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Beim Morgengrauen hatte Vic den Kamm des ersten Gebirgszugs hinter sich. Gegen Mittag kämpfte er sich die Abhänge der zweiten Kette hinauf. Hier stieg der Boden nicht so steil an wie unten vom Aspertal herauf, aber obwohl der Weg leichter war, konnte Grey Molly keinen großen Vorsprung vor den Verfolgern mehr erzielen. Ihre Schritte waren kürzer geworden. Je mehr die Zeit verstrich, desto tiefer senkte sich ihr Kopf. Trotzdem fiel sie noch immer, wenn der Ritt einmal eine Strecke bergab führte, willig in ihren leichtbeschwingten Galopp. Kein einziges Mal hatte die Stute versucht, den Dienst zu verweigern. Nicht einmal hatte sie vor den Mühen eines neuen steilen Anstiegs gezaudert. Aber noch immer folgten sechs eifrige Reiter, die sie nicht abschütteln konnte, ihrer Spur, und an ihrer Spitze ritt ein kleiner verstaubter Mann auf einer kleinen staubfarbenen Stute. Molly hatte den Winter über zu wenig Bewegung gehabt. Dies machte sich jetzt noch mehr geltend als die Mühen des harten Wegs.
Endlich hatten sie auch den zweiten Höhenzug hinter sich gelassen. Jenseits ging es Meile um Meile in sanfter, gleichmäßiger Abdachung hinab. Molly hatte freie und unbehinderte Bahn. Hier und da hob sich ein Hügel mit einem Fetzen Wald darauf, groß genug, daß Vic einen Haken schlagen konnte, um seine Verfolger zu täuschen, und dicht genug, um sich zu verstecken und die Jagd vorbeirasen zu lassen. Auch dem Sheriff schien dies nicht unbekannt zu sein. Es duldete ihn nicht mehr länger bei seinen schlechter berittenen Gefährten. Er drängte nach vorn und hetzte allein dem Flüchtling nach. Wieder und wieder hörte Vic hinter sich den schrillen Pfiff, mit dem der Sheriff seine Stute zu rascherem Lauf antrieb. Vic setzte seinem Tier zweimal die Sporen ein, dann aber unterließ er die unnütze Grausamkeit. Sein Pferd tat ohnehin alles, was in seinen Kräften stand. Keine Macht der Erde konnte mehr aus ihm herausholen. Und schließlich schien es auch ausreichend: Vic blickte in die Höhe und sah, daß nur noch eine Steigung zu nehmen war. Jenseits lag ebener Boden, auf dem Mollys schlanke Beine mit ihrer ganzen Geschwindigkeit ausgreifen konnten. Im selben Augenblick zischte etwas mit unheilverkündendem Pfeifen an seinem Ohr vorbei, dann folgte ein Geräusch, wie wenn zwei schwere Schmiedehämmer mit voller Wucht gegeneinander prallen. Das war eine Büchse!
Vic sah sich um, sah des Sheriffs Stute unbeweglich stehen, die Breitseite ihm zugekehrt. Die Sonne tanzte in blinkenden Reflexen auf dem Lauf der Büchse, die der Sheriff gerade wieder hochschwang. Jetzt sah man nur noch eine nadeldünne, glänzende Linie, die an seiner Schulter endete. Der schmale, glänzende Strich schnellte hoch, und ehe noch das Geräusch des Schusses an seine Ohren gedrungen war, erhielt Vic einen Schlag gegen die rechte Schulter, der ihn hilflos auf den Sattelknopf warf. Gleich darauf rollte das Echo des Schusses um ihn her. Ein fressender Schmerz zuckte von der getroffenen Stelle bis zu den Füßen hinunter und wieder zurück und lief wie ein elektrischer Strom, heiß und prickelnd, bis in die Fingerspitzen.
