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Dan. 2, 34. 35. 44. 45; Marc. 4, 26-28.
Es war ein einzigartiger erster Weihnachtsfeiertag, den Jerusalem erlebte. Jeder in der Stadt fühlte, daß ein neues Zeitalter begonnen hatte. Es war ihnen allen, als ob das vergangene Leben wie ein Traum hinter ihnen lag und sie jetzt erst eigentlich anfingen zu leben. Die Furcht war von den Angesichtern gewichen und hatte einer frohen, getrosten Zuversicht Platz gemacht. Man empfand seine Mitmenschen als die Genossen eines gemeinsamen großen Erlebens.
Alle die bekannten heiligen Stätten in und um Jerusalem erschienen wie von einem himmlischen Lichte überwoben.
Joseph und Hertha standen in wortlosem, seligem Glück an einem Fenster des statthalterlichen Palastes und schauten auf die zu ihren Füßen liegende weihnachtliche Stadt. Endlich unterbrach Hertha das Schweigen:
»Liebster, was wird nun werden?«
»Jeschua ist König der Erde, er wird uns seinen Weg zeigen. Wenn die Offenbarung Johannis auch dieses Mal recht behält, so ist es nun mit der Herrschaft des Präsidenten vorbei und ganz neue Gewalten werden auf Erden maßgebend werden.«
Sie traten vom Fenster zurück.
Doch als sie in das Innere des Gemaches blickten, entsetzten sie sich. Im Hintergrunde des Raumes standen zwei leuchtende Gestalten. Josephs und Herthas Augen waren wie geblendet. Erst nach einer Weile vermochten sie die Umrisse der Gestalten zu erkennen. Es waren – Herthas Eltern! Ihre verklärten Angesichter zeigten keine Spuren der ausgestandenen Leiden mehr, ihre weißen Gewänder schienen wie aus Lichtstrahlen gewebt. 1. Thess. 4, 13-17.
»Der Herr ist mit euch«, sagte Herthas Vater.
»Wir segnen euch, die ihr vom Hause des Herrn seid«, so grüßte Herthas Mutter das junge Paar, indem sie segnend die Hände erhob.
»Fürchtet euch nicht, tretet näher herzu«, ermunterte sie Graf Wildenstein. »Wir kommen als Boten des Königs.« Zaghaft traten sie näher.
»Wir verkünden euch, daß der große Kampf ausgekämpft ist. Der König hat gesiegt auf der ganzen Erde. In Blut und Grauen ist die Macht des Antichristen untergegangen und der bisherige Fürst dieser Welt ist gebunden im Abgrund der Hölle. Offb. 20, 1, 2. Er hat keine Macht mehr über die Menschen. Die Menschenwelt ist nun Gottes Reich und ihr sowie alle Gläubigen auf Erden sollen Werkzeuge des Königs sein. Der König erwartet euch heute im Tempel zur Entgegennahme eurer Aufträge.«
»Vater, Mutter«, rief Hertha und wollte sich an ihrer Mutter Brust werfen, doch ein geheimnisvolles Etwas, eine Atmosphäre der Hoheit und Unnahbarkeit schreckte sie zurück.
»Ja, selig seid ihr und heilig«, sagte sie beschämt, »die ihr teilhabt an der ersten Auferstehung, Offb. 20, 6. wir waren nicht bereit und müssen im irdischen Leibe zurückbleiben. Der Hochzeitssaal war uns verschlossen.« Matth. 25, 10. Sie bedeckte ihr Antlitz mit ihren Händen.
»Seid getrost«, sprach die Mutter. »Ihr bleibt auf einer Erde, die Gottes Reich ist, auf der der Satan keine Macht mehr hat. Keine finsteren Geister führen die schwachen Menschen mehr an den Seilen der Lüge in den Abgrund. Nur Jesus, der König, herrscht und wir sind seine Mitregenten.« Offb. 3, 21; 20, 4.
»So werden die Verklärten der ersten Auferstehung, zu denen auch die Entrückten gehören, die neuen Gewalten sein auf der Erde, die überall unter den Völkern in Stadt und Land des Königs Absichten zur Durchführung bringen?« fragte Joseph.
»Du hast recht gesprochen«, sagte der Graf. »Den Menschen sind wir unsichtbar, nur hin und wieder erscheinen wir den Wiedergeborenen, wenn wir ihnen eine Botschaft auszurichten haben. Jeder von uns wird vom König über ein größeres oder kleineres Gebiet gesetzt, je nach unserer Treue im Leibesleben. Lukas 19, 17. 19. Wir haben die Aufgabe, bei allen Zusammenkünften der Menschen die Massenstimmung in gutem göttlichem Sinne zu beeinflussen, gerade wie es bisher die bösen Geister im entgegengesetzten Sinne getan haben.«
»Wenn ich recht verstehe«, erwiderte Joseph, »wird gerade, wie bisher, die Massenstimmung, die öffentliche Meinung, das Mittel sein, durch das der Herr der Erde die Völker regiert, nur daß nun der König des Himmels und nicht mehr der Fürst der Finsternis der Herr der Erde ist?«
»Ja, und der Zeitgeist wird fortan zu allen Zeiten der heilige Geist sein. Wohl haben die Menschen Fleisch und Blut und sind Sünder, wie bisher, aber da des Satans Macht gebunden ist, gibt es keine gottfeindliche ›Welt‹ mehr. Der Sünde fehlen fortan ihre mächtigen Verbündeten, Satan und Welt, die ihr das Übergewicht gaben über den inwendigen Menschen. Doch nun tut, wie euch geheißen. Der Herr wird euch geben, daß ihr viele Frucht bringt und daß eure Frucht bleibe in Ewigkeit.«
Die Erscheinung war verschwunden, Joseph und Hertha waren wieder allein. Sie folgten sofort dem ihnen mitgeteilten Befehl des Königs und eilten zur Stadt.
Die Straßen waren voll von freudig erregten Menschen.
»Heil Jussuf Pascha, unserem Bruder«, riefen viele Stimmen, als sie durch die Via [Dolorosa] gingen.
In der Nähe des Tempels wurde es leerer und immer leerer.
