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Von den schroffen Abhängen des Karmel erstreckt sich weit nach Südosten die Ebene Merdsch Ibn Amir, in alter Zeit Ebene von Jesreel oder Ebene Esdrelon genannt. Diese, vom hellgrünen Wasser des Kison durchströmte wellige Ebene ist eines der gesegnetsten Gebiete Palästinas. Im Frühling, wenn balsamische Lüfte über sie dahinstreichen, bedeckt sie sich mit einem Teppich der herrlichsten Blumen. Die Getreidearten scheinen hier Wildlinge zu sein, denn ihren Samen braucht keine Menschenhand auszusäen. Ortschaften finden sich nur vereinzelt auf den Anhöhen am Saume der Ebene.
Militärisch ist diese Stätte stets von größter Bedeutung gewesen, denn sie ist der Schlüssel zu Mittel- und Nordpalästina von der Seeseite her. In der trockenen Jahreszeit eignet sich auch kein Gelände Palästinas besser zur Aufnahme einer starken Heeresmacht, zumal da zwei wichtige Straßen sie durchkreuzen, die von Ägypten nach Damaskus und die aus Galiläa über Sichem nach Jerusalem. Der Kison ist dann kaum ein Hindernis, denn er besteht in den regenlosen Monaten im wesentlichen aus einer lückenhaften Kette von Teichen, die von hohem Rohr und Binsen umsäumt sind. Von der jüdischen Richterzeit, von Nebukadnezar und Vespasian an bis zu Napoleon und zum Weltkrieg waren unzählige Kriegsstürme über das Feld dahingebraust. Krieger aus allen Völkern trafen hier zusammen. Juden, Heiden, Sarazenen, christliche Kreuzfahrer und antichristliche Franzosen, Engländer, Ägypter, Perser, Drusen, Türken, Araber und zuletzt auch Deutsche hatten hier ihre Zelte aufgeschlagen und ihre Banner vom Tau des Tabor und des Hermon benetzt gesehen.
In der Mitte der langgestreckten Ebene, am Fuße der Bergkette, unterhalb des Dorfes Ledschun, des alten Megiddo, lagerte seit einer Woche schon wieder ein stattliches Heer. So weit das Auge blickte, dehnte sich die Zeltstadt. Seit einem Tage hatte es ununterbrochen geregnet. Der Seewind vom Mittelmeer hatte immer neue dunkle Wolkenmassen über den grauen winterlichen Himmel gejagt.
Es war am Tage der zuletzt berichteten Ereignisse gegen Abend. Als die kurze Dämmerung dem Abenddunkel gewichen war, verzogen sich die Wolken wieder und der wunderbare Stern verbreitete ein geheimnisvolles sanftes Licht. Hier und da flammten die Lagerfeuer auf. Es war ein internationales Heer, dessen Kern aus den Schutzpolizeitruppen der verschiedenen europäischen Länder zusammengesetzt war; zahlreiche Abenteurer aber hatten sich angeschlossen. Das Oberkommando führte der russische General Boris Stepánowitsch Baránow, den der Weltpräsident dafür bestimmt.
Die deutsche Abteilung des Heeres war am weitesten in die Ebene vorgeschoben und die Vorposten standen nicht weit von dem Binsen- und Rohrdickicht eines der Kisonteiche, die infolge der Regengüsse gewaltig über die Ufer getreten waren.
Zwei Posten stapften mühsam in dem zu Schlamm aufgeweichten Boden, um sich zu erwärmen, denn es war empfindlich kalt. Das Bedürfnis, sich miteinander zu unterhalten, hatte die Entfernung zwischen ihnen immer geringer werden lassen.
»Du Fritze«, sagte der eine, »jejen dir ist doch der Esel 'n Schlaukopp erster Jüte!«
»Wat hast de denn, Ede? Hast woll 'n Vogel in 'n Koppe?«
»Nee, aber uff 'n dümmeren Jedanken konntst de doch nich kommen, als dir für diesen dämlichen Krieg anwerben zu lassen und mir och noch so zu belämmern, det ick mitkam. Wat nützt uns die ville Asche (Geld), wenn wir uns nischt dafor koofen können und uns hier in dem verfluchten Matsch die Beene in den Leib stehen und die Seele aus 'n Leibe frieren müssen.«
»Det kann doch nur noch kurz dauern, Ede! Der verdeubelte Kerl, der Ruben, is ja schon aus Moskau losjeflogen und muß bald ran sein. Denn aber jeht et los und in Jerusalem – weeßt de, da looft mir det Wasser im Maule zusammen – da sind alle die reichen Juden mit alle ihre Schätze, und Mächens haben se, au waih! Da wirst de Oogen machen! Und denn – hier sind wir sicher, hier kann uns nischt passieren. Die Blauen sind uns nicht mehr uff den Fersen – se sind Soldaten wie wir! Hahaha!«
»Nee Fritze, in Berlin war det doch besser. Wenn ein' da mal fror, denn stieg man in 'n Bouillonkeller runter und wärmte sich 'n bissel an, oder man drehte mal wieder 'n Ding und denn lebte man tagelang wie 'n Jraf, oder besser: wie 'n Schieber. Hier aber ist det sehr unjemütlich! Keenen trockenen Faden uff 'm Leibe und de Beene in 'n Schlamm! Wie wollen wir denn da marschieren? Ooch soll det hier gar nich jeheuer sein. Der Diamanten-Karle, weeßte, der von det Scheunenviertel, stand vorgestern hier uff Posten und is seitdem verschwunden, nur sein Jewehr hat man gefunden.«
»Habe nur 'n bissel Jeduld, Ede! Du hast dir doch so druff jefreut, dein Mütchen zu kühlen an die Christen, diese verfluchte Muckerbande.«
»Da hast de recht. Wenn de mir dadran erinnerst, kriege ick neuen Mumm in die Knochen. Diese Frommen sind det einzige Hindernis am Jlück der Menschen. Wie janz anders kennte man det Leben jenießen, wenn diese Bande einem nich die dummen Ideen von Jott und Jewissen injepflanzt hätte.«
Fritz lachte. »Nee, wie du mich aber vorkommst! Is det nich komisch? Du Ede redst von Jott und Jewissen?«
»Ick will davon ebensowenig wissen wie du!« sagte Eduard mit verbissenem Ingrimm. »Aber wenn ick eenen von die Bande sehe, wird det wieder in mich lebendig und ick fürchte mir wie 'n Kind im Dunkeln. Deshalb möchte ick sie vor Wut zerreißen. Weeßt de noch, wie ick vor 3½ Jahren in die Volksversammlung den Pfaffen eins druff jeben wollte und det Mächen traf?«
»Ja und hast de nich jelesen in die ›Rote Fahne‹, det der Statthalter von Palästina eine Jräfin Wildenstein aus Berlin jeheiratet hat? Ick will Mops heeßen, wenn det nich detselbe Mächen von dunnemals is!«
»Der verfluchte Christenhund! In Stücke zerreißen will ick ihn, der unsere Sache verraten hat, und det Mächen, det ihn doch jewiß dazu rumjekriegt hat. Du, Fritze, kieke mal, wat is det Jelbe da mang det Schilf?«
»Et kommt langsam näher. Et wird woll eener von die Schakale sein, die sich hier in der Nacht herumtreiben.«
Immer näher heran kam das gelbe Etwas gekrochen. Jetzt konnte man braune Flecke auf dem Fell unterscheiden. Da, ein Sprung und durch die Luft schoß der Leopard auf Eduard zu. Im Nu hatte er ihn zu Boden geworfen und packte ihn an der Gurgel. Keinen Laut konnte der Überfallene mehr von sich geben. Man hörte nur das Schlürfen des Raubtieres, das das strömende Blut seines Opfers trank.
