Ob man nun wieder hart wird, oder man milde bleibt, ob man schlecht oder gut kommandiert, es ist alles ganz einerlei – du hast gesiegt, sie werden immer folgen mit Eifer und Lust. War einer beim Kniebeugen darunter, der früher aus der Beuge 268 auftauchen wollte, als es verlangt wurde, mußten sie alle auf einem Beine stehen, wie Storchmenschen, in die Höhe sehen und die Arme rollen, wie es die jungen Flamingos machen, wenn sie mit den Flügeln schlagen. – Und dann aber wieder herunter in die tiefe Kniebeuge. Es ist eine fürchterliche Doppelübung. Der Gefreite Strom wußte das, man hat wahrhaftig Lust, aufzuschreien aus Schmerz und Pein und Wut, und hat viel Lust, dem Vorgesetzten an die Gurgel zu springen; aber gerade dann hört man den Vorgesetzten mit liebevoller freundlicher Stimme tadeln: »Aber, Asam, die Beine besser auseinander – Brust heraus, das Gesäß vornehmen. – Halten Sie sich doch ruhig, Asam, Asam, Ihr Kopf ist ganz schief. Linkes Ohr tiefer – nein, nein, das linke Ohr, nicht das rechte. So, noch, noch tiefer – Herrgott Donnerwetter, noch tiefer – noch mehr. – So ist's recht! –Glauben Sie's nur! So ist's gut.« Hat man nun solches gehört, dann ist die Wut und Lust, an die Vorgesetztengurgel zu springen, vorbei. Es bleibt einem noch ein glühend heißes Gebet: Der Asam soll doch sein linkes Ohr endlich tiefer nehmen, recht, recht tief! Dann aber zitterst du vor Schmerz. Der Gefreite wußte aber auch, daß man's kann. »Wollt ihr eure Köpfe hochnehmen?? Wollt ihr hochsehen und das Gesäß vornehmen? Ach, Asam, Sie hocken schon wieder da wie ein Haufen Dreck! Kopf hoch, Gesäß besser vor! Kopf hoch!«
War aber der Gefreite sicher, daß jeder auf das Dach der Schule starrte, dann verschwand ihm die ernste Miene und er lachte.
»Achtung, Herr Gefreiter, der Herr Leutnant, von links!!«
Der Schrecken der Batterie, der Leutnant des Gefreiten, kam nicht – er war schon da und hatte den Gefreiten lachen gesehen.
269 »So?? Sie sind wohl heute die einzige Charge?? Wie kommen Sie denn dazu, die Batterie zu kommandieren? Nehmen Sie sich jetzt die Schlechtesten zur Seite und verschwinden Sie von der Bildfläche. Ich übernehme das Kommando!«
Zwölfe hatte er schon beisammen, Asam war der erste. Da stand noch das Juristenjunge, bei den Kleinen hinten, das hielt die Arme verschränkt und glaubte sich als Einjähriger sicher.
»Kommen Sie nur, Sie brauchen's recht notwendig,« lockte der Gefreite. In dem entrüsteten Blick, der dem Gefreiten galt, der aber den Leutnant traf, lag mehr wie Haß und Schrecken, und doch waren es hilflose Kinderaugen geworden. Er hauchte etwas und sein Kopf wackelte hilflos verneinend.
Der Leutnant: »Wollen Sie dem Gefreiten gehorchen? Kommen Sie her zu mir!«
»Was befehlen Herr Leutnant,« säuselte es.
»Sind Sie schon vereidigt?«
»Ja, ich bin ver – ver . . .« Der Doktor nickte wohlwollend. »Stehen Sie gefälligst still, trauriger Halbsoldat! Halten Sie den Kopf ruhig – so, nun antworten Sie: Warum folgten Sie dem Gefreiten nicht??«
Das Juristenjunge schluckte, wollte verteidigen und eine Rede halten.