»Gehe nicht zum Tempel, Effendim«, warnte ein alter Jude, der an der Straße saß. »Kein Fuß eines Sterblichen darf ihn betreten.«
»Sei ohne Sorge«, erwiderte Joseph. »Wir kommen auf Befehl des Königs.«
Als sie an der Pforte des äußeren Vorhofs angelangt, stand das Tor nicht offen, wie sonst während des Tages; aber wie von unsichtbaren Händen wurde es geöffnet und ungehindert traten sie ein.
*
Als sie nach einer Stunde etwa den Tempel verließen, war es ihnen, als hätten sie einen großen Teil ihres Lebens dort zugebracht, und von ihren Angesichtern leuchtete ein Licht, so daß die Leute auf der Straße in scheuer Ehrfurcht vor ihnen zurücktraten.
Der alte Jude aber, den sie vorhin gesprochen, erhob sich, als er sie kommen sah und humpelte ihnen entgegen.
»Ihr seid im Tempel gewesen und das Feuer hat euch nicht verzehrt?«
»Nein, wir haben den König gesehen in seiner Schöne!« Jes. 33, 17; Ps. 45.
»Gelobet sei der Gott Israels«, rief der Alte und streckte seine Hände zum Himmel empor, »denn er hat besucht und erlöset die Welt, die gefangen war in den Banden des Satans. Nun kann ich ruhig sterben.«
»Nein, du wirst leben und die Werke des Herrn verkündigen«, sagte Joseph.
Da jauchzte der Alte, warf seine Krücken fort und verschwand unter dem Volke.
Als Joseph und Hertha zu Hause eingetroffen, wartete ihrer ein reiches Maß von Arbeit, denn schon am nächsten Tage sollten sie über Konstantinopel nach Moskau abreisen, wo Joseph als Legat des Königs aller Könige wichtige Aufträge auszurichten hatte. Keine unruhige Spannung war an ihnen zu spüren, wie sonst oft vor wichtigen Entscheidungen oder Veränderungen unseres Lebens. Ein starkes beglückendes Vertrauen erfüllte sie im Blick auf die Zukunft. Jedem Angestellten des Hauses erwiesen sie noch viel Liebe und Freundlichkeit; der Diener Mechmed entschloß sich auf ihre Bitte, sie zu begleiten.
»Effendim«, sagte er bescheiden mit gekreuzten Armen, »ich hänge an dem Saum deines Gewandes und folge dir bis an die Enden der Erde.«
»Wir fahren mit unserem Auto bis ins Tal des Kison. Dort wartet unser ein Flugzeug, mit dem wir nach Moskau reisen sollen«, erwiderte Joseph.
»Wenn wir nur erst wüßten, wer der Luftschiffer ist, den der Herr uns bestimmt hat«, wandte Hertha ein. »Denn von uns weiß doch keiner damit Bescheid.«
»Sei nur getrost! Er, der uns den Befehl gegeben, wird auch dafür sorgen, daß wir ans Ziel kommen!«
Es war ein strahlend heller Morgen, als Joseph und Hertha zu ihrer großen Reise aufbrachen. Die Koffer standen gepackt in der Vorhalle. Die Reisenden hatten soeben durch einen Imbiß sich gestärkt und warteten auf das Auto. Da sahen sie, wie einige Beamte in Uniform mit zwei Torwächtern den Ölberg hinaufkamen. Sie führten gefesselt einen heruntergekommen aussehenden, ermattet hin und her taumelnden Mann in der über und über beschmutzten Uniform der Offiziere des Weltbundheeres.
Sie ließen sich bei Joseph melden.
»Erhabener Pascha«, redete der Sprecher ihn an, indem er sich tief verneigte, »Friede sei mit dir und deinem Hause.«
»Gesegnet sei auch euer Tag, doch bin ich nicht Pascha mehr, sondern euer Bruder«, erwiderte Joseph freundlich. »Was ist es mit diesem Manne, den ihr da bringt?«
»Wir fanden ihn soeben ermattet niedergesunken am Damaskustor. Er gibt an, Offizier aus dem Heere des Weltbundpräsidenten und ein Deutscher zu sein. Wir befürchten, daß er ein Spion des Präsidenten ist, und bitten dich zu bestimmen, was mit ihm geschehen soll.«
»Das Heer des Präsidenten besteht nicht mehr, und der Präsident ist tot«, sagte Joseph. »Von dieser Seite droht uns keine Gefahr mehr.«
Ein freudiges Erstaunen malte sich in den Angesichtern der Männer, denn es war in der Stadt noch keine gewisse Nachricht von dem Schicksal des Heeres eingetroffen. Der Gefangene aber zuckte zusammen und in seinen Zügen sah man die tiefe Erschütterung, die sein Inneres erfaßte.
»Wie kommen Sie nach Jerusalem?« fragte Joseph den Gefesselten.
Dieser raffte sich mit sichtbarer Kraftanstrengung auf, schlug die Hacken zusammen und stellte sich vor:
»Leutnant Otto von der Fliegertruppe des Weltbundheeres, desertiert von der Armee.«
»Hatte die Armee denn auch Flugzeuge bei sich?«
»Nur einige wenige zu Erkundungszwecken.«
»Weshalb sind Sie desertiert?«
»Der Geist unter den Offizieren war so, daß ich es nicht länger aushielt.«
»Sind Sie denn ein Christ?«
»Nein, ich habe noch nie Gelegenheit gehabt, Christen näher kennen zu lernen. Aber nach dem, was ich in dieser Nacht erlebt, weiß ich, daß Christus der neue Herrscher der Erde ist. Ich habe ihn angefleht um Erbarmen und er gab mir Kraft, in ununterbrochenem Eilmarsch Jerusalem zu erreichen. Aber nun ist meine Kraft zu Ende.« Er wankte und wäre gefallen, hätte nicht Joseph ihn gehalten.
»Laßt den Mann hier«, sagte Joseph zu den Beamten. »Ich werde über ihn bestimmen.«
Die Männer verließen den Palast und Leutnant Otto wurde von zwei Dienern hineingeführt. Er wurde auf einen Diwan gelegt und Joseph gab den Befehl, daß das Auto noch einige Stunden warten solle.