Fritz aber, von Grauen und Furcht gepackt, ließ seinen Kameraden und seinen Posten im Stich und flüchtete in das Lager zurück.
Währenddessen ging es in einem Offizierszelte hoch her. An einem langen Holztische saßen meist jüngere Offiziere in ihrer blutroten Uniform und zwischen ihnen leichtsinniges Weibervolk, wie es sich überall einzufinden pflegt, wo ein Heer in Ruhe liegt. Um die weißen Schultern waren wertvolle Pelze gelegt. Auf dem Tische stand ein großer Braten und andere Speisen. Der Champagner perlte in den Gläsern. Die roh aufgeschlagenen Bänke standen etwas wackelig auf den Brettern, die man über den schlammigen Fußboden gelegt hatte.
»Hoch lebe Ruben Spaßki, der uns diesen feuchtfröhlichen Feldzug und dieses lustige Weihnachtsfest beschert hat, und nieder mit den Frommen!« rief ein junger Leutnant und erhob seinen Champagnerkelch. Lachend stießen sie an.
»Ja, Sie haben recht, Leutnant Müller«, sagte ein älterer Offizier. »Feucht ist er allerdings und das recht beträchtlich; ich fühle es in allen Gliedern. Wenn wir nur nicht stecken bleiben in dem verfluchten Moder hier! Wie sollen wir denn unsere Artillerie nach Jerusalem schaffen? Und dann so viel hergelaufenes Volk in unserer Truppe, Leute, die nie auch nur hineingerochen hatten in militärische Dinge.«
» Quelles bêtises!«, flötete die üppige Französin, die an der Seite des Hauptmanns saß. » Nous sommes donc [venues] pour baiser et pour aimer. Fi donc, vous êtes un ours allemand!«
Das ließ sich der Hauptmann nicht zweimal sagen. Er legte den Arm um ihre Hüfte und stieß mit ihr an. Der kostbare Pelz aber, der die Schultern verhüllte, glitt zu Boden.
»Herr Hauptmann, Sie vergessen«, sagte Leutnant Müller, »daß Sie uns das lustige Leben hier verdanken, uns unmilitärischen Leuten. Sie konnten der Regierung keine Bedingungen stellen, Sie wurden einfach geschickt und mußten es hinnehmen, wenn man den Offizieren den gleichen Sold wie den Mannschaften zahlte. Wir aber haben die höhere Löhnung der Offiziere zur Bedingung unseres Eintritts gemacht. Auch die Damen wären nicht hier, wenn wir sie nicht bezahlen könnten! Hoch die Damen.« Alle stießen an und die Weiber kreischten.
»Wenn wir aber erst in Jerusalem sind«, rief ein anderer Leutnant, »da wird der Stern dieser Damen erbleichen. Die Juden dort sollen verteufelt schöne Mädels haben.«
»Dann sollen wir wohl abgesetzt werden?« rief ein auffällig gekleidetes Mädchen mit gemeinen Gesichtszügen. »Das lassen wir uns nicht gefallen, lieber zerreißen wir die Judenmädels mit unseren Nägeln und unseren Zähnen!« Die anderen riefen ihr Beifall zu.
»Meine Damen, Sie werden unästhetisch!« sagte ein Major. »Sprechen wir lieber von etwas anderem. Man kann wirklich gespannt sein, wie sich die Landung der Fliegertruppen mit dem Weltpräsidenten abwickeln wird. Es ist ja für alle Fälle vorgesorgt. Für den Fall, daß die Landung im Dunkeln erfolgt, ist der ganze für die Landung bestimmte Platz durch eine Fülle von Posten mit Blendlaternen umgeben, so daß der Platz auch von großer Höhe nicht zu verkennen ist. Und diese neuen geräuschlosen Riesenflugzeuge haben ja eine wunderbare Geschicklichkeit im Landen. Dennoch kann ich mich einer gewissen Sorge nicht erwehren, wenn ich an die Beschaffenheit des Bodens denke.«
»Ja«, bestätigte ein anderer. »Die bisher trockenen Rinnen, die den weichen Boden der Ebene durchfurchen, sind durch den furchtbaren Regen nicht nur mit Wasser gefüllt, sondern so übergelaufen, daß die ganze Niederung in einen Sumpf verwandelt ist. Das habe ich vorhin nach dem Aufhören des Regens feststellen können, als ich die Posten revidierte.«
»Es ist ihm bisher alles gelungen, diesem Teufelskerl, dem Ruben Spaßki«, warf Leutnant Müller dazwischen, »er wird auch jetzt wieder Schwein haben.«
Ein mißtönendes Geschrei ließ die Tafelrunde aufhorchen. Einer der bedienenden Soldaten wurde hinausgeschickt, um zu sehen, was es gäbe. Er kam gleich darauf wieder zurück und berichtete, daß die Raubvögel sich kreischend um die Überreste des Ebers stritten.