»Halten Sie's Maul! Sind Sie vereidigt? Antwort!«
»Jawohl, Herr Leutnant!«
»Dann mache ich Sie heute auf Ihren Diensteid aufmerksam. Sie haben geschworen, willig und ohne Murren zu gehorchen.«
Das Juristenjunge fuhr auf.
»Schweigen Sie! – Ab!! Halt! Kommen Sie noch einmal her. So ist kein Abtreten. – Kehrt. Eins, zwei und laufen! – So, es geht ja!«
270 Er kommt zum Gefreiten.
»Ich melde mich gehorsamst beim Herrn Gefreiten zum Eintreten.«
Grausig, diese vierzehn Halbmenschen, wären sie doch wahrhaftig aus Holz oder Speckstein; aber gerade die wenigen Lebenszeichen! Wären sie aus Speckstein, der Schrecken wäre geringer. – Aber da geht dem einen der Atem wie das Schnaufen eines großen Wassertiers, halb Mensch, halb Seehund. Der bleiche Schnauzbart bebt. Neben dem Seehund ein anderes Tier: unter der Soldatenmütze grinst ein bleicher Affenschädel, ein Totenschädel, die Augen in tiefen Löchern, unter einer winzigen, flügelschlagenden Nase das vorgebaute Affenmaul. Über den Löcheraugen züngeln zwei blutrote, aufgedunsene Lider. Und ein ganz Kleiner gleich einer verzauberten Schildkröte. An den Schultern hängen ihm kurze und gerade steife Ärmchen, wie ohne Ellbogen. Eine Zeitlang war der Gefreite wie gebannt, jetzt riß er sich frei, blickte auf den Boden und sprach, sich wörtlich ans Reglement haltend:
»Auf das Kommando – vorwärts marsch – wird der linke Fuß leicht gekrümmt – sehen Sie, so!«
»Der linke Unterschenkel – sehen Sie – dies ist der Unterschenkel – wird mit abwärts, auswärts gedrückter Fußspitze so weit vorgenommen, bis er mit dem Oberschenkel eine gerade Linie bildet.
Der linke Fuß wird nun flach und leicht in Entfernung von etwa achtzig Zentimetern vom rechten Fuß auf den Boden gesetzt: Sie sehen es hier! Das ganze Körpergewicht ruht nun auf dem linken Fuß. – Sehen Sie, so! – Gleichzeitig verläßt der Haken des rechten Fußes den Boden. – Sie sehen es? In solcher Weise marschieren Sie senkrecht zu Ihrer Schulterstellung weiter und machen hundertfünfzehn Schritt in der Minute.«
271 Da hob der Gefreite den Blick. Die wenigen gebildeten Menschengesichter waren steif, fragend und verblödet ob seiner Rede. Doch der Rest! Verzerrte Fratzen, aber aus den Augen schaute es ähnlich der Todesangst der wilden Tiere. Trübe, scheue Angst. Höchste Spannung. – Sollte sie reißen, die Herzen würden stillstehen. Da fing des Gefreiten Mund zu kommandieren an:
»Stillgestanden!«
»Vorwärts!«
»Marrrrsch!«
Und los ging's wie ein Hackwerk. Ein jeder mit anderem Schritt. Jeder ruck- und zuckweis, schwitzend vor Eifer – doch Asam kam nimmer mit. Er schleuderte mit steif durchgedrückten Kniegelenken die Beine. Er litt furchtbar und stöhnte laut.
»Asam! – Asam!
Gehen Sie langsam! Gehen Sie ungezwungen! Gehen Sie turnerisch, gehen Sie federnd! Gehen Sie wie sonst auch! Gehen Sie doch einfach wie auf der Straße!«
Asam hatte das Gehen vergessen und verlernt.
»Ach, Herr Gefreiter, ach, es geht halt nimmer!«
»O Asam! Turnerisch! Federnd! Ungezwungen! Asam, Asam! – O Gott, dort kommt der Herr Leutnant!« stöhnte der Gefreite.