Nach zwei Stunden der Ruhe wurde der Leutnant geweckt und nachdem seine Uniform gereinigt, wurde er mit Speise und Trank erquickt. Joseph war innerlich gewiß, daß dieser der ihnen von Gott zugesandte Flugzeugführer war.
»Im Tale von Harmageddon soll sich noch ein Flugzeug befinden. Wir wollen auf ihm nach Moskau reisen, wollen Sie unser Pilot sein?« fragte Joseph.
»Mit Freuden«, erklärte der Leutnant, »bin ich dazu bereit. Ich verstehe mich sowohl auf die gewöhnlichen Flugzeuge, wie wir sie hatten, als auf die neuen Riesenflugzeuge mit geräuschlosem Vogelflug, wie sie der Präsident neuerdings benutzte.«
»Es ist gut. Sie sind uns vom Herrn geschickt. Halten Sie sich bereit, wir werden gleich abfahren.«
Während Hertha und Joseph noch mit dem jungen Mann beteten, war das Auto vorgefahren.
Joseph, Hertha und Leutnant Otto stiegen ein; der Diener Mechmed stieg neben den Chauffeur auf den Führersitz. Das Gepäck war hinten auf dem Wagen verstaut.
Bald lag Jerusalem hinter den Reisenden. Bergauf und bergab ging die Fahrt, an vielen aus der Bibel bekannten Stätten vorüber. Bis sie am Nachmittag in die Ebene von Megiddo einmündeten, ging die Reise leicht vonstatten. Die Chaussee in der Ebene war zwar etwas erhöht, aber die furchtbaren Regengüsse hatten sie an vielen Stellen fast unpassierbar gemacht, so daß sie hier nur mühsam vorwärts kamen.
Endlich trafen sie an der Stätte des grausigen Mordens ein. Es war ein furchtbarer Anblick. Das Fleisch der Gesichter war von den Raubvögeln bis auf den letzten Rest abgefressen, so daß die hohlen Totenschädel sie angrinsten. Auf zahlreichen Leichen saßen noch die Adler und Geier und bemühten sich, mit ihren Schnäbeln Löcher in die Uniformen zu hacken, um an das Fleisch der Körper zu gelangen. Schakale und Hyänen hatten mit mehr Erfolg die Uniformen zerrissen und ganze Stücke Fleisch herausgefetzt. Auch viele Brandspuren waren zu sehen. Und dort auf einem großen Platze staken die Trümmer der zerschellten Flugzeuge im morastigen Boden. Nur ein Flugzeug war unversehrt.
Leutnant Otto, der während der Fahrt geschlafen, sah mit tiefer Erschütterung das furchtbare Schicksal seiner Kameraden und Hertha rief bewegt aus: »Herr, allmächtiger Gott, deine Gerichte sind wahrhaftig und gerecht.«
Mit dankbarem Aufblick zum Herrn besichtigten die Reisenden das wunderschöne Flugzeug und Leutnant Otto überzeugte sich, daß die ganze Maschinerie tadellos erhalten war.
Die Insassen des Flugzeuges lagen erschlagen davor; es war wenig mehr von ihnen übrig. Mit vereinten Kräften gelang es den fünf Personen, das Flugzeug abfahrtbereit zu machen. Das Gepäck wurde in die Kabine überführt und Joseph konnte den Chauffeur mit dem Regierungsauto nach Jerusalem zurückschicken.
Mühelos, mit geräuschlosem Fluge erhob sich der Riesenvogel in die Luft.
Am Morgen nach der zweiten Nacht sahen sie in der Ferne das blaue Band des Bosporus, und als sie näher kamen, war die Bucht von Bebek deutlich zu unterscheiden. Auf der Ebene, zu der die obere Talschlucht von Bebek hinaufführt, in der Nähe einer früher dem Sultan gehörigen Villa, war ein bequemer Landungsplatz. Das Flugzeug war von der Bevölkerung mit lebhafter Spannung beobachtet worden, und so wohnte ein großer Teil der Bewohner von Bebek der Landung bei.
Manche erkannten Hertha, von deren Abreise nach Jerusalem sie gehört.
»Ihr kommt von der Heiligen Stadt?« sagte ein alter Mann mit langem schwarzem Gewande und einem weißen Turban auf dem Kopfe. »O sagt uns von Issa ben Mirjam, dem neuen Herrn der Erde!«
Der Alte war der Mollah des Ortes, ein ehrwürdiger Mann, der immer warm für die Christen eingetreten war und manchen heimlich unterstützt und besucht hatte.
So machte es sich ganz von selbst, daß Joseph der versammelten Menge von den großen Taten Gottes berichtete.
»Dem König der Erde sei Macht und Ruhm und Ehre in Ewigkeit«, ließ sich eine Stimme aus der Menge vernehmen und die Masse wiederholte den Ruf.
Dann legte Leutnant Otto das Flugzeug mittels hilfsbereiter Hände zusammen und brachte es in einem nahegelegenen Schuppen unter.
Joseph ließ ihn einstweilen dort und ging mit Hertha und Mechmed zur Schule hinab.
Schon von ferne hörten sie die Stimmen der Schüler, die sich auf dem Schulhofe ergingen, und bald schauten sie von oben über die hohe Mauer herunter in Hof und Garten. Es war alles unverändert und doch glaubten sie auf den Gesichtern, die sonst meist so düster dreinschauten, den Widerschein eines großen Glückes zu gewahren.
Am Tor saß Philipp und drehte sich wie sonst seine Zigarette.
»Mademoiselle«, sagte er auf französisch, indem er sich erhob und ehrfurchtsvoll verneigte, »die Boten aus Jerusalem sind Bringer einer frohen Kunde.«
Schon hatte Reschad Bey die Ankömmlinge von ferne erblickt und kam freudestrahlend auf sie zu.
»Endlich gewisse Nachricht aus der Heiligen Stadt! Seien Sie uns herzlich willkommen!« sagte er und schüttelte ihnen wieder und wieder die Hände. »Welche gewaltigen Taten und Gerichte des Allmächtigen haben wir alle erlebt!«
»Sie sehen uns als Ehepaar wieder«, sagte Joseph. »Noch kurz vor den großen Ereignissen haben wir unseren Bund geschlossen.«
Für einen Augenblick zog ein Schatten über Herthas Angesicht. Sie dachte der Entrückung der Ihrigen und ihres eigenen Zurückbleibens. Sie wollte nach Hasso und Elpis fragen. Aber sie brachte die Worte nicht heraus.
