Helene Böhlau
Im Garten der Frau Maria Strom
Helene Böhlau

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Neuntes Kapitel

Der zweite Tag, die zweite Nacht. Mondschein und ein betrübtes Wasserweib. Wie man am besten im Heu übernachtet. Maria und Sebald schauen wie in ein verstecktes Vogelnest. Menschenkugeln. Der Eierdieb. Nixen und bleiche Steine.

Kennst du Feste, die nicht müde machen? Feste, die dich rütteln und wecken, Feste, die im schnellen Lauf unscheinbare Menschen und Persönlichkeiten zu tollkühnen Wagern und zu jubelnden, strahlenden Lachern wandeln? Feste, die bleiben, die dir noch nach langen Jahren in der Erinnerung liegen als eine noch nie wieder erreichte Wachheit verborgener Kräfte und Geheimnisse?

Keiner wurde müde und der Morgen war schon nahe, als die vielköpfige Schar aufbrach. Ihr Weg durch den Wald war nicht weit, sie zogen dem Gutshause der Brankonis zu, einem alten Familiensitz. Die vielen Fackeln, die farbigen leuchtenden Papierkugeln, die Feuerregen und Raketen, war's nicht als kröche ein Komet übers grüne Land?

Und wenn ein Lied angestimmt wurde, so schwoll es an wie ein brausender Wind, und ein jeder fühlte, es ist das richtige Lied, mein Herz kann da mit einstimmen. Das Fest hatte sie geeint im Wollen und Empfinden, so sangen alle in die Nacht hinaus.

186 Eine war nicht mitgezogen, Gudrun war beim sterbenden Sonnwendfeuer geblieben, die Grundel, das junge Wasserweib. Die Wassermenschen sind schöner als die anderen. Sie haben große, glänzende Augen und eine weiße Stirn; aber die Seele der Wassermenschen ist ein sterblich Ding, und weil sie nicht teilnehmen werden an der Ewigkeit, tragen sie in ihrer schönen Brust ein wundes Herz. So können sie wohl taumeln und trunken sein vor Freude; doch kommt Schmerz über sie oder eine Pein, dann müssen die Wassermenschen in Schmerz und Pein versinken.

Das Feuer erstarb; der Mond stand um so größer und goß sein bleiches Licht. Gudrun weinte, das Mädchen war nicht mit beim Feuer gewesen, sie war durch den Wald geschlichen am Ufer entlang wie ein Geist durch die Stille der Finsternis, auch beim Wasserstein war sie dabei gewesen. Sie hatte geweint, geweint die ganze Nacht, bitter, bitter heiße Tränen. Sie war ein vergessener Mensch. Es dachte keiner an sie, sie fehlte niemandem, keiner von dem jungen Volk rief nach ihr. – »Es gibt keine Freundschaft in der Welt! – Es gibt Lug, Trug und Liebelei!«

Vergessen und einsam!

Der wilde unbändige Schmerz allererster Jugend.

Die Sonne ging auf im Osten, Gudrun erhob sich, ging zu ihren Sachen und nahm die tönerne Pfeife und spielte ein wunderliches Lied.

Und sie schritt über den Wiesenrücken zur Feuerstelle, und beim Schreiten wogte sie mit dem ganzen Körper und wiegte sich dem Wasser zu. Und wie sie am Wasser stand, verklang ihr Lied, da nahm sie die Pfeife und zerschellte sie am großen Fels im Wasser – und sah sich gedankenlos und gedrückt um, da fielen ihre Blicke auf Hammer und Nägel, und sie schlug einen Nagel 187 tief in den silberigen Stamm der alten Buche am Tanzplatz.

War das Rache am Baum? Hatte auch sie von dem Segen geträumt? War es ein Schwur, ein böser Wunsch, ein Hexending – ein Zaubernagel?

Während Gudrun im dunklen Wald geblieben war, kroch der singende, klingende Komet übers Land. Als er am Gutshaus der Brankonis noch in der Nacht angekommen, da hatte der eine Kometenfunke, Ottomar, kein Löwin mehr, weil ihm das Ruthle davonlief und sich schnell in eine eifrige Hausfrau verwandelte, um ihrer Mutter beizustehen. Solche Wandlung verdroß Ottomar gar sehr.