Der Leutnant: »Lassen Sie sofort halten und wegtreten, es ist zwölf vorbei.«
»Batteri i i i i ie« –
»Halt!«
Das Hackwerk steht – andächtige Ruhe.
Da, hoch oben im dritten Stock, ein kicherndes Klirren. – Die Schule hatte lachen müssen, und es war ihr ein Fenster gesprungen. –
»Nach vorwärts!« –
»Wegtreten!« – »Und laufen!«
* * *
Es war eine dumpfe Nacht. Und die Wände des Klassenzimmers Nummer siebenundvierzig, an die sonst nur harte, belehrende Worte prallten, an die Wände, die das ängstliche Pochen junger Herzen verspürt hatten, die so manches jungfrische Seelchen altklug und faltig werden sahen, an diese schmerzgehärteten vier Wände schmiegte sich heut nacht die große, verwunderte Sehnsucht eines Hirten. Er sehnte sich nach sich selbst. Und gleich einer Welle vom Föhnwind glitt seine Trauer durchs Dunkel und traf immer wieder auf glatte Wand.
Und wie die Welle erkaltet war und die Freiheit nicht gefunden hatte, da sank sie nieder zu Asams Strohsack und schlich fröstelnd zurück in sein Herz. Traurig lag er am Boden auf seinem Lager, kalt senkte es sich auf seine Brust, und ihm rauschte es: Es fehlt dir dein Freund, es fehlt dein Freund, der Verstand, du bist allein, du bist allein, allein.
Was half ihm nun seine Hand, mit der er gearbeitet den ganzen Tag, die geachtet war dort droben in den Bergen, und auch gefürchtet war sie, wenn es sein mußte; die Hand, mit der er beim Abschied dem alten Mutterl übers Haar gestrichen war. Ja, ja, damals hatte er gesagt: »Mutterl, kei Angst net, der Feind darf net rein ins Land, und i, weißt Mutterl, i werd mich scho zurecht finden, da draußen in der Welt!« Was half ihm nun die Hand?
Und sein Auge, in dem sich einst die Berge gespiegelt und besehen hatten, das so blitzen konnte beim Tanz und beim Singen, es blickte jetzt trüb.
273 Aug' und Hand waren herrenlos geworden, weil ihr Herz so traurig war und nimmer wagte, den beiden zu gebieten, und nimmer wußte, was anfangen mit ihnen.
Am Morgen ging Asam ruhelos treppauf, treppab, ging durch die langen Gänge, ging ins Zimmer und schlich wieder hinaus; er schämte sich vor den Menschen. Die vielen Augen, die ihn auf der Treppe und am Gang trafen, durchschauten ihn, wie man eine Glasröhre durchschaut – sie sahen ihm an, wie er sich so riesengroß vorkam, so überflüssig, so dumm.
– Unsichtbar werden, sich in einen Winkel verkriechen, nicht getreten werden, die Augen schließen und die Hände an die Ohren pressen! Stumpfsinnig ging er wieder ins Zimmer und fing mit Helmputzen an.
Er war kein Soldat und schien keiner werden zu wollen.
Stand der Lattenzaun bewegungslos im Schulhof, dann konnte der Vorgesetzte sich die Nase putzen, husten, nießen, ja ihm selbst den Rücken zuwenden, keine Latte wagte eine Bewegung. Sie hatten's gelernt; nur einer hatte sein Gesicht stets dem Gefreiten Strom zugewandt, der Asam. Seine Bergleraugen folgten ihm, er vermochte es nicht, auf Worte und Kommandoworte zu lauschen, ohne nach dem Sprechenden zu sehen, ja, er war wie ein Kind, das einen großen Hund sieht.