Reschad Bey führte die Gäste hinauf, während Mechmed bei Philipp blieb. Mit dankbarem Herzen hörte nun der Professor von dem, was im Heiligen Lande zu Weihnachten geschehen.
»Auch bei uns war jener Tag ein Tag furchtbarer Gerichte. Am Morgen schon kam das rätselhafte Verschwinden vieler Christen und an Christus glaubender Juden. Auch Graf Wildenstein mit seiner jungen Frau wurden durch den Herrn hinweggenommen. Wir fanden ihr Zimmer leer. Der Herr hat seine Heiligen zu sich entrückt, wie Asaph, der Prophet, geweissagt: ›Aus Zion bricht an der schöne Glanz Gottes. Unser Gott kommt und schweigt nicht. Fressend Feuer geht vor ihm her, um ihn her ein großes Wetter. Er rufet Himmel und Erde, daß er sein Volk richte: »Versammelt mir meine Heiligen, die den Bund mit mir gemacht!«‹«
»Also auch Hasso und Elpis«, rief Hertha aus und ihre Augen wurden feucht. »Ja, wie konnte es auch anders sein!«
»Die Bevölkerung war rasend aufgeregt an jenem Tage«, fuhr Reschad Bey fort. »Überall in den Bosporusorten rottete sich das Volk auf den Straßen zusammen. Erregte Gruppen wurden handgemein. Da erschien in der neunten Stunde der König aller Könige und Herr aller Herren auf den Wolken des Himmels. Eine rasende Verzweiflung packte die Feinde der Christen. Viele legten Hand an sich, andere stürzten sich in den Bosporus, die anderen töteten sich gegenseitig. Die Hand des Allmächtigen war über den Christen und ihren Freunden. Nur sie blieben übrig. Die Bevölkerung ist wohl auf die Hälfte zusammengeschmolzen. Erst heute sind wir mit dem Aufräumen der Leichen fertig geworden. Wir wissen aber, daß nun das Friedensreich angebrochen, das die Propheten geweissagt und das Mohammed nicht bringen konnte. Nun gilt es den Neuaufbau der Menschheit durch die Kräfte des neuen Reiches. Morgen ist eine große Volksversammlung oben auf dem großen Platze des Robert-College über Rumeli Hissar. Da soll beraten werden, was nun zu tun. Überall in den Bosporusdörfern kommen die Leute heute zusammen zum Gebet für die Versammlung.«
»Der Herr wird die Versammlung zum Segen setzen, das ist mir gewiß. Da ich auch Aufträge des Königs aller Könige habe an das Volk, so werde ich an der Versammlung teilnehmen«, sagte Joseph.
»Es ist eine gnädige Fügung des Herrn, daß er Sie gerade zur rechten Zeit hierher gesandt.«
Am nächsten Tage war es in den Bosporusorten wie bei einer Völkerwanderung. Von Norden und von Süden strömten die Menschen nach Rumeli Hissar und der Bosporus bot ein buntes Bild. Extradampfer fuhren und das Wasser war voll von Barken, die die Bewohner der asiatischen Bosporusorte herüberbrachten. Der Orientale nimmt sich zu allen Dingen Zeit, und so waren viele schon morgens auf dem Wege. Reschad Bey mit seinen Gästen brach um 12 Uhr mittags auf. Von Rumeli Hissar führt ein Weg zwischen hohen Zypressen über einen mohammedanischen Friedhof hinauf. Weiter oben windet er sich zwischen gewaltigen Felsblöcken an der Villa des Direktors vorüber hinauf zur Eingangspforte des Anstaltsgeländes. Die ungeheure Terrasse war schon schwarz von Menschen. Hier ist der Glanzpunkt des Bosporus. Man schaut steil hinunter auf die blaue Flut, südwärts gewährt die weit vorspringende Terrasse einen herrlichen Blick fast bis zum Trümmerfeld der Weltstadt, nordwärts bis zum Genueserschloß vor Anadolu Kavak und gegenüber auf die lange asiatische Küste mit blühenden Orten voll Schlössern und Palästen, überragt von den dahinter aufragenden waldgekrönten Bergen. Wer an dieser Stätte gestanden, kann den Anblick nie vergessen. Zwischen den zwei Flügeln der im Hintergrund der Terrasse liegenden Anstalt ist eine breite Freitreppe. Reschad Bey und seine Begleiter drängten sich mit Mühe bis zur obersten Stufe dieser Treppe durch die Menge. Es mochten wohl über 100 000 Menschen anwesend sein. Sie warteten noch, bis die angesetzte Zeit des Beginns gekommen war. Dann trat Reschad Bey als Einberufer vor und begann zu reden. Laut und vernehmlich schallte seine Stimme über die Versammlung.
Er begann mit den Worten der ersten Sure des Korans:
»Lob und Preis sei Gott, dem Weltenherr, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichts. Dir wollen wir dienen und zu dir wollen wir flehen, auf daß du uns führest den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich freuen, und nicht den Weg derer, über welche du zürnest, und nicht den der Irrenden.«
»Amen, Amen, Amen«, riefen die Massen.
»Das Gericht ist gekommen über die Menschen, die nicht glauben wollten an Issa ben Mirjam, den Gesandten Gottes, und an sein Wort. Als die Stunde des Gerichts schlug, da sind die Frevler verzweifelnd verstummt und ihre Geldgötzen konnten ihnen keine Vermittler sein. Da wurden die Gläubigen von den Ungläubigen getrennt, die guten Willens waren von den Menschen bösen Willens. Für die Gläubigen, die das Gute getan, soll nun die Erde zum Paradiesesgarten werden. Die Ungläubigen aber, die da Böses getan, sind ihrer Strafe überliefert. Lobet daher Gott, lobet den König aller Könige, den neuen Herrn der Erde, lobet ihn, wenn es Abend wird und wenn ihr des Morgens aufsteht! Nach der 30. Sure des Koran. Die Zeit ist gekommen, von der die Propheten geredet haben, das Reich Gottes des Allbarmherzigen hat gesiegt auf der Erde. Die Finsternis ist geflohen, das helle Licht scheinet jetzt. Was bei der Geburt Issa ben Mirjams die Engel gesungen, ist jetzt Wahrheit geworden. ›Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen des Wohlgefallens.‹ Er, der König der Erde, aber wird allem Leid, jeder Not ein Ende machen auf Erden. Durch die Lüfte hat er uns einen seiner Boten gesandt. Jussuf Pascha, der mutige bisherige Statthalter von Jerusalem, wird zu euch reden, er, der dem gottlosen Weltpräsidenten bis zuletzt Trotz geboten.«
»Lang lebe Jussuf Pascha!«, wieder und wieder erklang der Ruf aus dem Volke und Reschad hatte Mühe, die Menge zum Schweigen zu bringen.
