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Acht Tage später traf auf dem südöstlich, außerhalb Jerusalems gelegenen Bahnhofe der Zug ein, in dem auch die Familien Wildenstein und Kahn sich befanden. Die Reise hatte länger als fahrplanmäßig gedauert und war äußerst mühselig gewesen. Das furchtbare Gedränge behinderte die Bewegungsmöglichkeit und die Atmung, so daß Ohnmachtsanfälle häufig eintraten. Dazu kam das fortwährende Schwanken des Erdbodens, das eine Entgleisung des Zuges ständig befürchten ließ. Das Entsetzlichste aber war ein Hagelwetter, wie es noch keiner der Fahrgäste je erlebt. Eisstücke von dem Gewicht einer Kanonenkugel prasselten hernieder, zerstörten die Bäume an der Strecke und beschädigten den Zug. Offb. 16, 21. Einzelne Wagendächer wurden durchschlagen und Passagiere getötet oder verletzt. Auch die Familie Wildenstein war schwer betroffen. Der süße kleine Hasso, die Wonne seiner Eltern, wurde erschlagen. Ein Eisstück zerschmetterte ihm die Hirnschale. Es war eine furchtbare Lage für Elsbeth. Eingepfercht in das überfüllte Abteil, mußte sie stundenlang sitzen mit dem toten Kinde auf dem Schoß, ohne sich rühren zu können, bis der Zug endlich abends in Ikonium hielt. In der asiatischen Türkei fahren die Züge nicht über Nacht; so konnten sie hier endlich aussteigen. Das Kind und mehrere andere Tote wurden ganz in der Frühe auf einem Friedhofe der Stadt beerdigt.
»Er darf den Herrn noch eher schauen als wir«, sagte Arno, als sie zum Bahnhof zurückkehrten, »und bald werden wir ihn beim Herrn wiedersehen!«
Das Licht eines geheimnisvollen Sternes in den Nächten war ihnen ein großer Trost. Sie und alle Gläubigen im Zuge zweifelten nicht daran, daß er das »Zeichen des Menschensohnes« war, von dem die Schrift redet.
Die endliche Ankunft war ihnen eine Erlösung. Es war ein sonniger Tag, wie ein schöner warmer Herbsttag in Deutschland, an dem sie, begleitet von zwei barfüßigen Hamals, hinaufstiegen zu der Heiligen Stadt, die die Stätten der Kreuzigung und Auferstehung des Heilandes barg. Mit heiliger Ehrfurcht betraten sie ihren Boden. Der Weg war weit bis zu der europäischen Vorstadt im Nordwesten, wo sie in einem Hotel eine freilich sehr primitive Unterkunft fanden. Ein Kellner verstand deutsch, so daß die Verständigung keine Schwierigkeiten bot; auch den jiddisch sprechenden Juden gegenüber reichte das Deutsche aus. Die Strapazen der Reise hatten sie so ermüdet, daß sie nach einer Mahlzeit sofort die Ruhe aufsuchten.
Am nächsten Morgen war Herrn Kahns erste Sorge: »Wo finden wir die Gemeinde der Versiegelten?« Keinen besseren Ort für die Nachforschungen könne es geben, als den Tempel. So machten sie sich alle zusammen auf den Weg nach dem Gebäude, auf das schon seit langer Zeit die Augen der ganzen Welt gerichtet waren. Nach langem Ab- und Aufsteigen auf steilen, teilweise überbauten Straßen mit unmöglichem Pflaster, deren Häuser hinter den die Straßen einfassenden Mauern mehr vermutet als gesehen werden konnten, traten sie durch die marmorne Pforte in den äußeren Vorhof. Soldaten in der blutroten Uniform des Weltstaates mit dem Sowjetstern an der Kappe schlenderten hier herum und Beamte eilten mit Aktenmappen unter dem Arm zu ihren Büros.
An einer der reichverzierten mächtigen Säulen der Säulenhalle kauerte ein alter Jude am Boden. Der Stab war ihm entglitten und auf seinem Antlitz lag ein Ausdruck tiefen Kummers.
»Was bekümmert dich, mein Bruder?« fragte ihn Herr Kahn.
