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VII. In den Klauen des Mammons

An dem Tage und zu der Stunde, die ihm Hertha angegeben, war Hasso auf dem Bahnhof. Er war in recht aufgeräumter Stimmung. Alles war bisher so nach Wunsch gegangen; er hatte nur Grund zum Danken. Das Herz klopfte ihm vor Freude auf das Wiedersehen mit seiner Schwester.

Der Zug lief ein, doch keine Hertha war mitgekommen. Hasso war recht enttäuscht, aber er sagte sich, die Abreise sei vielleicht durch unvorhergesehene Umstände verzögert worden, und war am nächsten Tage zur selben Stunde auf dem Bahnhof – wieder vergeblich. Nun ward er doch unruhig und telegraphierte an die Eltern. Einen Tag darauf kam die Antwort: »Hertha am 1. Mai abgereist. Ist Telegramm nicht angekommen?« Es war jetzt der 7. Mai. Was hatte das zu bedeuten? Hertha mußte also schon in Konstantinopel sein. Da er die Adresse von Frau Wladimiroff kannte, machte er sich sofort auf den Weg, ging auf der monumentalen Brücke über den Bosporus und fand sich mit Hilfe seiner Karte leicht nach dem am Marmarameer gelegenen Stadtteile Moda zurecht. Nach etwa einstündigem Marsche stand er vor dem bezeichneten Hause, einer Villa am Marmarameer.

Auf den Ton des Messingklopfers öffnete ein schwarzer Diener.

»Ist Frau Wladimiroff zu Hause?« fragte Hasso auf französisch, weil er wußte, daß alle besseren Bediensteten in Konstantinopel etwas Französisch konnten.

»Die Dame wohnt hier nicht«, war die Antwort.

»Ja, wer wohnt denn hier?« rief Hasso ungeduldig.

»Dies ist der Konak von Abdullah-Pascha«, erwiderte der Diener.

»Wohnt die Dame vielleicht in einem anderen Hause dieser Straße?«

»In dieser Straße wohnen überhaupt keine Russen.«

Die Tür fiel ins Schloß und Hasso stand auf der Straße. Eine furchtbare Angst erfüllte sein Herz. Wo war Hertha? Was war das für eine Person, diese Frau Wladimiroff, die eine falsche Adresse angegeben hatte?

In fieberhafter Aufregung trat Hasso den Rückweg an, fuhr in Galata mit der Tunnelbahn nach Pera hinauf und eilte zum deutschen Generalkonsulat. Der Generalkonsul, ein äußerst liebenswürdiger alter Herr, hörte teilnahmsvoll Hassos Bericht und sagte dann:

»Danach scheint es fast, als ob Ihr Fräulein Schwester einer abgefeimten Mädchenhändlerin zum Opfer gefallen ist.«

»Einer Mädchenhändlerin? Das ist ja entsetzlich! Meine arme Schwester! Was ist denn da zu tun?«

»Wir wollen zunächst nach einem Anhaltepunkt suchen«, sagte der Generalkonsul. »Was wissen Sie Näheres über die Person?«

»Sie ist eine Russin und heißt Wladimiroff.«

»Der Name wird wohl eine Fiktion sein. Wissen Sie bestimmt, daß es eine Russin ist?«

»Sie spricht mit deutlich russischem Akzent.«

»Nun, das ist nicht der erste solche Fall. Wir wollen sehen.« Er klingelte und ein Beamter trat ein.

»Bringen Sie mir das Aktenstück über ›Mädchenhändler‹«, befahl er dem Beamten, der bald darauf das Verlangte brachte.

»Sehen Sie, hier ist eine ganze Liste«, sagte der Generalkonsul.

Sie gingen die Namen durch: Kaleidopulos, Itzigsohn, Veilchenblüth, Dimitri, Semenoff, »da ist ja ein russischer Name!«; es kam in der Liste noch ein Name mit russischem Klang, aber nur Semenoff war eine Frau. Die Wohnung war in Gedik-Pascha, einem Stadtteile Stambuls. Hasso schrieb sich Straße und Nummer auf.