Endlich gelang es Joseph, zu Worte zu kommen, und Hertha gedachte mit tiefer Bewegung jener anderen Volksversammlung in Berlin vor fast vier Jahren, wo sie ihn zum erstenmal gehört!
»Der König aller Könige sendet euch seinen Frieden und Segensgruß, meine Brüder«, so begann Joseph. »Ein neues Zeitalter hat begonnen. In Blut und Grauen ist die Macht des Weltpräsidenten in der Ebene von Harmageddon vernichtet. Aber nicht nur über sein Heer, sondern über alle seine Gesinnungsgenossen auf der ganzen Erde ist das Gericht ergangen. Die Feinde des Himmelskönigs, der nun König der Erde ist, sind nicht mehr, so daß nun die Knie aller, die auf Erden sind, sich beugen vor dem Gesalbten Gottes. Und wie die gottfeindliche Welt gerichtet ist, so ist auch in der unsichtbaren Welt die Macht des Scheïtan gebunden in der Hölle; er darf nun nicht mehr verführen die Völker auf Erden. Offb. 20, 3. Das Zeitalter des Friedens und der Gerechtigkeit ist da: das Reich Gottes, unter dessen Schatten die Völker nun glücklich sein werden. Matth. 13, 32. Die politischen und wirtschaftlichen Grenzen der Völker sind gefallen; es gibt nur eine einige Menschheit! Joh. 10, 16. Die Völker bleiben nur als Sprach- und Kulturgebiete, die aber wetteifern werden, mit ihren Gaben und Gütern sich untereinander zu dienen. Jes. 19, 24. 25. Auch die Grenzen der Stände und Klassen sind gefallen. Der Wert der Menschen wird fortan nur gemessen nach der Treue, mit der sie der Menschheit und ihrem Könige dienen. Da so die Scheidewände in der Menschheit gefallen, ist auch jeder Grund zu Kampf und Zwietracht geschwunden. Die Menschheit ist fortan ein einig Volk von Brüdern. Wir brauchen keines menschlichen Staates mehr; der Traum der Anarchisten ist erfüllt. Auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiete herrschen nur der König aller Könige und die ihm zu Gebote stehenden geistigen Mächte über uns. Die vom neuen Zeitgeist, dem heiligen Geiste, geleiteten Versammlungen des Volkes wählen Vertrauensmänner, die die Weisungen des Herrn der Erde verwirklichen werden. Er verfügt über allen Grund und Boden, über alle Produktionsmittel und Produkte der Erde und Industrie, die nicht mehr einzelnen Menschen, sondern der ganzen Menschheit gehören. Auch die Ideale des Sozialismus und Kommunismus werden dadurch verwirklicht. Da keine Zoll- und Wirtschaftsgrenzen mehr bestehen, kann er dafür sorgen, daß kein Land und kein Stand Not leidet, daß die Gesamtproduktion der Erde gerecht auf die Länder verteilt wird. Jes. 11, 4; 25, 4-9; 29, 19. 20; Micha 4, 3. 4; Sach. 3, 10. Das Einkommen jedes Menschen wird nach dem Wert seiner Arbeit bemessen. Die Herrschaft des Geldes ist zu Ende. Das Geld ist fortan keine Ware mehr, sondern nur ein Tauschmittel, das eine beschränkte Zeit hindurch gültig bleibt. Das neue Geld wird eine Werteinheit sein, die einem bestimmten Maße von Arbeit entspricht. Dieses Geld wird nie mehr ein Herr der Menschen werden können, da es nicht aufgehäuft werden kann. Wer nicht mehr arbeiten kann, wird in Anstalten versorgt. Niemand kann mehr Not leiden, sondern jeder wird sein reichliches Auskommen haben. Die Produktion der Erde genügt völlig dazu; die bisherige Not hatte ihren Grund darin, daß die finstere Macht des Feindes der Menschheit die Verteilung der Güter vollzog in einer Weise, die seinen Interessen entsprach. Nun ist der neue Herr der Erde auch der Herr über die Güter der Erde. Regierungen wie bisher wird es nicht mehr geben. Nur dreierlei Behörden werden aus Vertrauensmännern des Volkes gebildet, die auch zugleich Vertrauensmänner des Königs aller Könige sind. Kommt doch erst jetzt das Sprichwort zur Geltung: ›Des Volkes Stimme ist Gottes Stimme.‹ Da wird es Wirtschaftsbehörden geben, die dafür sorgen, daß die Produkte der Erde in der richtigen Menge an die rechten Stellen geleitet werden. Darum wird auch das ganze Verkehrswesen in ihre Hände gelegt. Sie sind dafür verantwortlich, daß jeder den ihm zukommenden Anteil von den Produkten der Erde und Industrie erhält. Nur die Faulen werden durch Entbehrungen zur Arbeit gezwungen. Da gibt es ferner Kulturbehörden, die dafür sorgen, daß die Kulturgüter der Menschheit jedem nach dem Maße seiner Gaben zur Verfügung stehen und nicht das Vorrecht Einzelner oder einzelner Klassen werden. Das wird auch mitbestimmend sein für die Bemessung der Arbeitszeit. Gewisse ungelernte Arbeiten, die niemand ohne Not sich zum Lebensberuf wählen würde, werden in einer zweijährigen Dienstzeit von allen Menschen gleichmäßig besorgt. Endlich wird es Ordnungsbehörden geben, die dafür sorgen, daß alles ordentlich zugeht. Wer die Freiheit nicht ertragen kann, Unheil stiftet, den göttlichen Geboten und damit den Interessen der Menschheit zuwiderhandelt, wird in Anstaltsbehandlung genommen und erst nach völliger geistlicher Genesung wieder entlassen. Da die Menschheit Reich Gottes ist, bedarf es fortan keiner besonderen religiösen Gemeinden oder religiöser Behörden. Die Ortsgemeinden sind auch Gesinnungsgemeinden und die Verkündung des Wortes Gottes sowie die gemeinsame Anbetung ist als Menschheitssache auch jeder Ortsgemeinde befohlen. Alle aus dem Geiste wiedergeborenen Kinder Gottes werden als Priester einstehen für die übrigen Menschen. Eine Zeit der Mission ohnegleichen wird beginnen. Mission in anderem Sinne als früher! Nicht eine fremde Botschaft aus fernen Landen wird zu den bisher heidnischen Völkern dringen, sondern die Mission wird nichts anders sein als die mit Jauchzen aufgenommene Deutung des großen gemeinsamen Erlebens aller Völker in dieser letzten Zeit. Im Geiste höre ich schon, wie Lobgesänge erklingen von den Enden der Erde zu Ehren des Gerechten, Issa ben Mirjams, des Königs aller Könige, des Herrn der Erde! Zu ihm schauen wir auf, ihm huldigen wir, ihn beten wir an in dieser feierlichen Stunde!«
»Gelobt sei Issa ben Mirjam, der Herr der Erde!« riefen erst einzelne Stimmen. Dann nahm die ganze Versammlung den Ruf auf, der brausend gen Himmel schallte.