»Wehe Israel«, wimmerte der Alte, »wehe Israel, gehe wieder hin zu weinen und zu klagen an der Klagemauer, denn deine Hoffnung ist dahin!«
»Was ist geschehen? Das gläubige Israel, das wartet auf den Messias, hat doch Zuflucht gefunden in der Heiligen Stadt und im Tempel des Herrn? Hier sind wir doch sicher!«
»Ja, wir waren es, aber sind es nicht mehr. Du Fremdling, weißt noch nicht, was ist geschehen in den letzten Tagen?«
»Nein, ich weiß nichts, sprich!«
»Wie sind wir gewesen so dankbar dem Gott Israels, daß er sich erbarmet seines Volkes und hat beschützt die Versiegelten des Herrn durch den Arm des Statthalters, dem wir vertrauten als einem Werkzeuge Gottes. Da bin ich gereist vor einigen Tagen nach Damaskus zu meinem kranken Sohn; ich wußte, er mußte sterben und ich wollte ihm bringen den Trost Israels und ihm sagen von Jeschua, dem Messias. Er ist heimgegangen im Glauben – Gott hab' ihn selig. Und als ich komme zurück, da sind meine Brüder nicht mehr da. Alle, alle die Versiegelten des Herrn deportiert in die Wüste ohne Erbarmen. Wehe dem Verräter!«
»Wer hat sie deportieren lasten? Der Weltbundpräsident?«
»Nein, der Statthalter hat uns verraten. Nur einen halben Tag bekamen sie Frist, dann mußten sie alle fort, alt und jung, Kranke, Sieche, Schwangere, stillende Mütter, mußten wandern, wandern, wandern irgendwohin in die Wüste, wo die Geier und Schakale sich werden sammeln um ihre Beute, wie vor langen Jahren um die deportierten Armenier, deren Gebeine bleichen in der Wüste. Aber Gottes Gericht wird den Judas treffen.« Der Alte war aufgestanden, er hatte seinen Krückstock erhoben, seine Züge nahmen einen drohenden Ausdruck an.
Im selben Augenblick ertönte ein Aufschrei. Hertha war ohnmächtig zu Boden gesunken.
Zwei Tage vorher.
Die Nacht hatte ihre Fittiche über Jerusalem gebreitet. Doch in dem Palast des Gouverneurs auf dem Ölberge war noch Licht.
In seinem Arbeitszimmer, das von einem Kaminfeuer angenehm durchwärmt war, saß der vielumstrittene, rätselhafte Mann an seinem Schreibtisch. Sein Antlitz war bleich und eine tiefe Furche lag zwischen den Augenbrauen. Sein Blick ruhte auf einem Radiotelegramm, das vor ihm lag. Da hörte er Pferdegetrappel vor dem Fenster und bald darauf klopfte es an der Tür. Auf sein gebieterisches »Itscheri, gel« trat ein sporenklirrender Offizier ein. Er schien von einem weiten Ritt zu kommen, denn seine Uniform war ganz mit weißem Kalkstaub bedeckt.
»Nun, was bringst du mir für Nachricht, Achmed Bey?«
»Alles besorgt, laut Befehl.«
»Nichte passiert auf dem Wege?«
»Eine Frau ist unterwegs von einem Knaben entbunden und ein Mann ist gestorben.«
»Sonst nichts, Achmed Bey?« fragte er drohend. Der Statthalter war aufgestanden. »Wenn es sich später anders herausstellt, so wirst du an die Wand gestellt.«
»Beim Barte des Propheten, es ist, wie ich sage.«
»Habt ihr auch genügend Wasser gefunden?«
»In sechs der größten Höhlen ist tief im Hintergrunde reichlich Wasser.«
»Es ist gut, du kannst gehen. Doch kein Wort über die Zufluchtsstätten! Wer ausplaudert, ist ein Kind des Todes. Habt Dank für euren Dienst. An Lohn soll es nicht fehlen.« Zu dem Zug in die Wüste vgl. Offb. 12, 6; 14.
Der Offizier verneigte sich und ging. Bald hörte man das Aufschlagen von Rossehufen durch die Nacht klingen.
Wie im Traum starrte der Statthalter auf das Chiffretelegramm, das ihm sein Vertrauensmann in Moskau gesandt. Es lautete entziffert: »Präsident beabsichtigt, Truppen nach Palästina zu senden und selbst mit Fliegertruppen nachzukommen, um Jerusalem zu erobern.« Der Statthalter hatte sich wieder am Schreibtisch niedergelassen.