»Seien Sie vorsichtig«, riet der alte Herr, »und stellen Sie unverdächtig Nachforschungen durch dritte Personen an. Irgend jemand in Ihrer Bebeker Schule wird Ihnen schon einen Rat geben können; wenn Sie Gewißheit haben, berichten Sie mir wieder.«

Hasso war entlassen und fuhr mit dem nächsten Dampfer nach Bebek zurück. Als er Reschad Bey die Sache erzählte und ihn um seinen Rat gebeten, sagte dieser: »Was Sie in Erfahrung bringen wollen, können Sie nur durch die Juden erkunden; die Polizei ist da machtlos; ich rate Ihnen, unseren alten Juden ins Vertrauen zu ziehen, der jeden Freitag hier die Treppen scheuert und den Hof reinigt; Sie haben ihn sicher schon bemerkt.«

Da der folgende Tag Freitag war, ergab sich ungesucht die Anknüpfung eines Gesprächs. Der Jude, eine hochgewachsene, etwas vornübergebeugte Gestalt mit einem türkischen Fez auf dem Kopfe, mit Namen Benjamin, war einer der vor der Revolution aus Rußland Geflohenen; sein bärtiges Gesicht war tief gefurcht. Man sah ihm an, daß er einst bessere Tage gesehen.

Als er gehört, um was es sich handelte, wiegte er sein graues Haupt bedenklich hin und her: »Is sich böse Geschichte das. Wenn is geschehen eine böse Geschichte, dann heißt es in Rußland: ›Der Jude hat's gemacht.‹ Soll aber böse Geschichte heraus aus dem Kot, dann heißt es wieder: ›Jude hilf.‹« Aus seinen buschigen Augenbrauen schoß er einen forschenden Blick auf Hasso.

»Kennen Sie jemand unter Ihren Volksgenossen, der in Erfahrung bringen kann, ob meine Schwester bei Frau Semenoff ist?« fragte Hasso.

»Der Herr is sich wohl Freund von die arme Jüd?«

»Wie kommen Sie auf die Frage?«

»Is doch gestern gewesen an der Tür von diesem Haus mein Freund Isaak, wo hat gefragt nach den Herrn Grafen.«

»Nach mir gefragt? Was weiß Ihr Freund von mir?«

»Sein Bruder mit seiner Frau ist geflohen nach Berlin und kennt die Familie vom Herrn Grafen.«

»Ist das die alte Sarah mit ihrem Gatten Aron? Den lieben alten Leuten sind wir zu großem Danke verpflichtet.«

»Gesegnet sind die Freunde Israels«, sagte der alte Jude mit einem Aufleuchten in seinen Augen, »denn Israel hilft seinen Freunden in der Not. Isaak ist euch sicher zu jedem Dienst bereit. Er kennt viele Russen, wo sind in diese große Stadt und hat einen kleinen Handel, womit er kann kommen in jedes Haus.«

»Wo wohnt Ihr Freund?«

»In eine der armen Hütten von die russische Jüd in Kassim-Pascha am Goldenen Horn.«

»Lassen Sie uns ihn noch heute aufsuchen«, rief Hasso, »wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Nachdem sie beide vom Direktor Urlaub erbeten, machte sich Hasso mit dem alten Juden auf den Weg. Die Dampferfahrt erschien ihm endlos. Endlich landeten sie an der Galata-Brücke und bestiegen auf der anderen Seite der Brücke einen Goldenen Horn-Dampfer, mit dem sie nach Kassim-Pascha fuhren. Eine steile Straße führte hinauf zu einem Zypressenhain; von ihm ging eine enge schmutzige Straße ab mit niedrigen, baufälligen Bretterhäusern. Eins dieser Häuser war das Ziel ihrer Wanderung.

Auf ihr Klopfen öffnete ihnen ein alter Jude in der üblichen Tracht der Ostjuden. Die Gestalt war vom Leid gebeugt, das Antlitz vom Gram durchfurcht. Aber in den Augen glühte ein Feuer eigener Art. Wer diese Augen gesehen, konnte sie nicht vergessen. Er wußte sofort, wer Hasso war.