Und Asams scheuer Blick traf den Gefreiten tief ins Herz. Vor Asams Augen hatte er Angst und ein böses Gewissen. Seine Seele wand sich unter diesem Blick. Es war das Weh, das als trüber Schein in diesen Augen lag, und auch waren's die Berge, die weite, freie Welt, die sich einst in den Augen gespiegelt hatte. – Ja, ist er denn nicht ein Mensch wie alle anderen? Quäl' ich ihn mit Unrecht? Ist er am Ende gar der einzige Mensch unter den anderen? – Muß ich auf ihn zugehen, ihn bei der Hand nehmen, dachte Asams Gefreiter, 274 und ihm sagen: »Komm! Komm, wir gehen fort in deine Berge, fort ins Bergland! Fort von hier.« Ach, Asam, ich wollte einst fort von den Menschen, weit fort, um zu lernen, einsam zu sein und groß zu werden; komm, du Bergfreund, komm, Waldler, wir wollen jetzt gehen! Es ist genug.« Doch nur durch Härte und erzwungene Wut konnte der Gefreite sein Gefühl verbergen. – Diese Augen dürfen nicht zur Ruhe kommen, keinen Augenblick.
So hatten die anderen viel zu leiden wegen Asam.
»Nach rechts drei Schritt geöffnet! – Marsch, marsch!«
»Nach links aufgeschlossen – marsch, marsch.«
»Nach rechts drei Schritt geöffnet! Marsch, marsch!«
Sie hatten zu springen, hin und her, auf und zu. Der Gefreite stand da und spielte mit ihnen wie mit einer großen Ziehharmonika.
Und durch sein Spiel schwollen Töne, Töne von unheimlicher Kraft.
Sein eigenes Spiel, ihm selbst fremd.
Kein reines, treues Lied war's: Tosende Klänge, von unheimlicher Kraft; sein eigenes Spiel, das ihm in der Hand erwächst und ihn selbst drohend trifft.
Volltönende Klänge, die ineinandergreifen wie Radwerk und Teile einer Maschine – ein Rauschen des Lebens und des Ringens und Verdrängens.
Der's hört das Lied und dem's gilt, den wird's hart machen und ihm Kraft geben zu neuem Ringen. Und es war auch wie der Sterbechor des Göttlichweichen und Himmlischreinen in der Menschenbrust: Klänge, die kein Verzeihen für fremde Art kennen, die ihre geblähten Akkorde vom siegesgewissen Lebenskampf durch die Herzen gestählter Nationen jagen, die die Einzelkräfte der einzelnen sichtbar verneinen zur weiten, widerstandstrotzenden Fläche und die durch geschicktes Spiel und 275 rücksichtslose Sinnestäuschung jedem einzelnen den Wahn einflößen, hoch auf einer Höhe über der Fläche zu stehen und das Menschengefüge zu überblicken. Und wehe, wenn sie einen Menschen treffen, der nicht im Banne der Tat lebt; wenn sie an einen prallen, der ein sehnsüchtig Herz und eine weiche Seele hat! – An einen, dessen Seele aus den Pausen des Lebens die Größe zu schöpfen sucht. – Solchen verlocken sie, machen ihn aufhorchen, er wirft sich ihnen entgegen mit vollem Vertrauen und mit offener sehnsuchtsvoller Brust.
Er wird sich weit auftun und sein Empfindlichstes zeigen und wird keine zarten Verbindungen, keine milden Stellen, keine hoffnungsreichen Pausen finden. Es wird ihm sein, als würde in seinem Innern sein Heiligstes im Radwerk einer erbarmungslosen Maschine zerrissen.
Von diesem Spiel an war der Gefreite nachdenklicher geworden.
Noch einer ward vom heutigen Tag an still und duldsam, noch eine Seele hatte sich im Sehnsuchtsschmerz zusammengekrampft, Peter Asam, und beide wußten sie nicht, worin und weshalb ein scheues Meiden zwischen ihnen lag.
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Einige Tage später bummelte der Gefreite um die Häuserblocks der Kaserne.