»Ruben!« seufzte er auf. »Was ist aus unserer Kampfgenossenschaft geworden? Schon bei deiner Anwesenheit hier ahnte ich dunkel, daß unsere Wege auseinandergehen würden. Und nun? Cäsarenwahnsinn hat dich gepackt. Du watest durch ein Meer von Blut! Das Todesröcheln der verhungerten Christen, die Mordsalven klingen in meinen Ohren. Das Heiligtum deines Volkes hast du entweiht und nun wütest du gegen dein eigenes Volk. Deine Blutbefehle konnte ich nicht ausführen und nun kommst du selbst, um die Stadt zu nehmen und die Messiasgläubigen zu vernichten. Doch ich bin dir zuvorgekommen, du wirst sie so leicht nicht finden! Mag mein Los auch damit besiegelt sein – was liegt an mir?«
Da tauchte in seiner Erinnerung ein holdes, von blonden Flechten umrahmtes Mädchenantlitz auf.
»Hertha, könnte ich dich noch ein einziges Mal sehen!«
Das edle Haupt mit dem langen schwarzen Barte beugte sich immer tiefer über den Tisch. Die Hände falteten sich über der Stirne.
Da öffnete sich leise die Tür und ein Diener in blauen Pumphosen, roter Schärpe und gelblichem Turban trat mit geräuschlosen Schritten ein. Joseph hörte es nicht. Erst als der Diener nach einer Weile sich räusperte, schaute er sich um. Der Diener verneigte sich mit über der Brust gekreuzten Armen.
»Mechmed, was gibt's?«
»Die Karawane ist auf dem Marsche.«
»Mechmed, geh jetzt schlafen, du hast einen anstrengenden Tag gehabt.«
Als der Diener das Zimmer verlassen, trat der Statthalter ans Fenster. Ein melodisches Geklingel tönte von der Richtung des Kidrontales. Langsam wand sich eine endlos scheinende Kamelkarawane mit abgestimmten Glocken den Berg herauf, der Führer auf einem Eselein an der Spitze.
»Es sind gegen 150 000 Menschen. Da braucht es viel. Aber ich glaube, sie werden keinen Hunger leiden«, sprach Joseph bei sich selbst und ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Antlitz.
Hoch am Himmel aber stand wieder jener geheimnisvolle Stern, der seinen strahlend hellen Glanz über die Heilige Stadt warf. Gespenstisch und unheimlich leuchtete der Tempel mit seinen Säulenhallen in seinem Licht. Schon seit mehreren Tagen sprach man in der Stadt von fast nichts, als von diesem Sterne. Die Christen und die messiasgläubigen Juden nannten ihn: »Das Zeichen des Menschensohnes« und warteten auf das Kommen des Messias. Eine Bewegung, die ihm als Fanatismus erschien, hatte sie ergriffen. Überall auf den Plätzen, in den Kirchen, die er wieder geöffnet, und im Tempel fanden Gebetsversammlungen statt.
»Ihr Armen!«, dachte er, »wenn ihr wüßtet, was ich weiß, ihr würdet weinen und heulen. Wir können die Stadt gegen moderne Truppen nicht verteidigen. Und wenn ich auch die als messiasgläubig bekannten Volksgenossen vorläufig gerettet – wenn die Stadt in seine Hände fällt, wer will für die Geflüchteten eintreten? Und was wird aus den Christen? Ja, wenn eure Hoffnung sich erfüllte! Wenn er wirklich lebte, an den ihr glaubt?«
Der gewaltige Stern, vor dem alle andern Sterne erblaßt, schien ihm hell ins Angesicht und beleuchtete die Karawane.
Da tauchte in seiner Erinnerung ein Bild aus seiner Kindheit auf. Über einer nächtlichen Flur leuchtete ein ebensolcher Stern vor der Karawane der Weisen aus dem Morgenlande. Jerusalem lag hinter ihnen; sie zogen gen Bethlehem, dem Christuskind zu huldigen.
Weihnachten stand ja vor der Tür, das er als Kind in seinem Elternhause mitgefeiert. Was wird dies für ein Weihnachten werden?