Da hörte man die neuerstandene Überhausfrau anordnen: »Aufpassen, ihr Buben! Schaut, daß ihr ins Heu kommt! Aber macht kein Geschrei und seid recht still, sonst wachen die Kühe und die Mägde auf! Und Feuer dürft ihr keines anzünden und keine Eier stehlen. Gute Nacht beisammen!«

Die Mädeln nahm sie mit sich. So viele als irgend möglich war, legte sie in die Betten, der Rest kam auf die Balkons und mußte sich mit Decken, Matratzen und Hängematten zurechtfinden. Das Völklein mit den verlorenen Herzen war so recht gut untergebracht. »Gut Nacht beisammen!« Ja, das war leicht gesagt.

Im Heu dauerte es weitaus am längsten, bis Ruhe eintrat. Es ist nicht leicht, sich in einer Scheuer sinngemäß einzurichten. Uhren, Geld und anderes von Wert kommt in die Stiefel. Was sich zuknöpfen läßt, muß zugeknöpft werden. Dabei gibt's nichts als eine Stallaterne, und die wird noch von Staubwolken verdunkelt. Dann muß man seine Decken, Wolljacken, Luftkissen und Zipfelmützen mit ins Heu hinaufziehen und muß sich damit vergraben. Gar, wenn's eine kühlere 188 Nacht ist, muß man gewissenhaft sein beim Bau der Heuhöhle. – Erst eine kleine Grube von ein Meter Tiefe ausheben und sich dann von dort aus, durch dauerndes Schrauben um sich selbst, wagrecht einbohren. Man muß achten, daß man dabei nicht an einen Rand vom Heustock kommt, denn da zieht es leicht kalt herein, und dann soll man eigentlich auch keinen Staub machen und dem, der vielleicht schon friedlich nebenan vergraben liegt, Heu aufs Luftloch werfen, denn solch schon Eingegrabener wird leicht grob und eine Rauferei im Heu steckt an wie ein zündender Schlag. Ist aber der Heukampf eingetreten, so ist es sicher für die ganze Nacht mit dem Schlafen vorbei. Und die Heuhöhlen! Wenn man da den Kleineren nicht hilft und ihnen nicht vorbohrt oder wenigstens anbohrt, dann geben sie die ganze Nacht nicht Ruhe, weil sie kalt haben. Und nach solcher Arbeit heißt es dann ordnungsgemäß sofort einschlafen. Soll eine Heunacht ihren Zweck erfüllen und neue Kräfte bringen, dann muß die Truppe gut geschult sein und gut erzogen.

Als Ottomar am Morgen erwachte und sich zurecht rollte, um weiter zu schlafen, es war recht kalt, da sah er ein winziges, fleckiges Kätzchen, das hatte ein getigertes Schwänzlein und das trug es, wie es so durchs Heu stieg und die runden Löcher mit den schlafenden Bubenköpfen besah, kerzengerade himmelwärts und gar feierlich.

Sicher ist es das Kätzlein von Ruthle, ich will es haben! So dachte er und er tat drei-, viermal den Katzenmutterruf, den konnte er sehr gut, und dann war das Tierlein schon bei ihm. Der Katzenmutterruf ist langgedehnt, sehr leise und heiß: Wraung –Wraung!!

Als er später nochmals erwachte, war das Kätzlein daran schuld, es saß bei seinem Gesicht und spielte sehr 189 zart und freundlich mit seiner Nasenspitze. Er konnte es lange aushalten und fast atemlos liegen bleiben, um ihm zuzusehen, aber dann mußte er pusten und lachen und das Kleine war mit drei großen Sprüngen verschwunden. – Wieder mußte er ans Ruthle denken, das ihn doch mit den Zöpflein gekitzelt hatte.

*

Auf der Fahrt nach München, in der Bahn, hat ein Mädchen lange, lange geträumt vom Wasser und von einer tollen Freundschaftsfahrt. Dann wurde sie aber unruhig im Schlaf und erwachte. Sie erwachte und hatte feuchte Augen.

»Im Schlaf geweint!« sprach sie zu sich, da ballte sie zwei Fäuste und schlief so wieder ein.