»Das ist eine ganz merkwürdige Erscheinung, die ich noch nie beobachtet habe, daß die Geier und Adler noch im Dunkeln ihrem Raube nachgehen«, bemerkte der Major Arendt. »Überhaupt die Tausende und Abertausende von Raubvögeln, die wie auf ein gegebenes Zeichen sich von allen Seiten einfanden, boten doch ein wunderbares Schauspiel. Wer abergläubisch wäre, könnte da auf eigene Gedanken kommen.« Offb. 19, 17. 18.
»Was für Gedanken? Sie machen einen ja ganz graulich!« fragte eins der Mädchen.
»Nun, daß sie sich auf uns als eine willkommene Beute freuen. Sie z. B., mein Fräulein, würden ihnen gewiß einen schmackhaften Weihnachtsbraten abgeben.«
Einige der Mädchen lachten, einige kreischten laut auf vor Angst. Einem der Offiziere machte es Spaß, die Angst der Mädchen noch zu vermehren, und er sagte daher mit künstlichem Ernst:
»Und haben Sie nicht auch die unheilverkündenden Vorzeichen gesehen? Zwei Meteore fielen heute vom Himmel, sobald der Regen aufhörte.«
»Hu, hu! Der Weltuntergang steht bevor!« rief ein anderer, indem er in denselben Ton einstimmte.
»Darum ein Prosit auf den Weltuntergang!« krähte Leutnant Müller vor Vergnügen und die Champagnerkelche erklangen. Das unheimliche Gefühl, das einige beschleichen wollte, löste sich in Ausgelassenheit auf.
Nur ein junger Leutnant stimmte nicht in den Jubel ein. Er saß still am Ende der Tafel und hatte keins dieser Weiber an seiner Seite.
»Nanu, Kamerad Otto, was ist Ihnen denn?«, fragte schon mit lallender Stimme der Hauptmann. »Ihnen verdanken wir doch ein gut Teil unserer Festfreude, denn Sie haben uns den kapitalen Eber geschossen! Ohne Sie hätten wir uns mit dem verfluchten Büchsenfleisch begnügen müssen und nun sitzen Sie da wie ein Häufchen Unglück und blasen Trübsal?«
Der Angeredete sah schweigend vor sich nieder, dann erhob er sich und sagte mit lauter Stimme, vor der aller Lärm verstummte:
»Der Geist, der hier herrscht, ist der großen Sache unwürdig, der wir dienen. Ich habe mich dem Heere angeschlossen, weil hier der Schlußstein eingefügt werden soll in den stolzen Bau, den Ruben Spaßki errichtet. Der letzte Widerstand der Finsterlinge soll gebrochen werden, damit das Friedensreich die ganze Menschheit umfassen soll. Dies ist aber nicht der Geist, mit dem wir der Menschheit dienen.«
»Sie scheinen selber ein Finsterling zu sein, da Sie uns unsere unschuldige Weihnachtsfreude mißgönnen, Herr Leutnant«, schrie der Major.
»Um so lustiger wollen wir sein!« rief Leutnant Müller, indem er sein Mädchen an sich zog, und bald artete das Gelage in eine wüste Orgie aus. Der Leutnant Otto aber erhob sich und verließ die ekle Szene.
Als er aus dem Zelte heraustrat, fiel eine Sternschnuppe und mit ruhiger Majestät leuchtete der Wunderstern. Von den Kisonteichen aber stiegen dichte Nebel auf. Langsam ging er seinem Zelte zu. Seine Gedanken wanderten in seine Jugendzeit zurück. Aufgewachsen in einer Umgebung des Hasses gegen Christentum und Kirche, hatte er sich dennoch einen Sinn bewahrt, der das Große, Edle und das Wohl der Menschheit suchte. In Ruben Spaßki glaubte er sein Ideal gefunden zu haben. Leise Zweifel keimten in seiner Seele.
Langsam mit gesenktem Haupte schritt er seinem Zelte zu und durch seine Seele zog ein Lied von Friedrich Kayßler, das er einst gelernt:
Im Nebel geh ich,
durch Nebel seh ich
die Welt.
Ferne wandert ein Licht
Jahr um Jahr;
klar – wird es nicht!
Wir müssen – und sollen,
wir scheinen zu wissen – scheinen zu wollen
was? – Wohin?
Träumenden Ohren
ging eine Botschaft verloren.
Vor Augen, vom Nebel trüben,
Schwimmt eine Ferne – ein Drüben.
Nur im Herzen der Geist
heimliche Straßen weist –
Durch Nebel ahnt er,
durch Nebel bahnt er
sich Weg und Sinn.
»Fort, fort von hier, wohin es auch sei, dem Lichte nach«, so schrie es in der Seele des jungen Mannes.
In seinem Zelte nahm er einen Rucksack und packte ihn mit Lebensmitteln voll. Dann eilte er von dannen. Bald kam er auf eine Landstraße, auf der er einem unbekannten Ziel zuschritt.
»Ein Deserteur!« sprach er bei sich selbst. »Ob das das Ende meines Weges ist oder ein neuer Anfang? Wer kann es wissen?«
Durch die abendliche Landschaft aber erklang das Geheul der Schakale und das Schreien der Raubvögel.
Während der Leutnant Otto halb träumend in der Richtung nach Südosten schritt, näherten sich von Nordpalästina her eine große Schar gespenstischer Riesenvögel dem Lager des Heeres. Mit lautlosem Flügelschlage zogen sie ihre Bahn. An dem Kopfe jedes Flugzeuges leuchtete ein Sowjetstern. Von den Sternen tasteten Scheinwerfer die Erde ab.
In einem elegant ausgestatteten, angenehm durchwärmten Raum des vordersten Flugzeuges saßen in zwei Korbsesseln der Weltpräsident und in seinem weißen Gewand der Präsident des »Bundes der Menschheitsreligionen«, der falsche Papst Leo XV. Zwischen ihnen stand ein Tisch, auf dem eine Landkarte ausgebreitet lag. Rubens wachsbleiches Antlitz war noch finsterer geworden. Die Augen, die in tiefen Höhlen unter den buschigen Augenbrauen lagen, hatten einen drohenden Ausdruck. Die Lippen waren bleich und schmal.
»Die Landung kann schwierig werden in der Nacht auf unbekanntem Gelände«, sagte er.
»Weshalb haben Sie nicht auf meinen Rat noch einen halben Tag gewartet?« fragte Leo mit lauernder Stimme.