»Friede sei mit euch«, sagte er, indem er die Ankömmlinge einlud, auf zwei niedrigen, strohgeflochtenen Sesseln Platz zu nehmen. »Die Freunde Sarahs und Arons sind auch Isaaks Freunde. Welche Befehle hat mein Herr für seinen Knecht?«

Hasso brachte sein Anliegen vor.

»Gottes Zorn komme über das Haus Alexandra Semenoffs, diese Pforte der Hölle. Der alte Isaak hat Augen wie ein Luchs; er wird tun, was er kann.«

Hasso gab dem Alten ein Bild Herthas, das dieser aufmerksam betrachtete.

»Wehe der Taube, wenn sie in den Klauen des Geiers ist«, rief er aus. Dann starrte er vor sich hin, als ob er etwas Furchtbares sähe. Doch bald raffte er sich wieder auf, gab Hasso das Bild zurück und sagte:

»Der David hat gesagt: ›Da dieser Elende rief, half ihm der Herr und errettete ihn aus aller seiner Not.‹ Der Gott Israels wird nicht zugeben, daß der Jungfrau ein Leid geschieht; ich schaue sie im Geist in Freiheit unversehrt. Gott will sie brauchen in seinem Dienst zur Ehre des Rabbi Jeschua ben Joseph, dem sie angehört.«

Das sagte er mit solcher Gewißheit, daß es Hasso war, als ob alle seine Sorgen ihm plötzlich abgenommen waren. Erstaunt sah er den Alten an.

»Glaubt Ihr auch an Jesus?« fragte er.

»Wie wollten wir entfliehen«, sagte der alte Jude, »wenn wir die einzige Rettung verschmähen würden? Die Auserwählten in Israel kennen seinen Namen und warten auf sein zweites Kommen, und der Herr wird versiegeln 144 000 aus Israel, ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn kommt. Doch wehe den Kindern Israels, die ihren König verwerfen.« Wieder starrte er lange vor sich hin und es war, als ob ein Grauen ihn schüttelte.

»Gott sei gelobt, der sich aus Israel ein Volk sammelt in unseren Tagen«, sagte Hasso. »Ich grüße Euch als Bruder im Herrn. Habt Ihr keine Angehörigen? Das Haus sieht so unbewohnt aus.«

»Mein Weib haben sie ermordet und meine Töchter, lieblich wie die Morgenröte, haben sie zu Tode gequält.«

»Wer hat das getan?«

»Solche, die sich nennen Christen, denen ein Priester das Kreuz hat vorangetragen«, sagte der Alte dumpf. »Aber sie wußten nicht, was sie taten. Sie nannten sich nach dem Rabbi Jeschua, aber sie kannten ihn nicht.«

Hasso beugte sich innerlich vor solcher Seelengröße und sagte: »Ich sehe, daß Christi Geist in Euch wohnt. Gott wird alles segnen, was Ihr tut.«

»Nach kurzer Zeit werde ich kommen und bringen Bescheid, was ich erkundet. Euer Tag sei gesegnet.« Damit verabschiedeten sie sich voneinander und Hasso kehrte mit dem alten Benjamin nach Bebek zurück.

Nach zwei Tagen wurde Hasso durch Philipp aus dem Unterricht herausgerufen: »Ein alter Jude wünscht den Herrn Grafen zu sprechen.«

Es war Isaak. Als Hasso ihn hereingeführt, berichtete er, nachdem er sich vorsichtig vergewissert, daß niemand lauschte: »Der alte Isaak hat gefunden die Gräfin in dem Hause Alexandra Semenoffs.«

»Gott sei Dank, daß wir ihre Spur haben. Wie habt Ihr sie gefunden?«

»Die Gräfin war blaß wie eine Lilie. Als sie von mir gekauft hat Knöpfe und Zwirn, hat sie geseufzt.«

»Sind viele Mädchen in dem Hause? Was treiben sie dort? Wie werden sie behandelt?«

»Alle die Mädchen dort werden aufbewahrt für den Verkauf; so hat mir erzählt der Schmul Abrahamsohn, wo wohnt in derselben Straße; und wie die Rosse werden gut gefüttert vor dem Verkauf, so läßt das Weib, was die Alexandra ist, ihnen nichts fehlen in der Nahrung. Die Mädchen, die sind bestimmt für die öffentlichen Häuser, sind oben im Hause alle zusammen in einem großen Saal und müssen machen die Haus- und Gartenarbeit. Die anderen aber, die bestimmt sind für die vornehme Paschas, haben alle ihre feine Zimmer; sie tun nichts als lesen oder sich putzen. Nur die Gräfin muß helfen der Alexandra in der Leitung der Wirtschaft.«

»Was können wir tun, um sie zu befreien?« fragte Hasso.