*

Es ging stark auf Mittag zu, da schlenderte die nimmermüde Schar von neuem dem Festplatz zu. Nun war es freilich kein Komet mehr, aber siehe, es waren lauter Menschenkugeln, die dem Wasserplatz zurollten, und jede Kugel war getragen und getrieben von gar eigenartigen Gedanken. Da war eine, eine Mädchenmenschenkugel, die hatte etwas vor, etwas Neues und Seltsames. Wenn man gut acht gab, konnte man aus dem Gesumms und Geflüster, das sie von sich gab, allerlei Worte vernehmen wie: »Ja, heute Nacht im Mondschein! Die Gitarre mußt du aber mitnehmen!« Oder: »Das wird fein sein am Wasser, grauslich fein!« Eine andere Kugel war eine gemischte, eine Buben-Mädel- oder Mädel-Buben-Kugel. Und die tat sehr geheimnisvoll! – Es waren zwei Mädchen Arm in Arm, die gingen in der Mitte und an die acht Buben um sie herum, und sie lachten alle so, daß sie sich immer winden und bücken mußten. So kamen sie nur ruck- und sprungweise vorwärts. Und sie lachten und lachten, weil sie alle 190 miteinander ein Geheimnis hatten, ein großes, wichtiges Geheimnis, das sie eng verband. Kam einer zu ihnen und schloß sich ihnen an, so zog er bald verblüfft und ärgerlich wieder ab; denn sie verrieten ihr Geheimnis nicht! Weil wir es nun aber auch nicht wissen und es ja auch nie erfahren werden, wollen wir zur nächsten Kugel gehen.

Das war noch eine ganz junge! Die kleinen Buben, und die tanzten und sprangen um einen von ihnen herum und neckten ihn. Er hatte ein vollkommen gelbes verschmiertes Maul und wußte es nicht! Ein Eierdieb! Bald wurde er geständig und erzählte auch schüchtern, er habe zuerst ein großes weißes Ei gefunden, es sei sehr schwer gewesen und er habe es austrinken wollen, es sei aber scheinbar aus Porzellan gewesen und hingelegt worden, um die Leute zu ärgern. Eine andere Kugel war aus großen Buben und die schworen immer wieder von neuem, sie wollten nie wieder im Heu schlafen, man sei am Morgen vollkommen verpappt vom Staub.

So rollten die Kugeln.

Manche Mädel und Buben gingen aber auch allein. Es waren aber meist nur Buben. Ein Mädel konnte man auch sehen, die ging noch ganz verträumt und sie bewegte die Hände, als spiele sie Ball mit lauter, lauter runden Herzen.

Da löste sich eine von einer Kugel, es war Ruthle, die Überhausfrau, sie ging zum Ottomar:

»Guten morgen, mein Löwe! Warum bist du allein?«

»Guten morgen, meine Löwin, bin faul und müd!«

»Schau einmal, wie ich mich gestern angepufft hab' beim Springen!« Sie zeigte ihm ihr Ärmchen, das hatte einen winzigen blauen Fleck. Da machte der rote Bub eine lange, lange Schnute und sah sie fragend an, er wollte scheinbar einen heilsamen Kuß darauf drücken. Er dachte auch an das Kätzlein im Heu. Sie 191 zog aber den Arm schnell fort und rief entrüstet: »Aus ist's! – aus ist's! Du wirst mir zu löwig! Ein gut Ding will auch ein Ende haben.« Sie ging fort von ihm und schien böse zu sein. – Doch sie kehrte schnell um und rief, als käme sie gerade des Wegs: »Guten Morgen, Ottomar, bist aufgewacht?«

»Guten Morgen!« kam es da brummig und verlegen.

Da rief aber Ruthle mit glockenfeiner Stimme, halb scheltend, halb tröstend und lockend: »Aber du, roter Bub! – Guten Morgen!«

»Guten Morgen! Du, Ruthle, bin schon aufgewacht jetzt!«

So gingen beide weiter und waren zufrieden. Das Ruthle sagte noch erzieherisch zu ihm: »So ein Löwenviechlein wie du, das erst achtzehn Jahre alt ist, das soll überhaupt keine solchen Schnuten machen wie du, das machen doch nur Löwensäuglinge und ältere Löwen, als du bist!«

»Bin noch nicht achtzehn!«

»Aber du wirst es doch morgen, du Zankigel!«

Gleich nach dem Abkochen begann der Tanz. Erst waren es rheinische Reigen, da muß man dabei sein und selbst mittun, oder noch schöner, man muß zusehen. Man muß sehen und hören, wie sie sich selbst ihr Tanzlied singen, wie sie kreisen und drehen und springen, wie sie leben in ihren Tänzen, und wie ein jedes Einzelne das Bild des ganzen Tanzes lebt und erlebt.