»Weil ich das Heer nicht noch länger warten lassen konnte, nachdem ›Ew. Heiligkeit‹ geruht hatten, mich tagelang warten zu lassen«, erwiderte Ruben mit ironischer Verbindlichkeit.
»Wie ich Ihnen bereits gesagt, war ich eher nicht abkömmlich, da ich den internationalen Freidenkerkongreß in der Peterskirche zu leiten hatte. Er ist das Rückgrat des Bundes der Menschheitsreligionen, und es ist daher von entscheidender Bedeutung für den Weltstaat, daß die alle zwei Jahre stattfindende Tagung so auf der Höhe steht, daß sie die öffentliche Meinung der Völker maßgebend beeinflussen kann. Das war dieses Mal entschieden der Fall. Der ungeheure Raum war voll besetzt; alle Nationen waren vertreten und die Begeisterung für den Kampf gegen die verdummende finstere Macht der ›christlichen Kirchen‹ war allgemein. Die Tagung fand auch überall eine gute Presse.«
»Wichtiger ist mir der entscheidende Schlag, den wir jetzt in Jerusalem gegen die letzten Scharen der christlichen Kirchen und des aufsässigen Judentums zu führen haben. Hier fällt die Entscheidung. Und wahrlich, sie sollen mir büßen, die es wagen, sich dem Weltstaate zu widersetzen, besonders mein sauberer Vetter Joseph.«
Der Präsident hatte sich immer mehr in den Eifer hineingeredet. Die letzten Worte schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Ich fürchte, mit Gewalt werden Sie nicht viel ausrichten«, sagte der falsche Papst. »Immer stärker wächst seit einigen Monaten die Sympathiebewegung mit den Christen an und immer öfter hört man Stimmen, daß die Bekämpfung des Christentums die Menschheit immer schlechter gemacht habe. Man setzt in weiten Kreisen alle Hoffnung für die Gesundung der Verhältnisse auf die Geltendmachung christlicher Grundsätze im öffentlichen Leben.«
»Daß die Hölle sie verschlinge! Wenn ich mit Jerusalem fertig bin und Ihnen den Tempel übergeben habe, dann werde ich diese heimlichen Begünstiger des Rabbis von Nazareth mit Feuer und Schwert ausrotten.«
»Dann könnten Sie wohl fast die Hälfte der Menschheit ausrotten. Nein, das einzige Mittel ist die Aufklärung des Volkes durch Versammlungen, Vorträge und Druckschriften, und das geschieht am besten durch tatkräftige Förderung der Propaganda des Bundes der Menschheitsreligionen und des Freidenkertums. Die Bekämpfung der Feinde der Menschheit muß mit geistigen Mitteln geschehen und da dürfen Sie uns vertrauen!«
»Tun Sie, was Sie können und ich werde kämpfen mit meinen Mitteln. Es ist ein Kampf um die Macht. Er drängt jetzt zur Entscheidung.«
»Sehen Sie dort in der Fahrtrichtung die vielen Sternschnuppen«, sagte Leo ablenkend.
Die Sternschnuppen fielen immer häufiger. Es war vom Flugzeuge aus ein wunderbares Naturschauspiel.
»Wie ein Feigenbaum seine Frucht abwirft, so scheint der Himmel seine Sterne auf die Erde zu schütteln«, Offb. 6, 13. sagte der Präsident mit spöttischem Lächeln. »Es sieht aus wie ein Willkommensgruß des Himmels an uns.«
»Es ist möglicherweise ein Meteorregen!« belehrte der ehemalige Professor. »In einer Gegend Palästinas, in der Ebene des Kison, werden sie um diese Jahreszeit nach dem Einsetzen der Winterregen häufig beobachtet, und die Bibel berichtet, daß ein Meteorregen dort wesentlich beigetragen habe zum Siege der Richterin Debora über den Kanaanitergeneral Sissera. ›Vom Himmel her kämpften die Sterne, von ihren Bahnen aus kämpften sie mit Sissera‹, heißt es im Richterbuche.«
Der Sprechapparat, der die Verbindung mit dem Führer des Flugzeuges herstellte, machte sich bemerkbar. Der Präsident ergriff den Hörer.
»Im Gleitfluge abwärts«, lautete die Meldung.
Sie traten an die Fenster und lugten aufmerksam aus in der Richtung der Fahrt.
»Wo sollen wir eigentlich landen?« fragte Leo.
»Nun, eben an dem Orte, von dem Sie eben erzählten, auf dem historischen Aufmarschgelände der Heere, die gegen Jerusalem ziehen, in der Ebene bei dem alten Megiddo. Sehen Sie da hinten den Nebelstreif? Das muß der Lauf des Kison sein, und dicht daneben die vielen Lichter? Sie künden gewiß das Lager an.«
Der Papst erbleichte und trat einen Schritt zurück: »Megiddo? Das Feld von Harmageddon!« stammelte er.
»Was bedeutet dieser Name?« fragte der Präsident scharf.
»In der Offenbarung Johannis heißt so der Platz der Entscheidungsschlacht zwischen dem Antichristen und Christus.« Offb. 16, 16.
»Nun, wenn ich der Antichrist sein soll«, sagte der Weltpräsident mit ironischem Lächeln, »dann müßten Ew. Heiligkeit ja der ›falsche Prophet‹ der Apokalypse sein. Doch ich verstehe nicht, wie man solche alten abgestandenen Phantastereien ernst nehmen kann. Sind Sie etwa abergläubisch?«
»Durchaus nicht! Aber es ist ein so merkwürdiges Zusammentreffen«, erwiderte Leo gepreßt.
Langsam glitten die Riesenvögel abwärts. Der Papst starrte ängstlich zu Boden.
Plötzlich verzerrte sich das Angesicht des Präsidenten und ein gräßlicher Fluch entrang sich seinen Lippen. Er sah die Strahlen des Wundersterns sich wandeln in zahllose lichte Gestalten und auf einer lichten Wolke thronte des Menschen Sohn, von seiner Krone strahlte der Stern. Offb. 19, 11-16.
Leo XV. erhob den Blick, sah die Erscheinung in den Wolken und taumelte mit dem Aufschrei: »Also doch Christus!« an die Wand.
Der Präsident aber raffte sich zusammen und schrie: »Ein Trugbild der erhitzten Nerven! Der Spuk wird verschwinden. Ich bin Christus!«
Doch die Erscheinung schwand nicht.