»Vor allem müßt Ihr lassen bewachen das Haus Alexandra Semenoffs bei Tag und bei Nacht, bis deutsche Botschaft oder griechischer Patriarch sie befreit.«

»Habt Dank, Isaak«, sagte Hasso. Als er ihm aber ein größeres Geldgeschenk anbot, lehnte Isaak es entschieden ab. »Gott soll mich bewahren, daß ich nicht nehme Geld von die Freunde Israels.«

»Wenn ich Euch einmal wieder behilflich sein kann, so soll es mir eine Freude sein«, erwiderte Hasso und reichte dem Alten zum Abschied die Hand.

Sofort nach Beendigung des Unterrichts fuhr Hasso mit Philipp, der sein goldgesticktes Staatsgewand wieder angelegt hatte, nach der Stadt. Dort mietete er einen Wagen; Philipp saß im Bewußtsein seiner Würde mit gekreuzten Armen auf dem Kutscherbock. Sie fuhren zuerst beim Generalkonsulat vor. Der Generalkonsul hörte mit lebhaftem Interesse von dem Stand der Angelegenheit und gab Hasso eine Empfehlung an den Botschafter mit.

Mit etwas bangem Herzen stieg Hasso bei dem prächtig gelegenen Palast der Deutschen Botschaft aus. Als der Portier den Kawassen auf dem Kutscherbock sah, sprang er mit tiefen Bücklingen hinzu und geleitete Hasso hinein. Lange mußte er im Vorzimmer warten; endlich öffnete sich die Tür und der Diener führte ihn in ein Zimmer, in dem ein junger Mann, eine Zigarette in der Hand, ihn in lässiger Haltung empfing.

»Der Herr Botschafter ist nicht zu sprechen und hat mich beauftragt, Sie zu empfangen. Womit können wir Ihnen dienen?« Der junge Mann hatte ein arrogantes, verlebtes Gesicht und drehte nervös an seinem Schnurrbart.

Hasso berichtete über Herthas Gefangenhaltung und sprach die Bitte aus, daß die Botschaft von der türkischen Regierung die sofortige Befreiung Herthas verlangen möge.

»Ich nehme an, daß die Dame vermögend ist?« fragte der Beamte.

»Nein, sie ist auf den Ertrag ihrer Arbeit angewiesen«, erwiderte Hasso, »aber was hat das mit der Sachlage zu tun?«

»Sehr viel«, war die Antwort, »die Botschaft kann sich nur mit Angelegenheiten befassen, bei denen größere Kapitalien in Frage kommen. Sie können doch nicht erwarten, mein Herr, daß wir um irgendwelcher hergelaufenen Hungerleider willen uns in Unannehmlichkeiten mit der türkischen oder, wie in diesem Falle, vielleicht auch noch der russischen Regierung stürzen und dadurch möglicherweise bedeutende finanzielle Interessen Deutschlands aufs Spiel setzen?«

»Ich bitte sehr, mein Herr«, brauste Hasso auf, »ich bin nicht auf die Botschaft gekommen, um mich beleidigen zu lassen. ›Hergelaufene Hungerleider‹ wagen Sie uns zu nennen? Wissen Sie nicht, was unser Name in der Geschichte Deutschlands bedeutet?«

»Sie scheinen fast ein halbes Jahrhundert verschlafen zu haben, mein Herr«, sagte der junge Mann spöttisch, indem er sich erhob, »und noch nicht zu wissen, daß Deutschland eine demokratische Republik ist.«

»In der nur der Götze Mammon auf dem Thron sitzt«, ergänzte Hasso. »Von der Regierung einer solchen Republik haben wir allerdings keine Hilfe zu erwarten.«