Er war müde, der Dienst hatte ihn heute angestrengt. Und etwas Unheimliches war im Lattendepot aufgetaucht und schlich von Tür zu Tür, von Ecke zu Ecke, von Stall zu Stall.
Alle waren sie noch gesund gewesen, alle Pferde, und standen im Stall mit glatten Rücken und wieherten vor Freude in Kraft und Schönheit.
Am hellen Sonntag hatte einer in der Unterrichtsstunde mit gelangweilter Stimme von der Brustseuche 276 gesprochen, von Rotz und Räude. – Mit gelangweilter Stimme! Er hätte es nicht tun sollen. Die Fahrer, die haben finster geblickt. – Die Fahrer sind immer im Stall, immer reiben sie die Pferde ab, sie haben immer den gleichen Dienst und sie bleichen in der Stalluft. Beim Reiben und Reiben Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, da haben sich dumpfe Gewalten gesammelt: hinter den niederen Stirnen.
Und sie haben heute finster geschaut, alle Fahrer, heute am Sonntag.
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Und Montag wurden zehn Pferde erschossen, es starben dreißig, Dienstag waren's zusammen fünfzig. Der Schinder hatte gute Zeiten. Er verstand es, Geld aus der Wirrnis zu ziehen. Er hatte den ganzen Tag zu fahren mit seinem braunroten Riesensarg auf Rädern. – Immer drei auf einmal gehen hinein.
Heute war's die letzte Fahrt; aber vier tote Pferde. – Zum Teufel! – Vier große, schöne, dabei eine vierjährige Remonte, ein Leutnantspferd.
»Und wenn der Wagen bricht, und wenn ich sie klein hauen muß, für heute mach ich Schluß!«
Drei waren drin und der seltsame Möbelwagen rumpelt zum Remontestall. Der Wagen hält. Durch seinen schlecht gefügten Boden tropft es rot und warm. – Rot und warm! Und wie die Wagenrückwand heruntergelassen wird, sie soll nun als eine Treppe dienen, quellen drei Pferdeköpfe vor mit offenen Augen. Zwei haben ein rotes, blutiges Loch an der Schläfe, dem dritten entsickert sein letzter warmer Saft durch die gefletschten Zähne. Über die Stallgasse wird Wasser gesprengt, ein langes Tau fesselt dem Schimmel die Hinterbeine.
»Zu – gleich! Zu – gleich! Zu – gleich!« – Langsam schleifen die Fahrer das edle Tier über die 277 Stallgasse. Es schimmert seltsam im dumpfen, düsteren Stall. Der geschmeidige Rücken, er hat den Gefreiten auch einmal getragen, ja wahrhaftig, der Rücken scheint sich noch zu krümmen, scheint noch zu springen über Hürden und Gräben, sein Kopf scheint zu wiehern mit fröhlicher Bewegung – nein, nein, er schlenkert nur hin und her und schlägt fleischig an die Säulen der Stallgasse. – Doch schon kommt der Schinder und hebelt mit einem Balken beim Schimmelkopfe ein und verhindert von nun an das lästige Aufschlagen.
Ein letztes Blut, dunkel und schwarz, so wird er auf die Leiber der braunen Freunde gezogen. Die Hinterwand wird zugeschlagen. Und die Hinterwand geht nicht zu. Da drücken sie, zu fünft, zu sechs, mit kräftigen Fahrerfäusten. Noch geht's nicht zu! Da, ein Knirschen, ein Malmen – und Blut.
»Hüh! Hüa! ihr faulen Luder, wollt ihr ziehen? Hüh! Endlich, los geht's! Guten Abend, ich danke auch schön.«
Und am anderen Tage –Mittagssonne, warm, warm, herrlich. Die dunkelroten Ziegel der Stallungen tranken so viel sie konnten an Licht, bis sie sich alle selbst wie Sonnen vorkamen. In der Nacht ist ihre Zeit dann gekommen zum Strahlen, wenn die Bäume träumen von Frühjahrszeit und Blättern.