Der betäubende Schlag, mit dem das Geschoß Vic getroffen hatte, rettete ihm das Leben, denn der Sheriff hatte sich jetzt eingeschossen. Seine dritte Kugel hätte Vic zwischen die Schultern getroffen. Aber Glass hatte gesehen, wie sein Opfer im Sattel nach vorwärts sackte. Er wollte nicht unnütz Pulver verschwenden. Petes Familie stammte aus Neu-England und hier und da machte sich das Blut seiner sparsamen Vorväter noch bei ihm geltend. So blieb ihm nichts übrig, als über seinen Geiz fluchend mit den Zähnen zu knirschen, als er mitansehen mußte, daß Vic sich wieder aufrichtete und jenseits des Bergkammes verschwand, der ihn zunächst gegen jede Kugel deckte. Und jetzt zahlte ihm sein edles Tier mit vollem Maß alles zurück, was Vic in vergangenen Jahren an Liebkosungen und Pflege, an Lob und Zuspruch verschwendet hatte. Noch zitterten Grey Mollys Beine von der Anstrengung, die das Erklimmen der letzten Höhe gekostet hatte – ihr Reiter wankte wie betrunken im Sattel – die Zügel hingen schlaff auf ihrem Nacken – keine Stimme sprach ihr Mut zu und wies ihr den Weg – und trotzdem fegte sie wie ein Pfeil den Abhang hinunter. Bei jedem Schritt schien sie neue Zuversicht und neue Kraft zu gewinnen. Aber als Vic endlich seine Besinnung halbwegs zurückgewann und sich etwas von dem ersten Entsetzen erholte, war auch bereits die graue Stute mit ihrem zwerghaften Reiter hinter ihm über den Kamm gejagt und setzte zu neuer Verfolgung des gehetzten Wildes an. Noch immer hatte Grey Molly etwas Vorsprung. Vic verbiß den Schmerz so weit, daß er die Zügel mit der linken Hand zu packen vermochte, aber er wußte, daß der Kampf so gut wie vorbei war. Unmöglich, jetzt noch einen Haken zu schlagen, seine Verfolger in die Irre zu führen! Das Blut, das aus der Wunde tropfte, wies ihnen ja den Weg. Wie lange war er überhaupt noch fähig, im Sattel zu bleiben, wenn sich ihm der Schmerz wie die Zähne einer groben Säge ins Fleisch der verwundeten Schulter fraß?
Ein Fichtenwald nahm Grey Molly und ihren Reiter auf. Sein kühler Schatten senkte sich wie Balsam auf Vics Schläfen. Es war schon Seligkeit – selbst nur für wenige Augenblicke –, den Augen seiner Verfolger entzogen zu sein. Aber als er den jenseitigen Waldrand erreichte, zog Vic mit einem Stöhnen der Verzweiflung die Zügel an. Irgendein Teufel hatte Gus Reeve den Weg gewiesen, irgendein Teufel hatte Reeves Pferd einen Zaubertrank eingeflößt, der ihm wunderbare Schnelligkeit gab. Denn da drüben, im Talgrund, keine hundert Meter von ihm entfernt, galoppierte ein Reiter auf einem schwarzen Pferd. Und doch – Vic hätte es beschwören können – war Gus Reeve im Nachtrab geritten, als Vic sich zum letztenmal nach seinen Verfolgern umblickte. Einen Augenblick später war die Täuschung zerronnen. Niemals hatte Gus Reeve einen Rappen besessen, wie den da drüben, niemals ein Pferd, das so erstaunlich weit ausgreifen konnte! Das Tier schien die Erde kaum zu berühren. So leicht und fließend war sein Gang, daß nur die flatternde Mähne und der wehende Schweif von seiner unglaublichen Geschwindigkeit zeugten. Großer Gott im Himmel! Wer solch ein Pferd hätte! Hinter dem Gaul konnten tausend Sheriffs und tausend graue Stuten her sein – in fünf Minuten war er ihnen auf Nimmerwiedersehen aus dem Gesichtskreis entschwunden!