Hasso verließ die Botschaft um eine schmerzliche Erkenntnis reicher. Auf der Rückfahrt fielen ihm eine große Reihe Leichentransporte auf; die Priester gingen vor den von Trägern getragenen offenen Särgen her. Wieder einmal hielt eine rätselhafte Seuche ihren Siegeszug durch die Welt. Wieviel solcher Plagen waren doch in den letzten Jahrzehnten schon über die Menschen gekommen! Die Ärzte waren machtlos. Diese letzte war besonders unheimlich. Ähnlich wie die allen Orientkennern bekannte Aleppobeule befiel eine furchtbare entstellende Beule Offb. 16, 2. die Menschen im Gesicht. Nach einigen Tagen zerfiel sie und die Menschen starben an Blutvergiftung. »Ach wenn doch die Menschen erkennen möchten, daß es Gott ist, der sie heimsucht, damit sie ihn suchen und finden möchten! Aber nein! Sie zerbeißen sich eher die Zungen in wahnsinnigen Schmerzen, als daß sie Buße täten vor Gott. Ja, sie lästern ihn angesichts des Todes! Offb. 9, 6. Nach dem Tode soll dann der kirchliche Pomp der Beerdigung alles wieder gut machen!« So dachte Hasso im stillen, während das Geschrei der Klageweiber die Luft erfüllte.

Sie fuhren über die Brücke, quer durch Stambul bis zum Polizeibureau von Gedik-Pascha. Hasso ließ sich bei dem diensthabenden Polizeioffizier melden und trug ihm sein Anliegen vor; dieser nahm sich Zeit, da er merkte, daß es etwas zu gewinnen gab, und ließ nach türkischem Brauche zwei Täßchen türkischen Kaffees kommen. Hasso wußte schon genügend Bescheid mit türkischen Gebräuchen, so daß er in einem günstigen Moment, als der Offizier aufstand, um Zigaretten zu holen, ihm zwei Goldstücke unter die Tasse schob. In liebenswürdigster Weise erklärte nun der Offizier sich zu jeder Hilfe bereit. Er rief vier Polizisten herein und empfahl sie Hasso als absolut zuverlässig.

Hasso beschrieb ihnen das Haus und sagte: »Ihr werdet Tag und Nacht das Haus bewachen und werdet streng darauf halten, daß kein Mädchen aus diesem Hause entfernt wird, bis ich es euch sage.« Dann gab er jedem eine Goldlira. »Effindim«, sagte der älteste von ihnen, »wir sind deine Knechte und werden tun, was du befohlen hast. Nur über unsere Leichen hinweg kann ein Mädchen aus diesem Hause entfernt werden.«

Weiter ging die Fahrt zum griechischen Patriarchat. Durch einen großen Hof wurde Hasso von einem Diener in eleganter Livree in ein Empfangszimmer geführt, in dem die Ölbilder früherer Patriarchen hingen. Weiß überzogene Diwane zogen sich an den Wänden entlang. Priester in ihren langen Gewändern mit den hohen Mützen gingen aus und ein. Nach langem Warten kam ein Diener, verbeugte sich und sagte: »Seine Heiligkeit lassen bitten.« Hasso trat ein in ein großes Arbeitszimmer. Am Schreibtisch saß der Patriarch, ein Greis mit weißem Barte. Eine Fülle von Heiligenbildern in Gold und Emaille hingen auf seiner Brust zum Teil an breiten seidenen Bändern, zum Teil an goldenen Ketten. Als Hasso sich tief verneigt, sagte der Patriarch: »Was ist dein Anliegen, mein Sohn?«

Hasso berichtete abermals über die empörende Freiheitsberaubung.

»Die Schwachen und Verfolgten dürfen gewiß sein, daß das Patriarchat sie schützt in der Gefahr. Notiere, Bruder Wassili, Namen und Wohnung der Angeschuldigten. Wir werden uns nach dem Sachverhalt erkundigen. Nach zwei Tagen darfst du dir Antwort holen, mein Sohn«, sagte der Patriarch mit feierlicher Würde.