Allen Kranken gibt der Sonnenstrahl die Hoffnung wieder, allen küßt er das Herz. Aber die Seuchen haben sich das Sonnenlicht geknechtet, sie sind mächtiger und wüten, wie sie wollen, so lange sie wollen.
Wieder am anderen Tag war Pferdebewegung im Stallhof. Im weiten Kreise werden die Pferde geführt, langsam, langsam, eines hinterm anderen. Und die sie führen, sind lang und groß und gehen in langen Schritten. Am bleichen Drillichrock tragen sie eine rote Marke, das Seuchenzeichen.
278 Auch Asam und die anderen sind dabei.
Fast hundert traurig gebogene Pferderücken, fast hundert traurig gesenkte Köpfe, fast hundert bleiche Fäuste, die die Köpfe führen. Bleiche, faltige Hände, zum erstenmal sauber durch das heiße Wasser und die Säure; aber unter den breiten Nägeln ist's schwarz geblieben.
Solch schwer schreitendes Leid zieht langsam im Kreis unter der küssenden Sonne.
Ein Pferd in seiner biegsamen Schönheit erkrankte, krank an der Seuche! Wie traurig das ist! Über seinem schönen Rücken, vom gebeugten Kopf bis zum Schwanz zurück, liegt die Kurve des Leids, die leichte Wölbung, die von der Erde kommt und zur Erde wieder sinkt. Wenn man genau zuschaut, ist es gar kein Kreis, den die Pferde schreiten, kein Kreis, der unter der Sonne liegt und sich in herrlicher Kraft und herrlichem Gleichmaß um einen Kern und Mittelpunkt bewegt – es ist ein leidverzerrtes Oval.
Zwei Kurven des Erdenleides, die unschön ineinandergreifen.
Am vierten Morgen, im ersten Sonnenstrahl, fährt auf der Straße der Schinder.
»Hüh, hüh, wollt ihr ziehen, ihr Luder?«
Vor dem Fuhrwerk ein Vorreiter, sein Pferd ist räudig und dünstet scharf, daß dem Reiter die Augen übergehen wollen. »Achtung, räudig! Achtung, rotzkrank!« so ruft er.
Dem Wagen folgten sechs Pferde, immer drei beisammen, große Tiere. Sie sind nicht matt und scheinen gesund, doch die zwölf Augen fiebern, die Nüstern schlagen, sie schnaufen und bäumen sich, daß die beiden Führer, sie sind im Drillich und tragen die Seuchenmarke, sie kaum führen können.
279 Der Schinder versteht es, die Verwirrung zu benützen und Geschäfte zu betreiben.
So kann man drei Fahrten auf einmal machen. Und es kostet nur ein kleines Freundschafts- und Trinkgeld. Doch geht es nur am Morgen, weil's streng verboten ist. Denn die Gäule müssen im Hof erschossen und dann im Wagen fortgefahren werden.
Der Wagen ist vorbei. Am Boden reiht sich eine feuchte Linie, Tropfen an Tropfen, feucht und rot dampft es in der Morgenfrische. Der Bäcker kommt mit seinem flinken Wagen und hält. Die frischen Semmeln geben ein freundliches Geräusch, wie er sie in einen Korb umschüttet, doch sein schlankes Pferdchen stellt ängstlich die Ohren, es hatte am Boden geschnuppert.
Asam war betrübt und er pflegte die kranken Tiere mit viel Hingabe wie gute Freunde. Der Gefreite und Peter Asam sprachen einander in dieser Zeit oft.
Im Hofe der Alfonsschule hatten sie damals beide die seltsame Musik vernommen.
Es war kurz vor Mitternacht. Der Mond schien. Asam lag wach. Und wieder löste sich von seiner Brust ringende Sehnsucht; die glitt wie vom Föhnwind angefacht die Wände entlang, da fand sie ein offenes Fenster und schlüpfte hinaus.