Jetzt sahen sie, daß die Sternschnuppen, die sie gesehen, Meteore waren. Immer häufiger fielen die eisernen Feuerkugeln; bald waren sie in einem dichten Meteorregen. In strahlend hellem Glanze lag die Erde unter ihnen.
Da war es, als ob ein Blitz neben ihnen niederfuhr; ein Zittern ging durch das Riesenflugzeug. Ein Meteor hatte eine Tragfläche durchschlagen. Nur wenige Sekunden und das Flugzeug war in Flammen gehüllt.
Prasselnd stürzte es aus mehreren Hundert Metern Höhe nieder mitten zwischen die Zelte, von denen einige in Flammen aufgingen. Offb. 19, 20.; Dan. 7, 11. 12. Die übrigen Flugzeuge gerieten in Verwirrung, als sie das Flugzeug des Präsidenten abstürzen sahen. Eins eilte beim Gewahrwerden der Flammen herbei, fing selber Feuer und stürzte brennend mit in die Tiefe.
Im Lager lief alles durcheinander.
Als die Posten in der Ferne die Scheinwerfer der Riesenflugzeuge bemerkt hatten, war der General Boris Stepánowitsch Baránow verständigt worden.
Von einem Weihnachtsfestschmause aus gab er den Alarmbefehl. Halb oder ganz trunkene Gestalten taumelten von allen Seiten herbei. Der General bestieg sein Pferd und ritt fluchend durch das Lager. Als er den Abschnitt der deutschen Truppen durchquerte, kam er an einem verbrannten Zelte vorüber. Ein Meteor hatte eingeschlagen und man sah angekohlte Leichen von Männern und Frauen in wüstem Durcheinander. An einzelnen Uniformstücken erkannte man, daß es ein Offizierszelt war. Der Meteorregen wurde immer dichter, taghell war die Gegend erleuchtet. Eine nervöse Angst jagte die schwankenden Gestalten hin und her.
Da sahen sie, zuerst einzelne, dann einer nach dem anderen, endlich alle die furchtbare Himmelserscheinung. Kein Befehl wurde mehr vernommen, geschweige denn befolgt. Die meisten befiel ein lähmendes Entsetzen. Der General eilte in das Zelt der Generalintendantur und forderte die Heereskasse. Es gab ein Ringen mit dem Generalzahlmeister, in dessen Verlauf dieser erschossen wurde. Der General aber eilte mit der Kasse den Berg hinauf und versteckte sich in ein Felsenloch. Die Besonneneren und Beherzteren der Führer suchten irgendein Versteck, wo sie sich mit allem Wertvollen, was sie besaßen oder erraffen konnten, verbargen. Jes. 2, 19-21; Offb. 6, 15-17. Als eine Erlösung wäre es ihnen erschienen, wenn die Felsen über ihnen eingestürzt wären, um sie zu retten vor dem Zorne des Herrn aller Herren. Näher und näher kamen die Flieger.
Da stürzten zwei wie rauchende Feuerbrände in das Lager. Weil die um die geplante Landungsstelle aufgestellten Posten ihren Platz verlassen hatten, war diese nicht gekennzeichnet, und die übrigen Flugzeuge landeten, wo ihnen ein ebener Platz zu sein schien. Dieser Platz aber, den sie sich wählten, war völlig versumpft, so daß die Flugzeuge sich beim Landen überschlugen und zerschellten. Nur eins blieb unversehrt. Viele Insassen waren tot. Bei der allgemeinen Angst und Unruhe kümmerte sich niemand um die Verletzten.
Dennoch verbreitete sich bald die Schreckenskunde: »Der Weltbundpräsident und der Papst Leo XV. sind tot.«
Eine entsetzliche Verzweiflung packte das Heer.
Die Verzweiflung schlug um in Wut, die sich zuerst gegen die Überlebenden von der Begleitung des Präsidenten wandte. Sie wurden schonungslos getötet. Dann holte man den General und die hohen Offiziere aus ihren Verstecken hervor und schlug sie mit Gewehrkolben nieder. Immer noch stand die furchtbare Erscheinung am Himmel.
Da war's plötzlich, als ob eine Stimme erklang, wie die einer gewaltigen Posaune, die alle erschauern ließ bis ins innerste Mark:
»Gehet von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!«
Wut und Verzweiflung der Unseligen ließ sie sich gegeneinander wenden.
»Du warst es, der mich verleitete, mitzugehen«, hörte man einen rufen; ein Schuß mit dem Revolver und der andere sank zu Boden. »Du hast den Glauben mir aus dem Herzen gespottet, nun bin ich ewig verloren, nimm das zum Lohn«, und mit gespaltenem Schädel sank der Angeredete zu Boden.
Bald war das ganze Heer aufgelöst in ringende, kämpfende Gruppen. Sach. 14, 13. Am schlimmsten erging es den Überläufern aus Jerusalem. Sie hatten keine Waffen. Darum erwürgten sie sich mit ihren Händen und verbissen sich ineinander mit ihren Zähnen. Das grausame Morden dauerte die ganze Nacht hindurch, bis die Morgenröte anbrach. Das Sumpfwasser rötete sich vom Blute und das Wasser des Kison wälzte zahllose verstümmelte Leichen dem Meere zu, wie einst nach der siegreichen Schlacht des Barak und der Deborah. »Der Bach Kison riß sie fort, der Bach der Schlachten, der Bach Kison.« Richt. 5, 21.
Die aufgehende Sonne sandte ihre ersten zuckenden Strahlen über ein grausiges Totenfeld. Über den Leichen aber saßen Tausende und Abertausende von Adlern und Geiern und hielten ihr schauriges Weihnachtsfestmahl. Offb. 19, 21; 17, 14.
*
Am Morgen des 24. Dezember saß in seiner Wohnung in der Alvenslebenstraße zu Berlin ein älteres Ehepaar beim Kaffee.
»Gar kein Weihnachtswetter heute!« sagte der Ehemann, indem er sich eine Schrippe mit Butter bestrich. Den Falten des gutmütigen bartlosen Gesichts sah man an, daß er gewöhnt war, alles mit lächelnder Miene zu sagen.
»Ach wenn es nur das Wetter wäre, Anton, aber es ist auch nirgends die rechte Stimmung«, erwiderte die Frau, eine würdige Matrone mit glattgescheiteltem grauem Haar.