Ein Sekretär schrieb, was ihm der Patriarch geheißen. Hasso war entlassen. Er konnte den Tag kaum erwarten vor Ungeduld.

Als er nach zwei Tagen wieder in die Stadt fuhr, fand er die Bevölkerung in lebhafter Erregung. Extrablätter wurden überall mit großem Geschrei angeboten. »Sieg der Revolution in Rußland«, so stand in den mannigfaltigsten Sprachen zu lesen. Hasso erstand ein solches Blatt auf der Brücke. Es enthielt einen ausführlichen Bericht über das Blutbad in Moskau, über den Zusammentritt der revolutionären Sowjets und über die Wahl Ruben Issakjewitschs, der die Seele der Revolution gewesen, zum Präsidenten der Republik Rußland.

So wichtig die Nachricht auch war, sie erregte Hasso nicht sonderlich; er steckte das Blatt in die Tasche. Andere Dinge waren ihm jetzt wichtiger.

Auf dem Patriarchat empfing ihn ein hoher Geistlicher mit den Worten: »Se. Heiligkeit sind beschäftigt und lassen sich entschuldigen.«

»Nun, wie steht denn die Sache?« fragte Hasso ungeduldig.

»Wir haben sofort beim Pfarramt in Gedik-Pascha Erkundigungen eingezogen. Sie haben bestätigt, was Se. Heiligkeit nach seiner persönlichen Bekanntschaft mit Frau Semenoff vermutete. Es muß ein Mißverständnis oder ein Irrtum vorliegen. Die Dame ist eine treue Christin, die große Opfer für die Kirche bringt. Noch vor wenigen Tagen hat sie dem Pfarramt einen großen Betrag eingehändigt. Das Patriarchat sieht sich daher nicht in der Lage, etwas in der Sache zu tun und gibt Ihnen anheim, sich persönlich mit der Dame in Beziehung zu setzen.«

Hasso knirschte mit den Zähnen vor Zorn. »Also auch die Kirche betet hier den Mammonsgötzen an. Das Gericht Gottes wird diese feilen Baalspfaffen treffen!« rief er mit lauter Stimme.

Der Priester sah ihn erschrocken an und bekreuzigte sich dreimal, während Hasso das Gemach verließ.

Niedergeschlagen kehrte er nach Bebek zurück. Da bei Menschen kein Rat zu finden, wandte er sich an den, des Name ist »Wunderbar, Rat, Kraft«. Im Gebet fand er endlich Ruhe. Und diese Ruhe brauchte er, um die Nachricht zu tragen, die ihm am nächsten Tage wurde.

Der alte Isaak kam in großer Aufregung, um Hasso zu sprechen.

»Wehe, wehe«, rief er, »der Satan hat einen großen Zorn. Er macht die Menschen zu wilden Tieren. Er verfinstert die Sonne, und es wird Nacht auf Erden.« Er hob die Arme gen Himmel.

»Was ist geschehen, Isaak?«

»Die Alexandra Semenoff hat verkauft Ihre Schwester.«

»Um Gottes willen, an wen? Wie war das möglich? Haben die Polizisten nicht ihre Schuldigkeit getan?«

»Sie haben ihr die Gräfin wollen entreißen, aber da hat die Alexandra ihnen gegeben jedem zwei Goldlira, und da haben sie gedankt und sind gegangen. Niemand, auch der Schmul Abrahamsohn nicht, weiß, an wen die Gräfin verkauft ist.«

Es waren böse Tage für Hasso, die nun folgten. Bisher hatte er den Eltern immer noch Hoffnung gemacht in seinen Briefen, und diese Hoffnung hatte ihm auch immer wieder Mut gegeben. Nun war alle menschliche Hoffnung dahin. Wieder und wieder bemühte er sich, die schwere Sorge im Glauben auf den Herrn zu werfen. Doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Inbrünstig flehte er um irgendeinen Lichtstrahl.

Da geschah es, daß einer seiner fleißigsten und liebsten Schüler eines Tages völlig versagte. Zerstreut und schläfrig saß er auf seiner Bank.