Auch in den Bergen schien der Mond; aber schauerlicher, so hell wie noch nie. Und kurz vor zwölf blieb in der Wohnung der Witwe Asam die Pendeluhr stehen. Die Frau fühlte das im Schlaf und erwachte. Ihr erster Gedanke war, dem Peter geht's nicht gut. Unruhig stand sie auf und verließ das Haus. Sie ging hinters Haus auf die große Weide, wo das junge Birnbäumchen stand, unter dem Peter alle Tage gelegen.
Die Frau setzte sich unter das Birnbäumchen. Es stand schon voller Knospen; ein knospendes Bäumchen 280 im Mondlicht hat immer seinen Zauber. Wie die Frau nun saß und vergangener Zeiten gedachte, da empfand sie, wie der Baum umwölkt war von einem fremden Geheimnis und wie diese Wolke groß ward und über die ganze Weide ging und auch das Häuschen umschloß. Sie dachte über die Bedeutung dieser Erscheinung nach.
»Das kleine Bäumerl kann's net machen. – Das hängt mit mei'm Buben zsamm'! Ja, ich hab's jetzt schon so oft gefühlt, der is gar nit fort von hier. Fast ganz is er da geblieben, fast ganz! Nur a kleins bisserl von ihm ham s' fortgeholt.«
So dachte sie und freute sich. Doch da dachte sie wieder und erschrak:
»Ja, kann er aber dann da draußen in der Stadt glücklich sein, wo er nur halber dort ist? – Nein, das kann er nicht!«
Die Frau stand auf, ging ums Haus und kehrte wieder zurück. Sie war wohl schlaftrunken. Und sie seufzte:
»Wenn's halt sein muß, ich will di net halten, mei Bua! Ich wär' die letzte, die so was tät.«
»Weil's halt sein muß!!«
Mit diesen Worten fällte sie Asams junges knospendes Bäumchen.
Als es fiel, flog ein Fledermäuschen heraus und machte sich davon. Es mochte sich verspätet und hier Herberge gefunden haben.
Wie im Schlaf ging die Frau ins Haus zurück, machte die Uhr gehen, und legte sich ruhig zu Bett.
»Jetzt is er halt freigeben, mei Bua, wenn's ihm nur gut geht draußen!«
Und ruhig schlief sie auch wieder ein.
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Es war kurz nach zwölf, da stand Asam vom Strohsack auf, ging zum offenen Fenster und sah in den Mond.
281 »Wie groß er ist – und wie hoch er ist – und wie gut er ist! Der ist so hoch, so hoch, daß ihn alle sehen können. Draußen sehen sie ihn und ich sieh ihn auch! – Ja, wahrhaftig, die Welt ist jetzt nimmer so weit und nimmer so groß für mich! – Wo ich das jetzt weiß, werd' ich ganz ruhig. –Ich seh' den Mond und draußen sehns' ihn auch.
Gut Nacht, Mutterl, ich hab' mich heut zurecht gefunden! Schlaf gut, Mutterl.«
Am anderen Tag staunten alle. Der Hauptmann, der Leutnant, alle Wachtmeister und Unteroffiziere und auch die Gefreiten: Was ist mit unserem Asam geschehen? Der schaut so lustig und schaut so spitzbübisch und ist ganz anders geworden! – Was mag er nur haben? –
Aber der Gefreite Strom allein verstand ihn, er ging zu ihm und gab ihm die Hand: »Gelt, Asam, jetzt haben Sie sich endlich zurecht gefunden, warten Sie nur, im Feld draußen, da wird's Ihnen erst gut gefallen, am Ende gehen wir zwei gar miteinander hinaus.«
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Der Juristenjunge wurde an diesem Tag Gefreiter. Asam und der Gefreite Strom wünschen ihm Glück dazu. 282