»Und nun, meine Brüder und Schwestern«, rief Joseph, als es wieder still geworden. »Wen wählt ihr als euren Vertrauensmann, der mit Hilfe gläubiger Menschen die neue Ordnung der Dinge in die Wege leitet?«
»Reschad Bey, Reschad Bey wollen wir«, klang es von Tausenden von Lippen, »Reschad Bey, den Gesegneten Allahs.«
»In eurem Ruf höre ich den Ruf des Königs aller Könige«, sagte Reschad, »und beuge mich unter seinen Willen. Doch ich bitte euch, mir Männer zur Seite zu stellen, mit denen ich das große Werk ausführen kann.«
Ein atemloses Schweigen der hunderttausendköpfigen Menge war die Antwort. Es war, als spüre man den Einfluß der neuen geistigen Mächte, die den Blick der Menge auf die rechten Persönlichkeiten lenken wollten. Dann wurden Namen genannt. Es waren bisherige Christen, Juden und Mohammedaner, bunt gemischt, aber alles Menschen von tadellosem Rufe, voll Barmherzigkeit und Liebe, voll glänzender Begabung. Die Gewählten wurden von der Menge emporgehoben und über die Köpfe hinweggereicht, bis sie neben Reschad Bey oben auf der Treppe standen. Keiner widersprach, jeder beugte sich unter den Willen des Volkes, in dem er den Willen Gottes erkannte. Dann aber erklang wie ein mächtiges Brausen der Gesang des »La illaha« aus der Menge, doch an Stelle des zweiten Satzes: »und Mohammed ist sein Prophet« ertönten die Worte: »und Issa ben Mirjam ist der König der Erde«.
Ruhig ging die Menge auseinander. Als Reschad Bey und seine Begleiter in der Schule eintrafen, sank die Sonne hinter der oberen Talschlucht von Bebek.
Reschad Bey hatte für die nächsten Tage die erste Zusammenkunft mit seinen Mitarbeitern anberaumt. Joseph und Hertha aber brachen mit ihrem Flugzeug nach Norden auf.
Über Rußland lag schon lange die dichte winterliche Schneedecke. Vor den Toren Moskaus landeten sie auf dem hartgefrorenen Schnee. Durch Telegramme aus Jerusalem war man in Moskau über den Untergang des Weltpräsidenten und seines Heeres unterrichtet, ebenso aus Konstantinopel über die Vorgänge bei Josephs Anwesenheit. Mit Spannung hatte man daher die Ankunft des Flugzeuges erwartet. Feierlich wurde der Gesandte des Königs aller Könige empfangen und in den Kreml geleitet, wo die Gemächer des Weltpräsidenten ihm zur Verfügung gestellt wurden.
Es war, als ob ein schwer lastender Druck vom Volke genommen war mit der Nachricht vom Siege Christi über den Antichristen. Und aus den Tiefen der im Grunde religiösen russischen Volksseele brach es mit elementarer Gewalt hervor. Eine allgemeine Erweckung, wie sie noch niemals zuvor gewesen, setzte ein. Sie kam Joseph für die Durchführung der neuen Grundsätze sehr zustatten, denn die Bevölkerung war nun ganz auf die Gedanken und Ziele des Reiches Gottes eingestellt. Ähnliche Erweckungen gingen durch alle Länder der Christenheit und nach einiger Zeit auch durch die Länder des Islam und der bisherigen Heidenwelt.
Bei seiner Arbeit durfte Joseph erfahren: es kam wirklich alles so, wie ihm vorausgesagt worden war.
Die Menschen waren offen für alle Einwirkungen, die von Gottes Seite kamen. Wohl waren viele noch unverständig und befangen in kleinlichen selbstsüchtigen Erwägungen oder gebunden in ihren bösen Trieben und Leidenschaften – die Menschheit war noch weit davon entfernt, vollkommen zu sein –, aber sowie die Menschen in größerer Zahl zusammenkamen, schlug stets ein Interesse durch, das des Reiches Gottes. Ja, je größer die Zahl der Menschen war, um so deutlicher war der still verborgene Einfluß der »Könige und Priester«, der Erben der ersten Auferstehung, der neuen Herren der Erde, zu spüren. Offb. 20, 4, 6; Dan. 7, 18; Matth. 5, 5. Sie hatten in den Wiedergeborenen ihre Werkzeuge. Oft erschienen sie ihnen sichtbar und unterredeten sich mit ihnen. Ja selbst der Herr offenbarte sich den Seinen zuweilen in sichtbarer Gestalt. Jede Ortsgemeinde, jede Genossenschaft von Mitarbeitern in einer Fabrik oder einem Geschäft wurde zugleich zu einer Gemeinschaft der Anbetung, in der die Wiedergeborenen ihres Priesterdienstes walteten.