Vor dem unbekannten Reiter lief ein riesiger Hund. Sein Kopf erinnerte an einen Wolf, an einen Wolf gemahnte auch die Geräuschlosigkeit, mit der er wie ein Wolkenschatten über den Boden dahinglitt. Aber das Tier war weitaus größer als jeder Wolf, den Vic je zu Gesicht bekommen hatte. Jetzt wendete der Hund den Kopf, erblickte den Fremden und machte einen jähen Bogen zur Seite. Aber der Reiter änderte die Richtung, galoppierte geradeswegs auf Vic los und machte erst vor ihm halt. Kein Zügelruck, kein Zuruf hatte seinen Rappen zum Stehen gebracht. Das Tier gehorchte anscheinend auf den leisesten Schenkeldruck. Vic blickte in ein erstaunlich zartes und hübsches Gesicht. Er wußte auf den ersten Blick, der Mann vor ihm war weder Cowboy noch Goldgräber. Niemals hatte die Arbeit ihre Falten in dieses Antlitz gegraben. Wahrscheinlich war es doch ein »Greenhorn«, wenn er auch wie ein richtiger Westmann gekleidet war. Vic sagte sich, daß, ohne die Wunde in der rechten Schulter, es eine Kleinigkeit gewesen wäre, mit dem Revolver in der Faust sich das Pferd des Fremden anzueignen. Der Kerl hätte noch Gott gedankt, daß er mit dem lieben Leben davonkam! Aber Vic hatte nie mit der linken Hand schießen gelernt und hinter ihm – in einem Abstand von kaum drei Minuten – kam das Aufgebot dahergerast. Das einzige, wozu Zeit und Möglichkeit blieb, war eine verzweifelte Bitte.
»Fremder,« würgte er heraus, »sie sind hinter mir her. Ich muß Euern Gaul haben. Ich geb' Euch meinen dafür, es ist das beste Tier, auf dem ich je gesessen hab'. Hier sind noch zweihundert Dollar.« – Er warf seinen Geldbeutel vor dem Fremden auf die Erde und schwang sich aus dem Sattel.
Der wolfähnliche Hund hatte die ganze Zeit über mit gesträubtem Nackenhaar und leise knurrend die Vorgänge verfolgt. Jetzt kroch er geduckt auf Vic zu.
»Zurück, Bart!« kam ein scharfer Befehl von dem Fremden. Der Hund schnellte herum und lief, erregt winselnd, zur Seite.
Als Vic den Fuß auf den Boden setzte, gaben die Beine unter ihm nach, wie junge Schößlinge im Sturm. Der lange Ritt hatte seine Kräfte verbraucht. Von Minute zu Minute machte sich der Blutverlust mehr geltend. Berge und Bäume tanzten um ihn einen wilden Tanz, bis eine schmale, harte Hand ihn unter den Achseln packte und festhielt. Er stand jetzt mit dem Fremden Gesicht zu Gesicht.
»Ihr könntet meinen Gaul haben, wenn Ihr fähig wäret, ihn zu reiten«, sagte der Fremde. Es war seltsam, wie sanft und gelassen seine Stimme war. »Aber es würde nicht zehn Minuten dauern, ehe Ihr vom Sattel fallt. Wer ist hinter Euch her?«
Hinter dem Wald her kam ein lauter Ruf, eine andere Stimme antwortete. Sie war viel näher.
»Bei allem, was Euch heilig ist,« stöhnte Vic, »leiht mir Euer Pferd.«
»Ihr könnt Euch ja gar nicht mehr im Sattel halten. Verkriecht Euch hier. Ich werde sie von Eurer Fährte weglocken.« Der Fremde zog Vic, den er halb tragen mußte, in ein niedriges, aber dichtes Gebüsch, das in der Mitte eine kleine runde Lichtung aufwies. Der Rappe und der Wolfshund folgten ihnen auf den Fersen. Der Fremde packte den Zügel seines Pferdes. Sofort kniete der Rappe gehorsam auf dem Boden nieder. Solange er in dieser Stellung blieb, waren die Büsche hoch genug, um das Tier zu verstecken. Draußen hörte Vic die Verfolger näher und näher prasselnd durch den Wald jagen. Das schien den Fremden nicht zu berühren. Es konnte einen zum Wahnsinn treiben, wie langsam und gelassen er sprach.