»Ach wenn doch die Messiasgläubigen und die Christen recht hätten! Du großer Prophet von Nazareth, wenn du lebst, so laß es mich erfahren!«
Ein Schauer überrieselte ihn, dann aber überkam ihn eine wunderbare Ruhe. Die Überanstrengung des letzten Tages machte sich geltend, er suchte sein Lager auf und fiel bald in einen tiefen Schlaf. Da war es ihm im Traum, als ob aus dem Glanz des Sternes eine leuchtende Gestalt heraustrat und ihm zurief: »Joseph!«
»Hier bin ich«, antwortete er.
»Was du getan an meinen Brüdern, wird dir nicht unbelohnt bleiben. Du bist berufen, mein Zeuge zu sein in einem neuen Reich, in dem Gerechtigkeit wohnt. Darum, was du auch sehen wirst, sei getrost und fürchte dich nicht.«
Als er aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel.
Der Traum hatte sich tief in sein Seelenleben eingegraben und so sehr er sich auch im Gedränge der nüchternen Regierungsgeschäfte immer wieder sagte, daß Träume Schäume seien und ein aufgeklärter Mensch nichts darauf geben dürfe, dieses Traumbild wollte nicht schwinden, und als er am Abend wieder den Stern leuchten sah, ließ ihm der Gedanke keine Ruhe: »Sollte es mit diesem Traum etwa doch eine besondere Bewandtnis haben?«
Am nächsten Tage hatte der Statthalter den Befehl gegeben, ihn nicht in seiner Arbeit zu stören und keinen Besucher vorzulassen. Dennoch kam am Nachmittag der Diener und meldete, es sei ein deutscher Effendi da, der sich nicht abweisen lassen wolle; er müsse notwendig den Herrn Statthalter selber sprechen. Er heiße Graf Wildenstein aus Berlin.
»Graf Wildenstein?« rief Joseph und es klang wie ein Jauchzen in seiner Stimme. »Führe ihn sofort herein!«
Als Arno eintrat, wollte Joseph freudig auf ihn zueilen, aber er prallte zurück vor dem abgezehrten Gesicht, dessen Augen fast drohend auf ihn gerichtet waren. So sagte er nur etwas verlegen:
»Herr Graf, was verschafft mir die Ehre?«
»Herr Statthalter, wir sind in die Heilige Stadt geflüchtet, um hier eine Bergungsstätte zu finden, und nun sehen wir, daß wir uns getäuscht. Ich komme, um Sie um Aufklärung zu ersuchen. Was hat Sie bewogen, die messiasgläubigen Juden, die Ihnen vertrauten, in den sicheren Tod zu schicken, sie mit erbarmungsloser Grausamkeit zu deportieren?«
»In den Tod zu schicken, grausam zu deportieren sagen Sie?« Ein feines Lächeln umspielte das Antlitz des Statthalters. »Weil ich Ihnen vertraue, wie außer meinem Vater niemandem in dieser Stadt, will ich Ihnen etwas zeigen, was ich niemandem gezeigt, und Sie werden anders urteilen.«
Joseph zog das Telegramm aus seiner Brusttasche und zeigte es Arno.
»Das ist ja furchtbar, aber ich verstehe nicht ...«
Da ging der Statthalter auf Arno zu, packte ihn an den Schultern und rüttelte ihn: »Aber Menschenkind, Sie begreifen noch nicht? Wissen Sie nicht, daß sich die Wut des Präsidenten vor allem gegen die Messiasgläubigen richtet und daß es galt, sie so schnell als möglich zu retten?«
»Ja, aber die grausame Deportation?«
»Die Deportation war nicht grausam, sondern so schonend wie möglich; aber es galt zuzugreifen ohne Verzug und meine Gründe durfte ich nicht öffentlich bekanntgeben. Sie sind nicht weit von hier in großen Höhlen sicher untergebracht, haben Wasser und reichlich Nahrung und durften sich mitnehmen, was irgend möglich war zu transportieren. Sind Sie nun zufriedengestellt? Nun aber setzen Sie sich, nehmen Sie eine Zigarre und erzählen Sie mir von sich und den Ihrigen.« Arno setzte sich, aber er war noch immer betäubt von dem Gehörten.
»Es tut mir leid, daß wir Ihnen unrecht getan, aber man hat in der ganzen Stadt diese Auffassung«, sagte er endlich gepreßt.