Die Sonntage wurden wirklich dem Herrn geweiht. Die Kirchen wurden zu Gemeindehäusern, in denen man Sonntags zu gemeinsamer Erbauung und zu Beratungen über Liebeswerke und Menschheitsziele zusammenkam.
Ein neuer, dritter Teil der Bibel entstand. Er enthielt die Berichte der Augenzeugen über das Heldentum der Märtyrer in der antichristlichen Zeit, die Urkunden der großen Geschehnisse bei dem Völkergericht und der Wiederkunft des Herrn, sowie die Darstellung der Aufrichtung des Reiches Gottes in der Menschheit. Im Völkerleben gab es keine Sonderpolitik der Staaten mehr, weil es überhaupt keine Staaten mehr gab. Darum waren die Kriege, Völkerkriege und Bürgerkriege, nur noch Erinnerungen an vergangene barbarische Zeiten. Jes. 2, 4. 5; Micha 4, 3. Es gab nur noch eine Politik, und das war die Reichsgottespolitik.
Die Arbeit wurde von den meisten nicht widerwillig, sondern freudig geleistet, weil jeder an dem rechten Platze stand, der seinen Gaben und Interessen entsprach. Die Arbeitszeit konnte bedeutend herabgesetzt werden, da durch die immer mehr durchgeführte industrielle Verwertung der Kraft der Sonnenstrahlen ungeheuer viel Menschenkraft gespart wurde. So konnte jeder Mensch in seiner freien Zeit die reichen Kulturgüter der Erde genießen und sich nach den verschiedensten Seiten fortbilden. Die Arbeit geschah nicht mehr unter dem Zwange der Not im Schweiße des Angesichts, sondern wurde immer mehr freies, beglückendes, künstlerisches Schaffen. Die Kunst gelangte zu einer nie geahnten Vollendung, weil sie nicht mehr unter der Tyrannei des Mammons stand und deshalb nicht mehr den niederen Trieben der Menschen Frondienste tat.
Die soziale Gesetzgebung des Alten Testaments, die mit weitem Blicke die Rechte des kleinen Mannes wahrte und gegen die Entstehung von Verarmung und Verelendung Dämme und Gräben zog, kam nun der ganzen Menschheit zugute.
Durch diese ganze Veränderung der Lebensweise, durch die Gesundung der Verhältnisse, durch die Verminderung der Reibungsflächen unter den Menschen und vor allem durch den Segen des Herrn nahm die Lebenskraft und Lebensdauer der Menschen immer mehr zu. Sprüche Sal. 3, 1. 2; 9, 11; 10, 27; 14, 27; Jes. 65, 20-23. Die Zahl der Menschen über 100 Jahren mehrte sich von Jahr zu Jahr und die Statistik ließ mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, daß nach ein bis zwei Jahrhunderten die durchschnittliche Lebensdauer der Menschen zu Abrahams Zeiten wieder erreicht sein würde.
Jedes Jahr einmal wallfahrteten Joseph und Hertha nach Jerusalem, dem neuen Mittelpunkt der Erde. Gesetz und Recht für die Völker ging von der Stadt Gottes aus, wie die Propheten einst geweissagt. Hier griffen Himmel und Erde ineinander. Von hier gingen die Legaten des Königs aller Könige zu den Völkern. Der höchste Wunsch aller Wiedergeborenen war es, Jerusalem und seinen Tempel zu sehen und dort im Tempel gewürdigt zu werden, den König aller Könige in seiner Schönheit und Herrlichkeit zu schauen. Aber auch viele Fernerstehende trieb es nach der Hauptstadt der Erde und mancher wurde dort vom Geist Gottes ergriffen und durfte dann auch als Gotteskind eingehen durch die Tore der Gerechtigkeit. Jes. 2, 2. 3; 4, 1-6; Micha 4, 1-8; Ps. 118, 19. 20.
Eine besondere Freude war es Hertha, die Entwicklung in Deutschland zu verfolgen. Seitdem Deutschland seine reichen Gaben dem König aller Könige zu Füßen gelegt, konnte es in der Reihe der Völker erst wirklich das werden, wozu Gott es bestimmt. Seine Wissenschaft und Kunst wurden in nie geahntem Maße führend unter den Völkern, denn sie waren in den Dienst des Reiches Gottes getreten.
An der Seite ihres Gatten hatte Hertha einen weitreichenden Wirkungskreis. Nachdem sie die russische Sprache erlernt, durfte sie mithelfen an der kulturellen Hebung der russischen Frauenwelt, die die Spuren einer viele Jahrhunderte lang währenden Unterdrückung noch so deutlich an sich trug. Wie in allen anderen Ländern bildete sich auch hier ein ganz neuer Typus von Kultur heraus: eine Durchdringung der literarischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Fähigkeiten des Volkes mit den Kräften des heiligen Geistes.
Ein Kranz blühender Kinder wuchs allmählich um das glückliche Ehepaar empor. Schule und Haus wirkten in der schönsten Weise zusammen. Die Schulerziehung wurde auf einen ganz neuen Boden gestellt. Nicht jeder beliebige junge Mann konnte die Lehrerlaufbahn erwählen. Nein, nur den Edelsten und Besten, die ein reiches Maß von Gottes- und Menschenliebe im Herzen trugen und eine besondere Gabe für die Jugend hatten, wurde dieses Amt angetragen. Sie erhielten dann auf öffentliche Kosten die erforderliche Ausbildung. Lehrer der Jugend zu werden galt als eine besondere Ehre, und mancher, der schon in einem anderen Berufe gestanden, gab seine bisherige Beschäftigung auf, wenn dieser Ruf an ihn erging. Natürlich konnte dieses neue Schulwesen nur ganz allmählich emporwachsen. Im Anfang war man noch meist auf die alten Schulen angewiesen, in denen aber ein neuer Geist sich auch deutlich bemerkbar machte. Je mehr aber die große Erweckungsbewegung in alle Volksschichten durchdrang, um so mehr Männer und Frauen voll heiligen Geistes fanden sich, die dem Erziehungswerk zur Verfügung standen. So gelang es schließlich, dem Pestalozzischen Grundsatze, daß die Liebe die unentbehrlichste Kraft der Erziehung ist, auch im öffentlichen Schulwesen überall Geltung zu verschaffen.