»Ihr bleibt hier, Partner. Setzt Euch da drüben hin. Ich muß mir Euren Revolver ausbitten«, schon hatte seine rasche Hand die Waffe aus Vics Halfter gezogen. Vic konnte keinen Widerstand leisten, seine Finger waren von Schmerzen gelähmt, »und laßt Euch's nicht einfallen, meinen Gaul reiten zu wollen, wenn Ihr nicht den Hund an der Gurgel haben wollt. Haltet Euch ruhig und versucht die Wunde zu verbinden. Bart, paß auf ihn auf!«
Und so blieb Gregg hilflos sitzen, wo er in seinem Schwächeanfall niedergestolpert war. Neben ihm hatte sich der riesige Hund hingekauert. Er knurrte drohend, wenn Vic auch nur einen Finger rührte. Dichter und dichter kamen die Stimmen der Verfolger. Das Krachen und Splittern, mit dem die wilde Jagd durch die Büsche brach, gellte Vic unheimlich in die Ohren. Durch die Lücken zwischen den Ästen sah er, wie der Fremde sich in Mollys Sattel schwang und sie zum Galopp anfeuerte. Pferd und Reiter waren nur eine Sekunde sichtbar, aber Vic hatte den Eindruck, daß seine Molly unter dem neuen Reiter frischer und leichter galoppierte. Vielleicht war das kurze Ausruhen daran schuld, vielleicht auch, daß die neue Last um vieles leichter war.
Jetzt dröhnte der Boden in Vics nächster Nähe von galoppierenden Hufen. Gleich darauf schoß die staubfarbene Stute dicht bei Vics Versteck durch die Bäume. Der Sheriff hing wie ein Jockei über die Mähne gebeugt und trieb sein Pferd unermüdlich vorwärts. Es sah aus, als ob kein lebendes Wesen diesem hartnäckigen Jäger entrinnen könne. Gleich darauf schnaubte ein Pferd dicht hinter Vics Rücken. Es stieß einen kurzen, ächzenden Laut aus – wahrscheinlich, als es gerade über einen gefallenen Baumstamm hinwegsetzte – und Vic blickte besorgt nach dem Rappen hinüber. Er hatte Angst, daß das Tier, nach Art der Pferde, mit einem Schnauben oder Wiehern Antwort geben könnte. Aber der Rappe lag ohne Laut. Statt den Kopf zu heben und zu antworten oder Umschau zu halten, duckte er sich mit ausgestrecktem Hals, den Kopf flach auf dem Boden. In dieser Stellung, mit scharf zurückgelegten Ohren, hatte das Tier eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einer Schlange. Auch der Hund rührte sich nicht vom Fleck, sondern drückte sich dichter an die Erde, obwohl er jedesmal, wenn Vic nur eine Bewegung machte, lautlos seine mörderischen Fangzähne entblößte.
»Rechts hinaus, Harry! Rechts hinaus!« Das war die Stimme des Sheriffs! Sie kam schon dünn aus der Ferne herüber, während die letzten Nachzügler des Aufgebots aus dem Waldrand ins Freie fegten. »Johoi! Gus, du nimmst die Schlucht links!«
Zwei laute Zurufe als Antwort, dann verhallten die Hufschläge in der Ferne. Das Aufgebot war dabei, den Fremden einzukreisen. Vic bemühte sich, auf die Füße zu kommen. Er wollte sehen, was vorging. Der Hund stieß einen leisen Laut aus, der Vic veranlaßte, zu ihm hinunterzusehen. Bart lag noch immer, wo er gelegen hatte. Aber er hatte die Beine sprungbereit unter den Körper gezogen, seine Krallen gruben sich tief in den weichen Lehmboden und in seinen Augen loderte eine teuflische Drohung. Unwillkürlich griff Vic nach seinem leeren Pistolenhalfter. Dann ließ er sich resigniert in seine frühere Lage zurückgleiten. Der Wolfshund senkte besänftigt den Kopf auf die Vorderpfoten. So blieb er liegen. Seine Augen schienen jeden Atemzug zu kontrollieren, den Vic tat.
Von den Bergen herüber knatterte, vom Echo verdoppelt, eine Kette von Schüssen, die rasch, aber unregelmäßig, einander folgten. Vic fuhr zusammen. Er hatte die Büchse des Sheriffs herausgehört, deren Klang sich klar und scharf von dem dumpfen Bellen der Revolver abhob.
War der Fremde getroffen worden? Das Feuern wiederholte sich. Diesmal klang es schwächer, hielt aber länger an. Das bewies, daß die Verfolger im Reiten hinter dem Flüchtling herfeuerten. Und dann kam der Augenblick, wo Vic nichts mehr wußte und wahrnehmen konnte, wo die furchtbare Schwäche ihn mehr und mehr überwältigte. Er fühlte, daß seine Besinnung und seine physische Kraft dahinflossen wie ein Strom, einem Meer entgegen, das – wie er wohl wußte – das Meer des Todes war.