Aber dir, dir will ich's sagen, Was ich auf dem Herzen trage, Du gefällst mir wohl! Du gefällst mir wohl!

Dann waren's die bayerischen. Ei, wie sie stapfen, die Buben, wie wirbeln die Mädel, wie juchzen sie alle, 192 wie klatschen sie alle, wie springen die Buben, wie fliegen die Mädel! –Wie glühen sie alle, wie schnaufen sie alle, wie lachen sie alle. Wie wirbeln sie alle, alle, alle! Und wie fliegen die Zöpfe!

Wia schüttelt der Boden,
Wia biagt sich mei Huat!
Wia tanzen die bayerischen Diandl so gut.

Und du bist ma vial liaber,
Als d' Engerl all zsamm'
Und i mag erst in Himmi bals die drinnat ham!

So ging der Tanz im vollen blühenden Sommernachmittag doch im Baumschatten. Oh, es war windig und wild! Und der Boden hat gerüttelt und geschüttelt!

Und der rote Bub war wild, jedem, jedem Mädel, mit dem er wirbelte, dem ging das Haar auf, und oft flog er hin auf den Boden, so wild und rasend mußte es gehen, und dennoch tanzten sie gern mit ihm.

Unweit vom Tanzboden, doch etwas höher, standen bei einem dichten Gebüsch zwei Gestalten, ein Mann und eine Frau. Der Mann trat nahe an den Busch, bog Zweige zur Seite und sah hinüber auf die bunte Schar. Solches tat er so behutsam, als schaue er in ein verborgenes Vogelnest, und er nickte.

»Schau, Maria,« sagte er leise, und sie schaute mit angehaltenem Atem, und wie sie den Baum sah, den uralten Buchenbaum vom Walde – da wußte sie, daß ihre beiden Kinder gesegnet waren. So zart, so fein war die Seele der Frau. Sie konnte mit dem Baum sprechen und sie besprach sich mit ihm. Natur sprach da mit Natur.

Und wie sie die Feuerstätte sah, da wußte sie, daß hier in der Sommernacht Sterne und auch Sternenmenschen geleuchtet hatten.

193 Und wie sie den Stein sah, den Stein im Wasser – da wußte sie, daß ihr Kind hier gesessen hatte in der Nacht, umbraust vom Wasser, umflossen vom Mondlicht, und sie wußte, daß sie ein träumerisches, frohes, Kind hatte.

Da strahlten ihre Augen.

Dann trat sie vorsichtig zurück, schüttelte noch liebevoll die Zweige zurecht und gab ihrem Freund die Hand. »Ich danke dir, Sebald. – Sie ziehen einem so fern – und man bekommt Sehnsucht, sie in ihrer eigenen Welt zu sehen.«

Sie gingen vorsichtig miteinander weiter. Da wandte sich Maria um, ging zurück, bog die Zweige noch einmal zart auseinander und schaute noch einmal auf die glückselige Schar – und die Augen standen ihr voll Tränen. Sie sah Heinrich, wie er ganz selig versunken das Ruthle schwenkte. Er war so nah, daß sie die frohen Augen ihres braven, großen Buben sah, wie er so sicher in sich selbst ruhend glücklich war. Sie sah den roten Bub, wie er es trieb, so ganz daheim im Schlaraffenländchen der Jugend, als wollte er ewig darin verbleiben. Sie sog die Seligkeit der Kinder in sich ein, wie eine starke, köstliche Luft, die den Atem leicht macht.

Als sie sich ihrem Freund wieder zuwendete, sagte der: »Wir sahen da Schöneres, als es wohl scheint. Gar manches Mal stand ich schon so, und mit einem eigenen Schauer sah ich, was sich so ohne weiteres nicht aussprechen läßt. Neue Menschen, neue Ziele – neue Gottsucher – und neue Liebe – nicht nur Jugendliebe. Mir scheint, als wäre diese Jugend unschuldsvoller – offener – schlichter, und als wollten sie mit ihrer Liebe Gott verschenken. – Ich kann es gar nicht anders nennen. Wie alles erwacht ist, weiß ich nicht – und wozu es erwacht ist. Aber es ist ein Geschehen.«