Als die neuen Verhältnisse in Rußland sich befestigt, wurde Joseph nach Jerusalem zurückberufen und ihm die Leitung der zentralen Wirtschaftsbehörde übertragen. Mit Staunen wurde er hier gewahr, wie reich doch unsere Erde ist, wenn ihre reichen Schätze nicht der Willkür und dem Eigennutz preisgegeben werden!
Es wurde ihm klar, daß unsere Erde, wenn alle ihre brach liegenden Ländereien urbar gemacht, Jes. 35, 1. 2; 32, 15. hundertmal mehr Menschen reichlich ernähren kann, als vor dem großen Gericht zu 90 % ärmlich ihr Leben fristeten. Eine nie dagewesene Blütezeit der Technik und Industrie entstand. Mit Hilfe der Kraft der Sonnenstrahlen gelang es immer mehr, die Ödländereien, ja sogar die Wüsten der Kultur zu erschließen. Weil die Menschheit »guten Willens« war, die nationalen und wirtschaftlichen Schranken geschwunden und das Band des Vertrauens und der willigen Unterordnung unter den neuen Herrn der Erde alle Menschen verband, so machte der Austausch der Güter keine großen Schwierigkeiten. Es gab ein reibungsloses Zusammenarbeiten der Unterbehörden in den verschiedenen Sprachgebieten mit der Zentralbehörde in Jerusalem. Und da Joseph stets Zutritt hatte zu dem König aller Könige, so war er um die rechten Maßregeln nie verlegen.
Joseph und Hertha erreichten ein hohes Alter und durften erleben, daß ihre Kinder und Enkelkinder im Dienste des Messias zum Segen der Menschheit wirkten. Wie träumend wurden sie schließlich am selben Tage versetzt in die obere Schar, die Schar der Auferstandenen, so daß sie nun in noch ganz anderer Weise dem Herrn dienen konnten.
Die Entwicklung der Menschheit aber stieg im Laufe der Jahrhunderte immer weiter empor. Erst seit der Wiederkunft Christi konnte man mit Recht von einem regelmäßigen Fortschritte reden, von dem die Menschen früher geträumt. Nun erst waren die Hemmungen beseitigt, die ihm sonst immer im Wege gestanden.
Aus den verschüttet gewesenen göttlichen Tiefen der Menschennatur brachen im Laufe der Zeit ganz neue Kräfte hervor. Die technisch-industrielle Naturbewältigung, die ja eigentlich eine Vergewaltigung der Natur ist, trat allmählich immer mehr zurück hinter der dynamischen Naturbeherrschung durch den im göttlichen Willen verankerten Menschenwillen. Der Erstling der neuen Menschheit hatte ja schon in der Zeit seiner Niedrigkeit gezeigt, wozu der Mensch auf diesem Gebiete berufen ist. Die Geister der Krankheiten wichen nach seinem Wort und Willen. Wellen und Sturm gebot er und sie wurden stille. Viele Zeitgenossen hatten damals die richtige Empfindung, daß das nicht Taten eines Einzelnen waren, sondern daß Gott eigentlich den Menschen diese Macht zugedacht hatte. Matth. 9, 8. Nur Vereinzelte freilich waren den Bahnen des Menschensohnes hierin gefolgt. Nun aber nahm die Menschheit in demütigem Glauben auch dieses Erbteil in ihre Hand und willig beugte die niedere Natur sich vor ihrem Herrn.
Ja, es ging wie ein Aufatmen der Erlösung durch die Schöpfung. Hatte sie doch voll Spannung und Sehnsucht gewartet auf die Zeit, da Gottes Kinder sich enthüllen sollten in ihrer ganzen Herrlichkeit. War sie doch bis dahin voller Klageseufzer gewesen und hatte mit Schmerzen einer Neugeburt entgegengeharrt. Nun begann sie freizuwerden von der Knechtschaft des Verderbens und teilzunehmen an jener Freiheit, die den Gotteskindern mit ihrer Verherrlichung geschenkt ward. Röm. 8, 19-22.
So wurde auch das Verhältnis der Menschen zur Tierwelt allmählich ein ganz anderes. In dem Maße, als die Arbeit nicht mehr ein hartes Joch, ein Fluch der Sünde, sondern ein freudiges Entfalten der geistigen und körperlichen Kräfte wurde, bedurfte der Mensch keiner Fleischnahrung mehr. Die Jagd und das grausame Schlachten der Tiere hörte auf, und der Friede, der in der Menschheit lebte, ging auch auf die Tierwelt über. Wie einst des Menschen Sohn in der Wüste unangefochten bei den wilden Tieren gehaust Marc. 1, 13, so empfanden die wilden Tiere jetzt den Menschen nicht mehr als ihren Feind, sondern gehorchten ihm als ihrem Herrn. Jes. 11, 6-9; 65, 25.
So wurde die Erde unter dem Regiment des Friedenskönigs immer mehr zum Paradiese, und es wurde wahr, was der Prophet einst geschaut: Jes. 35
Freuen sollen sich die Wüste und das dürre Land;
die Steppe soll jubeln und aufsprießen wie Krokus!
Üppig soll sie aufsprießen und jubeln,
ja jubeln und jauchzen!
Die Herrlichkeit des Libanon wird ihr geschenkt,
die Pracht des Karmel und der Saronebene.
Denn eben
sie sollen die Herrlichkeit des Herrn schauen,
die Pracht unseres Gottes.
Dann werden sich die Augen der Blinden auftun
und die Ohren der Tauben sich öffnen.
Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch,
und die Zunge des Stummen wird jauchzen,
denn in der Wüste brechen Wasser hervor,
und Bäche in der Steppe,
und die Luftspiegelung wird zur Oase
und das durstige Land zu Wasserquellen.
Die Erlösten des Herrn kehren heim
und kommen nach Zion mit Jauchzen.
Wonne und Freude werden sie erlangen,
Kummer und Seufzen werden entfliehen!
Ja, das Sehnen der Völker war erfüllt,
das goldene Zeitalter der Menschheit war gekommen!