»Aladdin, das geht nicht so weiter«, sagte Hasso mit ernster Mißbilligung. »Komm nach der Stunde einmal zu mir.«

Aladdin war ein hoch aufgeschossener Mensch von 16 Jahren. Der Fez saß ihm schief auf dem schwarzen Kraushaar, wodurch das Gesicht etwas Verwegenes bekam, was aber seinem vorwiegend sanften Charakter nicht entsprach.

Nach der Stunde stellte er sich ein. »Warum bist du heute so faul und schläfrig«, fragte Hasso. »Schon seit einigen Tagen haben deine Leistungen nachgelassen.«

»Ich bin so müde, denn ich habe nicht geschlafen.«

»Warum hast du nicht geschlafen?«

»Mein Bruder ist krank.« Aladdins Bruder stand als Hauptmann in dem winzigen Heere, das man der Türkei noch gelassen.

»Ja, was hat der mit deinem Schlaf zu tun?«

»Mein Bruder ist sehr krank. Der Schëitan (Satan) hat einen bösen Geist gesandt, der ihm Tag und Nacht keine Ruhe läßt. In der Nacht hat er getobt; wir mußten ihn halten.«

»Was hat denn deinen Bruder so in Aufregung versetzt?«

»Ach, es sind Weibergeschichten, und die erzählt man nicht gerne.«

»Ich habe immer gehört, daß dein Bruder ein ordentlicher Mensch sei; hat er sich denn mit schlechten Weibern eingelassen?«

»Maschallah, Gott sei Dank! das ist ferne von ihm. Aber er hat sich eine zweite Frau genommen.«

»Und ist die Frau nun schlecht zu ihm?«

»Nein, das nicht, aber sie redet nicht mit ihm und will nicht seine Frau sein, und mein Bruder liebt sie doch so sehr.«

»Ja, wie ist sie denn seine Frau geworden?«

»Mein Bruder hat sie gekauft vor einigen [Tagen].«

Hasso stutzte. »Vielleicht versteht sie gar kein Türkisch?« fragte er.

»Nein, kein Wort, sie ist eine Deutsche.«

»Haft du denn nicht mit ihr gesprochen?«

»Ja; zuerst hat Hertha mir nicht antworten wollen; dann aber hat sie gefragt, wie der Ort heißt, wo wir wohnen. Als ich es ihr sagte, hat sie geweint. Dann hat sie mich gefragt, wo ich in die Schule gehe und ob ich das Deutsche in der Schule gelernt. Da habe ich ihr von unseren deutschen Stunden erzählt. Da hat sie noch mehr geweint und hat nicht wieder aufgehört lange Zeit. Die Mutter hat gesagt, das ist Heimweh und hat mir verboten, mit ihr Deutsch zu sprechen, damit sie nicht wieder Heimweh bekommt; eigentlich darf ich auch nicht mehr in den Harem meines Bruders, denn ich bin ja kein Kind mehr. Wenn Machmud es hört, wird er auf mich zornig werden.«

Hasso hatte genug gehört; er entließ den jungen Menschen nach einer kurzen Ermahnung und zog sich in die Stille zurück, um Gott für die Erhörung seines Gebets zu danken.

Nun wußte er, wo Hertha war; wie aber sie von dort befreien?

Mit Gewalt war hier nichts zu machen. Nach türkischen Rechtsbegriffen war Machmud in seinem Recht. Die Polizei hätte sich also nicht auf Hassos Seite gestellt, und da grundlegende mohammedanische Auffassungen in Frage kamen, hätte auch der Zauberschlüssel des Backschischs keine Wirkung gehabt. Noch weniger war von einer persönlichen Rücksprache mit dem liebestollen Türken zu erwarten. Hasso entschloß sich daher, Isaak wieder um Rat zu fragen. Er traf ihn in großer Aufregung in seiner Stube hin und her gehend an. Als Hasso ihn fragte, was ihn so errege, erwiderte er ausweichend: »Mein Herz hängt noch an Rußland. Darum Rußlands Unglück ist auch mein Unglück.«

Hasso erzählte ihm von Herthas Aufenthaltsort und fragte, ob er einen Rat wüßte.