194 »Wenn es die Sehnsucht wäre,« sagte Maria leise zu Sebald, »Wünsche wie deine Wünsche und – geheimnisvoll ist alles auf Erden – vielleicht haben wir Mütter auch ewige Kräfte in uns. Du mußt mich verstehen. Vielleicht ist die große Liebe, die uns gegeben ist, so, daß sie erbitten kann – und wenn ich alle Abende bat: – »Laß sie herrliche, frohe Gottesmenschen werden, und gar nichts Besseres zu sagen wußte, so will die Bitte doch gehört werden. Ich habe meine beiden nicht erziehen können, immer stand ich machtlos da, Heinrich wuchs wie eine ruhige schöne Pflanze, die ihren eigenen Gesetzen folgt, da war ich unnötig. Und Ottomar voll Rätsel, von einem Gegensatz zum anderen, ich konnte auch nur zuschauen und voller Glut beten und immer wieder beten. Zeiten gab es, wo ich nachts im Gebet einschlief, erwachte und weiter betete, und das Gefühl hatte, nur so kann ich tun, was ich soll.«

So gingen sie weiter.

»Mitten in unserer öden Zeit,« sagte Sebald, »ist da etwas Glückseliges erwacht, selbst und aus eigener Kraft, ich habe ihnen nur in deinem Garten ein Geheimnis gegeben, ein Heiligtum gesetzt, ohne viel zu deuten – und das brauchten sie.«

So gingen beide weiter.

Unter dem alten Baum fragte eine: »Weshalb Gudrun wohl fortgefahren ist? Der Knecht hat sie gesehen, wie er die Milch zum Frühzug gefahren hat.« So erkundigte sich Ruthle unterm Tanzen bei Ottomar.

Der meinte darauf: »Ich glaube, sie hat sich gelangweilt.«

Nach dem Tanz kam der Sängerkrieg. Sie saßen und lagen bunt im Kreise. Sie glühten alle noch, um so kühler und frischer fluteten aber die innigen Lieder. Auch Heinrich und Ruthle traten in die Schranken.

195 Ruthle hatte sich säuberlich glatt gestrichen, und ihr Köpfchen glänzte schwalbenblau.

Die Melodie des Liedes war schlicht und geheimnisvoll. Es begann mit Heinrichs zärtlicher Frage:

»Schwesterlein, Schwesterlein, wann gehen wir nach Haus?«

Das Ruthle gab die trunkene Antwort:

»Früh, wenn die Hähne krähn, wollen wir nach Hause gehn, Brüderlein, Brüderlein, dann gehen wir nach Haus.«

Heinrich: »Schwesterlein, Schwesterlein, wann gehen wir nach Haus?«

Ruthle: »Früh, wenn der Tag anbricht, eh end't die Freude nicht, Brüderlein, Brüderlein, der freudige Braus.«

Heinrich: »Schwesterlein, Schwesterlein! – Wohl ist's Zeit!«

Ruthle: »Mein Liebster tanzt mit mir, geh ich, tanzt er mit ihr, Brüderlein, Brüderlein, laß du mich heut!«

Heinrich: »Schwesterlein, Schwesterlein, du bist ja so blaß?«

Ruthle: »Das macht der Morgenschein auf meinen Wängelein, Brüderlein, Brüderlein, die vom Taue naß.«

Heinrich: »Schwesterlein, Schwesterlein, du wankest so matt?«

Ruthle: »Suche die Kammertür, suche mein Bettlein mir, es möcht wohl sein, unterm Rasen fein.«

– Tanzen – Tanzen und Scheiden und Sterben. Das lieben die Jungen, weil sie noch in ihrer Ewigkeit sind.

Auf Wolfgang Stürmers Betreiben, denn er war einer von der mürrischen Menschenkugel, die den Staub so haßte, schlug Ottomar abends mit ihm ein Zelt auf an dem Weg, der vom Gutshaus zum 196 Sonnwendplatz führte. Wie es fertig war, stopften sie die Ritzen noch mit Moos zu. – Es sollte heimisch und gemütlich werden. Von innen verknöpften sie noch die Öffnung, die sie hineingelassen hatte. Es brannte eine kleine Laterne, die schaukelte vom Giebel des Zeltes und gab ein dämmerndes Licht. Stürmer las vor aus Queris lustigen Erzählungen, wie es im Walde rauschte und wie der kleine Pepperl die tausend Hirsche gesehen hatte. Dann brannte die Kerze ab.