»Kein Wunder, nachdem man gerade die Besten durch Hunger und Erschießen beseitigt hat. Man sieht auch gar nichts Erfreuliches mehr im öffentlichen Leben. Die rohesten und gewalttätigsten Menschen geben überall den Ton an. Das kann ich in den Büros der Regierung täglich erleben.«
»Und doch können wir Gott dankbar sein, daß er uns bisher so gnädig behütet hat; obwohl wir doch auch Christen sind, hast du dein Amt bisher noch immer behalten.«
»Ja«, erwiderte der Regierungs-Obersekretär mit pfiffigem Gesichtsausdruck. »Wir haben aber auch nach dem Wort gehandelt: ›Seid klug wie die Schlangen.‹ Ich glaube, daß niemand von meinen Kollegen ahnt, daß wir Christen sind.«
»Und hier im Hause hat auch niemand es bemerkt. Die Hauptsache ist doch immer die Gesinnung, daß man christlich denkt und handelt. Ob man nun ein Kreuz oder ein Weltbundabzeichen sich anheftet, das ist doch nur äußerlich. Gott sieht ja das Herz an.«
»Das meine ich auch, Frauchen. Gott weiß doch, was wir im stillen an unseren Glaubensbrüdern getan. Gott wird auch uns heimliche Christen nicht verwerfen.«
»Wo mag nur unser Herr Werner bleiben?« unterbrach die Frau ihren Gatten. »Er ist doch sonst der Früheste auf.«
»Er ist doch zu unvorsichtig, der gute Bruder. Ich habe oft Sorge, daß er sich und uns ins Unglück stürzt! Aber ich mochte ihm immer noch nicht kündigen, denn wir haben doch immer so viel Segen von seinen Andachten. Und wo sollte der arme Mann hin? Wer nimmt ihn, wo die Polizei ihm so auf den Fersen ist? Ich will ihn wecken, damit er uns doch noch die Andacht hält, ehe ich ins Büro gehe.« Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich.
Nach wenigen Augenblicken kehrte er wieder zurück.
»Er antwortet gar nicht, wenn man klopft, und man kann die Tür nicht öffnen, da er sich ja stets einschließt.«
»Hoffentlich ist ihm nichts passiert, wir wollen noch einmal gemeinsam versuchen«, sagte die Gattin.
Aber auch auf das vereinte Pochen und Rufen des Ehepaares öffnete Fritz Werner nicht.
»Dann müssen wir den Schlosser holen«, entschied der Gatte.
Er machte sich selbst auf den Weg und kam bald mit dem Schlosser wieder. Gespannt warteten die Eheleute, bis der Schlosser die Tür geöffnet. Es dauerte ziemlich lange, da der Schlüssel von innen steckte.
»Das Zimmer ist ja leer«, rief die Frau entsetzt aus.
»Das Bett ist aber benutzt«, stellte der Gatte fest.
»Und hier liegt seine aufgeschlagene Bibel auf dem Nachttisch.« Sie ergriff die Bibel. »Hier steht das Wort dick unterstrichen: ›In derselbigen Nacht werden zween auf einem Bette liegen, einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden. Zwo werden mahlen miteinander; eine wird angenommen, die andere wird verlassen werden; zween werden auf dem Felde sein; einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden.‹ O Gott! Sollte ...«
»Durch det Fenster kann er nich rausjemacht sind«, sagte der Schlosser, indem er herausschaute, »denn et jeht ja hier gar keene Dachrinne runter, und die vier Stock hoch runter springen, det wär' ihm wohl schlecht bekommen. Det is ja janz unbejreiflich!«
Der Schlosser ging, nachdem er sein Geld erhalten.
Kaum war er fort, so sank Frau Schulze in einen Sessel, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und weinte bitterlich.
»Es ist gekommen, wie Herr Werner immer gesagt! Der Herr hat seine treuen Jünger von dieser Erde entrückt und wir sind zurückgeblieben. Für uns ist der Hochzeitssaal geschlossen.« Nur mühsam und stockend brachte sie die Worte hervor.
Der Regierungs-Obersekretär war vor Schrecken zuerst nicht fähig, etwas zu sagen. Dann suchte er seine Frau zu beruhigen: »Es kann sich vielleicht noch anders aufklären; wir wollen doch nicht gleich das Schlimmste annehmen. Ich muß jetzt ins Büro. Komm mit mir und fahre dann ein Stück weiter bis zur Rosenthalerstraße und erzähle es seinen Eltern. Vielleicht haben die eine Ahnung.«
Doch Herr Schulze glaubte eigentlich selbst nicht an diese Möglichkeit.
In großer Aufregung machte sich das Ehepaar auf den Weg und bestieg in der Potsdamer Straße die elektrische Straßenbahn.
In der Nähe des Kastanienwäldchens, wo das Finanzministerium liegt, stieg Herr Schulze aus.
»Wir haben heute nur bis 12 Dienst, da wir alle an einer großen Demonstration im Lustgarten teilnehmen müssen«, sagte er, indem er seiner Gattin die Hand reichte.
Frau Schulze fuhr weiter bis zum Bahnhof Börse. Von hier ist es nicht mehr weit bis zur Rosenthalerstraße.
An einer Anschlagsäule wurde sie auf zwei große Plakate aufmerksam. Das eine war feuerrot:
»Aufruf an die Bevölkerung.« Der Weltstaat ist bedroht! Arbeiter, Proletarier, laßt euch nicht rauben, was ihr nach jahrzehntelangem Ringen endlich erkämpft. Große Demonstration für den Weltstaat im Lustgarten mittags ½1 Uhr. Erscheint in Massen mit roten Fahnen. Die kommunistische Regierung. |
Das andere war schwarz mit weißen Buchstaben:
Auf zum Kampfe für die Freiheit!
Wir brauchen keine Regierung!
Große Demonstration für die Freiheit auf dem Bülowplatz mittags ½1 Uhr. Erscheint mit schwarzen Fahnen in Massen. Demonstrationszug durch die Stadt. »Nieder mit der Knechtschaft und Gewaltherrschaft.«
Der Vorstand der Anarchistischen Partei
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»Das wird ja ein schrecklicher Heiliger Abend werden«, dachte Frau Schulze, als sie weiterging.
Im Wernerschen Laden fand sie Herrn Werner.
»Sie wünschen, Madameken?« fragte er höflich.