»Gott wird seinem geringen Knechte Kraft und Weisheit geben, daß er die Gräfin befreien kann aus dem Harem von Machmud Bey in weniger als einer Woche«, sagte Isaak nach kurzem Besinnen.

»Wie wollt Ihr das bewerkstelligen?«

»Fraget nicht; ich kann es jetzt noch nicht sagen; Ihr werdet sehen.«

Die Sicherheit, mit der Isaak sprach, gab ihm neue Rätsel auf, und mit widerstreitenden Empfindungen verließ er den Alten.

Zu Hause griff er nach der neuesten Zeitung und las da mit fetter Überschrift: »Bevorstehender Besuch des russischen Präsidenten in Konstantinopel.« In dem Artikel wurde ausgeführt, wie der neue russische Präsident, um die Beziehungen zwischen Rußland und der Türkei zu befestigen, dem Sultan in seiner Hauptstadt einen Besuch abstatten werde. Es war daran die Bemerkung geknüpft: »Es steht zu hoffen, daß die kommunistischen Anschauungen des Präsidenten ihn nicht verleiten werden, die Stellung der Metropole des Welthandels und des Großbankverkehrs anzutasten. Unter dieser Voraussetzung heißen wir ihn willkommen.«

An dem angegebenen Tage hatte Hasso einiges in der Stadt zu besorgen. Er fand die halbe Stadt auf den Beinen. Die Häuser in Pera waren geflaggt mit türkischen und russischen Fahnen und aus den Fenstern hängenden Teppichen. Die Menge bildete Spalier und Hasso konnte nicht weiter vordringen; er mußte notgedrungen auf der Straße warten. Von den Umstehenden hörte er, der Präsident sei mit Gefolge auf einem russischen Kriegsschiffe soeben im Bosporus vor Anker gegangen. Ein Motorboot habe ihn an Land gebracht und nun müßten sie bald hier durchkommen auf dem Wege zur russischen Botschaft. Doch Hasso mußte sich noch recht in der Geduld üben, bis endlich der erwartete Zug von Wagen und Reitern sichtbar wurde.

Voran ritten mehrere türkische Offiziere in Gala-Uniform. Dann kam eine Staatskarosse der Sultane mit feuerrot gekleidetem Kutscher und ebensolchen Dienern. Darin saß ein untersetzter Mann mit glattem Gesicht. Gestalt und Gesichtsform erinnerten an Napoleon I., nur die stärker gebogene Nase zeigte die jüdische Abstammung. Das Antlitz war bleich, und aus den großen Augen brannte ein Feuer – ja, wo war Hasso dieses Feuer schon einmal aufgefallen? –, das dem Gesichte einen unheimlichen Ausdruck gab. Um den Mund spielte ein Zug von Menschenverachtung. Neben ihm saß ein hochgewachsener Herr von gleichfalls jüdischem Typus. Es war Hasso unzweifelhaft, daß der Erstgenannte der Präsident war. Der Präsident grüßte, indem er mit etwas erzwungener Freundlichkeit nach allen Seiten sich verneigte. Es folgten noch mehrere Wagen mit Russen und ein Zug berittener Soldaten machte den Schluß.

In den Zeitungen des nächsten Tages waren spaltenlange Berichte über die Ankunft des Präsidenten. Besonders ein Zwischenfall wurde hervorgehoben, der bei der Abfahrt am Landungsplatz passierte.

»Kaum hatte der Wagen des Präsidenten sich in Bewegung gesetzt, da drängte sich aus der Menge ein alter Jude hervor, trat den Pferden in den Weg, so daß der Kutscher sie kaum zurückzureißen vermochte, erhob die Hände und rief dem Präsidenten zu: ›Halte ein, Unseliger, daß der Fluch Gottes dich nicht treffe.‹ Der Präsident war sichtlich erschrocken, doch als die Polizei den Alten zurückgerissen, nahm die Fahrt ungestört ihren Fortgang. Was dem Vorfall eine besondere Note gibt, ist das Gerücht, daß der Alte ein naher Verwandter des Präsidenten gewesen sei.«

Hasso dachte bei sich: »Isaak wäre auch imstande gewesen, etwas Derartiges zu tun.«


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