Ottomar erwachte kurz vor Mitternacht. – Es muß jemand hingefallen sein. – Dann schlich es vorbei wie ein Rudel Rehe. – »Sind's wohl die tausend Hirsche von gestern abend?« so dachte er verwundert.

*

Wie still und zauberhaft es im Wald ist in einer Mondnacht.

Mädchen gingen dem Wasser zu. – Noch waren sie graue und unscheinbare Wesen der Nacht, noch waren es Menschen, wie es ungezählte in der Welt gibt. Sie kamen ans Ufer zum Baden und – wurden andere Wesen. Ihre grauen Hüllen streiften sie ab, so wie es verzauberte Schwäne tun. Und da standen sie, und gingen übers kühle Gras. – Nein, es war kein Gehen, ein Wandeln und ein Schweben! Und trotz des Schwebens und trotz der Lautlosigkeit waren es schwere Leiber. Wo waren die Menschen? Die vielen kleinen Mädchen? Jedes einzelne war zur Gewalt geworden.

Sie kannten einander und bargen sich nicht voreinander: Und dennoch trennte sie eine Scheu. Sie sahen aneinander die Gewalt und die Größe und die Unendlichkeit.

Die Leiber waren leicht und schwer zugleich. Schwer wie Bäume, oder schwer wie bleiche Steine am Uferrand – und die hellen Leiber tranken das Mondlicht – tranken durstig die Silberflut, und weil sie das nächtliche Licht 197 tranken und weil sie lautlos im kühlen Gras aneinander vorbeischwebten und miteinander schwebten, und weil sie wuchsen und immer schöner wuchsen und zu strahlen begannen – erklang's wie Musik. Mag's warmer Nachtwind sein, oder eine Harfe sein, groß wie ein Baum, besaitet mit blassen Strahlen des Mondes, und mag ein glutwarmer Nachtwind durch sie hinstreichen, oder mögen es die riesenhaften Körper selber sein, umweht vom Föhnwind.

Unfaßbare Reinheit, Natur und Ewigkeit. Fort ist der Gedanke vom Fest. – Der Gedanke von der Nacht ist da, von der hellen Nacht, von der Mondbeschienenheit, Mondumflossenheit, Mondbegossenheit. Sie strahlen und leuchten, die wache Offenheit.

So war's am Ufer und der Strom glitzerte. Und weithin am Ufer standen die Gestalten in Gruppen und einzeln. Sie standen und lehnten an Baumständen und begannen leise zu singen. Die bleichen Gestalten, umgossen vom offenen Haar, sie waren geisterhaft, kaltblütig und – mondscheinig.

Es hatten aber die Kleineren am alten Feuerplatz ein Feuerlein gezündet, und sie hockten und kauerten dabei wie nackte Hexenbälger.

Kamen aber die Großen ans Feuer, aus dem Mondschein, die Riesenhaften, die Durchsichtigen, die Mondscheinigen in ihrer allumfassenden Wachheit und Offenheit, kamen die ans Feuer, dann wurden ihre Leiber von Fleisch und Blut und der Feuerschein gab dem Fleisch die Farbe einer reifen Frucht und das Feuer gab rotes, rieselndes Blut und ließ die Leiber erbrennen in eigener Wärme. So verlor sich das Riesenhafte und sie kamen dem Menschlichen näher; darum, welche zart und mädchenhaft war, die war dann auch jungmädchenhaft, knospend und duftend. Ja, erst am 198 Feuer und im Feuerschein kam der Atem über sie. Da faßten sich die großen Mädel die Hände und wieder sprangen sie ums Feuer, wie in der vergangenen Nacht; aber ihre Sprünge waren selig aufzuckend und lebendig und bei ihren Schritten krachten Glieder und Gelenke. Nun gedachten sie auch der letzten verrauschten Festnacht. Und solche Gedanken hatten seltenen Reiz, und ihr Springen erschien ihnen freier, geheimnisvoller, – fast ein übertretenes Gebot. Alle hatten das Haar offen, nur Ruthle behielt die Zöpfe und drum blieb sie ein liebes, lächelndes Kind, doch die anderen waren Mütter. Dorothee Garbe saß schweigsam, in einen Mantel gehüllt, an einem Baumstamm. Man hätte sie vergessen können, so unscheinbar saß sie da – nun stand sie auf und ließ den Mantel fallen.