»Sind Sie Herr Werner, der Vater von Herrn Fritz Werner?«
»Der bin ick. Und mit wem habe ick die Ehre?«
»Ich bin Frau Schulze aus der Alvenslebenstraße 11, bei der Ihr Sohn [Fritz] wohnt.«
An Herrn Werners Schläfe schwoll eine Ader dick an.
»Endlich höre ick, wo der Bengel sich uffhält. Det is man jut«, sagte er höhnisch, »schon lange habe ick dadruff jelauert, um det saubere Früchtchen die Polizei zu überjeben. Hochverräter jejen den Staat! Man kam ja selber dadurch in 'n üblet Jerücht. Na warte man, du hast mir die längste Zeit Streiche jemacht.«
»Aber Herr Werner, ich wollte Ihnen ja nur erzählen ...« Doch Werner ließ sie nicht ausreden.
»Eenen Momang, Madameken.« Damit eilte er in ein Nebengemach und Frau Schulze hörte, wie er das Telephon ankurbelte und sich mit der Kriminalpolizei verbinden ließ. Sie eilte hinaus und ging die Haustreppe hinauf.
»Ich will sehen, daß ich seine Mutter finde; die kann doch nicht so garstig sein.«
Im zweiten Stock sah sie den Namen auf dem Türschild und klingelte. Frau Werner öffnete selbst. Als sie sich vorgestellt, führte Frau Werner sie in die Wohnstube und hörte unter vielen Ausrufen des Schreckens den Bericht.
»Soll ick denn keen Kind behalten?« schluchzte sie. »Elsbeth krank un so weit von hier, in Jerusalem; un nu der Junge! Wat kann nur mit ihm los sin? Ick weeß nischt nich von ihm. Habe ihn schon so lange nich mehr jesehn. Mein Oller is ja so argwöhnisch, belauert jeden meiner Wege, sagt mir fast jeden Tag: ›Du [steckst] ja mit dem Hochverräter unter eene Decke.‹«
Frau Schulze erzählte von Fritz' Reden und der aufgeschlagenen Bibelstelle.
»Ach nee, det is ja janz unmöglich! Det is ja der reene Unsinn. Ick habe 'ne jroße Hochachtung vor die Christen – aber det sind ja Märchen und Phantasien. Daran kann doch keen uffjeklärter Mensch nich jlooben.«
»Glauben Sie denn nur, was Sie mit Ihren Augen sehen können?«
»Nee, ick jloobe ooch an den lieben Jott und an Jeister, ooch an Sympathie und Besprechen – aber det hat man doch allens erlebt – aber so wat – nee det is Unsinn.«
»Na Sie werden wohl noch manches erleben, was Sie jetzt für Märchen halten würden.«
»Ach wenn bloß der liebe Jott jeben möchte, det der Junge wiederkäme. Wo kann er nur in aller Welt sint?«
»Er wird beim Herrn sein. Frau Werner, ich glaube bestimmt, der Herr wird bald kommen. Ach, daß er uns dann nicht verurteilen muß! Er hat gesagt: ›Worin ich euch finden werde, wenn ich komme, darin werde ich euch richten.‹ Eins der außerkanonisch überlieferten Jesusworte. Lassen Sie uns Buße tun und beten, damit wir doch nicht ganz verworfen werden!«
Frau Schulze erhob sich und verabschiedete sich. Frau Werner blieb mit ängstlichen Gedanken zurück und versuchte ihr Herz vor Gott auszuschütten. Gegen zwölf Uhr kam ihr Gatte herauf. Sein Gesicht war höhnisch und verschmitzt, doch sagte er nichts.
»Mache dir fertig zu die Demonstration in den Lustjarten«, sagte er mit ungewohnter Freundlichkeit.
Sie legte sich ein großes Tuch um und dann gingen beide miteinander den kurzen Weg. Die Straßen waren voll Menschen.
An der nächsten Straßenecke drängten sich die Menschen um einen Extrablattverkäufer. Frau Werner las die Überschrift: » Rätselhaftes Verschwinden vieler Menschen! Massenselbstmord der Christen?«
Frau Werner kaufte ein Blatt und steckte es in ihre Tasche, sagte aber nichts zu ihrem Gatten. Werner schien sich nicht dafür zu interessieren, sondern sagte nur: »Immer wieder die verfluchten Christen. Die halten die janze Welt in Atem!«
Ehe sie zu der Spreebrücke kamen, die nach dem Lustgarten zu führt, gerieten sie in einen Menschenstrom, der sie mit fortriß. Es war ihnen nicht möglich, sich herauszuwinden, und ehe sie es sich versahen, befanden sie sich auf dem Bülowplatz unter den anarchistischen Demonstranten. Der Redner hatte gerade begonnen. Er erging sich in einer scharfen Kritik der kommunistischen Regierung und der Politik des Weltpräsidenten.
»Es gilt das kostbarste Gut des Menschen, die Freiheit wieder zu erobern, denn ein russisches Knutenregiment war der Inbegriff der ›Segnungen‹, die der Weltstaat, diese Schöpfung der russischen Bolschewisten, uns gebracht hat. Und hinter allem Unheil, hinter aller Zerrüttung unserer Volkswirtschaft steht eine unheilvolle Macht, das sind die Juden. Ruben Spaßki und seine Kreaturen sind lauter Juden. Darum: Nieder mit den Juden‹.« Brausender Beifall unterbrach den Redner. »Wir müssen hierbei unserer bitteren Enttäuschung Ausdruck geben. Am allermeisten haben unter dem Gewaltregiment die Christen gelitten. Wir hatten daher erwartet, daß die Christen sich unseren Bestrebungen anschließen würden. Wir haben sie wieder und wieder gebeten, haben uns zum Teil unter Lebensgefahr in ihre Versammlungen aufnehmen lassen. 2. Petr. 2, 18-20; Judä 11-19. Aber wir haben so gut wie keinen Erfolg gehabt. Immer wieder deckten sie sich hinter dem unmännlichen Grundsatz: ›Jedermann sei untertan der Obrigkeit.‹ Ja noch mehr! Seit einiger Zeit müssen wir sehen, seitdem dem Weltstaate selber die Judenwirtschaft zu toll zu werden scheint, daß Christen und Juden sich enge verbrüdern und für einander einstehen. Die Christen sind ebensolche Feinde unserer revolutionären und antisemitischen Ziele wie die Juden. Deshalb auch: ›Nieder mit den Christen‹. Also ›Nieder mit der Regierung‹; ›Nieder mit den Juden‹; ›Nieder mit den Christen‹ rufen wir, und nun, Ordner, ordnet den Demonstrationszug.«
Herr Werner hatte schon vorher sein rotes Fähnchen und sein Weltbundabzeichen unbemerkt zu Boden gleiten lassen. Nun mußte er mit seiner Frau im anarchistischen Demonstrationszuge marschieren, ob er wollte oder nicht.