Im Nachtwald stand die Königin der Schönheit; stand und wußte es kaum. Mond und Sonne und Sterne gehen auf – um Mitternacht.

Und sie streckt die Arme und atmet tief – hebt eine lebendige Brust. Dorothee atmet das Leben und die Lebendigkeit.

Sie war nur schön, versunken schön. Sie war nur Körper und war nur Seele. – Beides in einem. Es gibt Leiber, die sprechen können, wie es Gesichter tun, und so sprach es in ihr: »Ich bin frei und bin offen und bin: – unfaßbar schön! – So sprach es in ihr und – sie wußte es kaum und hörte es kaum.

»Es neigten sich Laub und grünes Gras
Vor der schönen, jungen Lilofee.«

Und wie sie nun ging, langsam und freudig, da wurde jeder Schritt Musik – an den Knöcheln, an den Armen erklang es wie goldene Ringe. Und wieder war's, als wär's im Zirkus! Und ein Schimmel, zitternd vor 199 Jugendkraft, beträte die Lohe – lautlos tänzelnd – nur den Sattel und das Lederzeug kannst du knirschen hören. Und wieder war es, als wandle die lichte Sonne auf Erden. – Königin der Schönheit und Monddurchschienenheit, war sie nicht schwebend – sie war lebend und lebendig!

Und wieder war's wie der Leib einer Auferstandenen. Als sie ans Feuer trat, da waren die anderen wie beschämt, wie arm und frierend.

Und sie ging schweigend zur Seite, setzte an – und sprang über die Flamme wie gestern. Und es war ein lichter Schein, der durch die Flamme zuckte! Dabei warf sie die Stirne zurück und sah in den Himmel. – Ihr Sprung war ein Lichtstrahl. Gestern Nacht, als sie sprang, da mußte sie nackt gewesen sein! – Sie ist nackt gesprungen mitten unter den Leuten – es gibt Menschen, die bleiben auch in den Kleidern nackt.

Und die Nixen bestiegen den Wasserstein. Unter ihnen war Dorothee – zu sieben standen sie auf dem Felsen, fern vom Feuer, wieder riesenhaft kaltblütig und monddurchschienen, und da sangen sie das träumende Lied von der Lilofee. Sie selbst waren aber wach und ihr Wesen offen. Dorothee kletterte unterm Lied am Fels hinunter und versuchte mit dem Fuß das Wasser; dabei ergoß der Mond sein Licht über sie. Vom Ufer her klangen Gitarren.

Da löste sich lautlos ein Boot im Uferdunkel, ein weißes Boot glitt lautlos vorbei in der Silberflut und verschwand lautlos im Mondgeflimmer.

Da erst verklang das Lied und niemand hatte das weiße Boot gesehen. Dorothee war trunken von der Gewalt des Liedes. Sie kletterte zu höchst auf den Stein, streckte sich hoch, hoch, so hoch sie nur konnte und rief in die Nacht hinein:

200 »Langt mich an! Jetzt bin ich noch warm wie Menschen sind! Ich – bin – die Lilofee!«

Und sie schnellte sich vom Fels herab ins gurgelnde Wasser. Ein Silberstrahl! Als sie auftauchte und das Wasser mächtig teilte, um zum Ufer zu kommen, da war es ihr, als wäre sie in Feuersflut gesprungen, und sie fühlte, daß ihr das Wasser noch nie so nahe, noch nie so rund um ihren Körper war und sie wollte in Tollheit und Freude das Wasser umarmen. – Umarmen den ganzen strömenden Silberfluß, glühend in Tollheit. Dann rannte sie sich warm durch den Buchenwald und nahm den Mantel und legte sich ans Feuer, unscheinbar und schweigsam wie zuerst.

Die anderen trauten dem Strome nicht. Nur wenige kauerten sich ins Uferwasser. Sie hielten sich aber fest an und fühlten die nächtliche Strömung, doch blieben sie, bis groß die Sonne aufging im Osten.

Und wie sie durch den morgendlichen Wald zogen, waren wieder alle unscheinbare Menschen, wie es ungezählte gibt auf der Welt. Nur waren es lauter wunderschöne Mädchen. Die Schönste und die Unscheinbarste von allen war Dorothee Garbe. Sie ging als die letzte. Und die große Unendlichkeit und Offenheit, die wuchtende Gewalt, die sich in dieser Nacht gezeigt und geoffenbart hatte, war zum Traum geworden. 201

 


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