Zur gleichen Zeit war der Regierungs-Obersekretär Schulze ebenfalls unfreiwillig Teilnehmer an der Kundgebung im Lustgarten.
Der dortige Redner wies hin auf den vielleicht schon im Gange befindlichen Kampf um Jerusalem und schilderte die große Gefahr für den Weltstaat aus der Verbindung zwischen Judentum und Christentum zu einer Zeit, wo die anarchistische Partei überall in der Welt mit beispielloser Frechheit ihr Haupt erhebe. Die neueste Stellung des Judentums zum Weltstaat sei vor allem auf christliche Einflüsse zurückzuführen, darum müsse die Losung vor allem heißen: »Nieder mit den Christen.« Während dieser Kampf bisher hauptsächlich von der Regierung geführt worden sei, müsse er jetzt vom Volke, von der Masse aufgenommen werden. Es gelte schonungslose Vernichtung aller offenen und heimlichen Christen und aller derer, die sie im geheimen begünstigen.
Auch hier ordnete sich der Demonstrationszug und setzte sich nach der ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Straße, die jetzt nach Ruben Spaßki genannt war, in Bewegung.
In der Nähe der Marienkirche trafen die beiden Demonstrationszüge aufeinander. Bald waren sie in leidenschaftlichem Handgemenge. Die Straßen röteten sich vom Blut. Handgranaten, Schlagringe, Dolchmesser taten ihr blutiges Werk.
Als einer der Kommunisten Herrn Werner im anarchistischen Zuge sah, schrie er: »Das, du Hund, für deinen Verrat!«
Mit einem Schuß durchs Herz sank Werner zu Boden.
Dieser Kampf war das Signal zum Bürgerkrieg, der sich im Laufe des Nachmittags über die ganze Stadt ausdehnte. Nur wenige Familien in abgelegenen Stadtgegenden konnten ungestört ihre Weihnachtsfeier, wie in anderen Jahren, vorbereiten.
Als abends sämtliche Glocken der Stadt zu den kirchlichen Feiern einluden, die die Protestantische Religionsgesellschaft an Stelle der Christvespern eingerichtet hatte, strömten Scharen geängsteter Menschen in die ehemaligen Gotteshäuser. Die alten Choralmelodien, auf die man freilich jetzt ganz andere Lieder sang, weckten in manchem eine wehmütige Erinnerung an christliche Gedanken und weihnachtliche Empfindungen. Die Predigten, die auf eine Verherrlichung des angeblichen Weltfriedensreiches und ihres Präsidenten hinausliefen, gaben den Menschen Steine statt Brot.
Kaum hatten die Kirchen ihre Pforten wieder geschlossen, da stockte plötzlich auf Augenblicke das pulsierende Leben der Weltstadt. Die Menschen blieben stehen, die elektrischen Bahnen, die Wagen hielten. Es war, wie wenn ein großer Schreck den Herzschlag eines Menschen aussetzen läßt. In sprachlosem Entsetzen starrte alles nach oben und ein Wort entrang sich aller Lippen, ein Wort, das sonst den Menschen Trost und Balsam ins wunde Herz gebracht, das jetzt aber der Inbegriff alles Grauens war: »Christus!«
Die in den Häusern waren, liefen auf die Straße, um die furchtbare Himmelserscheinung zu sehen. Die auf den Straßen waren, stürzten in die Häuser, um sich zu retten. Alles lief durcheinander.
»Die Frommen haben doch recht gehabt! Wir sind verloren, verloren, nun ist es zu spät, zu spät«, so gellten die Verzweiflungsschreie auf den Straßen und in den Häusern.
In schweigender Majestät aber thronte des Menschen Sohn in der Höhe.
Dann lebte der Bürgerkrieg wieder auf, aber nicht mehr zwischen Kommunisten und Anarchisten, nicht mehr gegen Juden und Christen.
Nein, die Christenfeinde zerfleischten sich untereinander. Die Beamten des Staates, die Führer des Kommunismus wurden aus ihren Wohnungen geholt, ihre Leiber von der wütenden Masse zerrissen und zerstampft. Jeder sah in seinem Nachbar und Bekannten die Schuld daran, daß er Christum verworfen hatte. Mit dem Blutvergießen steigerte sich die Wut.
Schlimm erging es besonders den Geistlichen des »Bundes der Menschheitsreligionen«. Wo man ihrer habhaft werden konnte, wurden sie von den rasenden Weibern langsam zu Tode gemartert und ihre Kirchen in Brand gesteckt.
Doch wunderbar war es, daß niemand wagte, einem Christen auch nur ein Haar zu krümmen. Auch alle die, die in der Verfolgung sich der bedrängten Christen liebevoll angenommen, schienen unter besonderem geheimnisvollen Schutze zu stehen. So oft sich eine Hand wider einen von ihnen erhob, sank sie kraftlos wieder nieder. Die Christen wußten es: es war der Schutz der heiligen Engel, die Gott ausgesandt zum Dienst um derer willen, die zwar nicht teilhatten an der Herrlichkeit der Erstlingsschar, an der ersten Auferstehung, die aber doch durch seine Gnade ererben sollten die Seligkeit.
Auch Herr und Frau Schulze, sowie Frau Werner gehörten zu den Geretteten. Sie und unzählige andere knieten still in ihren Wohnungen und beugten sich vor Gott in ernster Buße über ihre Lauheit und Unentschlossenheit.
Das furchtbare Schlachten in den Straßen und Häusern dauerte die ganze Nacht und den ganzen ersten Weihnachtsfeiertag.
Ähnlich wie über Berlin erging das Gericht über die ganze Erde.
»Gleichwie der Blitz leuchtet vom Aufgang bis zum Niedergang, so war die Ankunft des Menschensohnes.«
Es war eine furchtbare Arbeit, die die Zurückgebliebenen zu leisten hatten, die zahllosen Leichen zu beseitigen. Doch was ihnen Kraft und Geduld verlieh, war die Gewißheit, daß nun eine neue Zeit hereingebrochen war, da Christus König sein wird auf Erden.