»Schon gut, schon gut, ich weiß, daß es so ist und es ist mir schmerzlich genug, daß ich zunächst nichts zur Aufklärung dieses Irrtums tun kann; aber Unrecht zu leiden ist ja keine Schande. Nun aber sagen Sie mir, wie geht es Ihren Eltern? Haben Sie sie mitgebracht?«
»Meine Eltern sind ein Opfer der Christenverfolgung Ihres Vetters geworden. Sie konnten die Entbehrungen nicht überstehen. Sie sind vor etwa zwei Jahren gestorben.«
»Seien Sie gewiß, ich beklage die unschuldigen Opfer einer wahnsinnigen Politik. Ich werde stets mit Ehrfurcht an Ihre Eltern gedenken. Es waren die edelsten Vertreter einer vergangenen Epoche, die ich kennen gelernt. Aber aus Ihren Worten entnehme ich, daß Sie nicht allein gekommen? Doch was frage ich? Ihr Trauring zeigt ja, daß Sie verheiratet sind.«
»Ja, ich bin mit meiner Frau und meiner Schwester gekommen. Der frühere Warenhausbesitzer Kahn aus der Chausseestraße, der mit seiner Tochter herreiste, hat uns eingeladen, ihn zu begleiten.«
»Wie, Ihre Schwester ist auch hier?« rief Joseph aus, während eine jähe Röte sein Angesicht überflammte.
»Ja, und sie ist die Ursache, daß ich Sie bitten muß, mich jetzt zu entlassen.«
»Was ist mit ihr? Ist sie krank?«
»Nein, nicht gerade ...« erwiderte Arno zögernd.
»Nun, was denn? Reden Sie, bitte.«
»Als wir davon hörten, Sie hätten die messiasgläubigen Juden grausam deportieren lassen, regte diese Nachricht sie so auf, daß sie ohnmächtig niedersank. Sie ist zwar wieder zu sich gekommen, aber der Schrecken hat sie so übermocht, daß wir für ihren Geisteszustand fürchten. Ich muß ihr daher so schnell wie möglich den wahren Sachverhalt aufklären; ich hoffe, sie wird dann wieder zurechtkommen.«
»Gestatten Sie mir, daß ich Sie begleite?«
»Wenn Sie es wünschen, so habe ich nichts dagegen; aber ich muß sie erst auf Ihren Besuch durch die notwendige Aufklärung vorbereiten, sonst würde Ihr plötzlicher Anblick ihren Zustand nur verschlimmern.«
»In wenigen Augenblicken bin ich wieder hier; ich muß noch einige Befehle geben.«
Der Statthalter erhob sich und begab sich schnell in sein Büro und von da in sein Schlafzimmer. Hier sank er auf einen Stuhl und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. »Hertha hier! So schnell ist mein zagender Wunsch erfüllt worden? Ist das etwa eine Antwort von Ihm, ein Zeichen, daß Er lebt?« Doch er überließ sich nicht lange seinen Betrachtungen. Er sprang auf und machte sich zum Ausgange fertig.
Unterwegs ließ Joseph sich von Arno über seine und seiner Gattin furchtbaren Erlebnisse berichten. Ein heiliger Ingrimm sammelte sich in seiner Seele. »Ruben«, dachte er, »wenn ich jetzt zwischen dir und Jeschua wählen soll, so zweifle ich nicht, wo mein Platz wäre.«
Nach halbstündigem Marsch waren sie an dem Hotel angelangt. Joseph, vor dem sich alle Kellner verbeugten, während in der Stadt die Juden meist scheu zur Seite sahen, blieb im Vorraum.
Arno ging in das Zimmer, wo Hertha auf einem Diwan ausgestreckt lag. Elsbeth saß neben ihr und hielt ihre Hand.
»Kinder«, rief Arno, »ich bringe euch gute Nachricht. Die Kunde, die wir vernommen, war nur zu einem Teile richtig. Die Versiegelten sind wohl deportiert, aber in der schonendsten Weise und mit allem versorgt. Der Statthalter hat sie retten wollen.«
»Wovor denn retten?« fragte Elsbeth, während die zuerst dumpf vor sich hinbrütende Hertha aufhorchte.
»Vor dem Antichristen, der mit Heeresmacht heranrückt, um Jerusalem zu erobern.«
»Ob es aber auch wahr ist?« fragte Hertha.
»Ihr könnt den Statthalter selber fragen«, erwiderte Arno.
»Joseph ist hier?« rief Hertha und sprang auf.
»Geduldet euch ein wenig, ich will ihn holen.«
Arno gab seiner Gattin einen Wink, daß sie ihm folgte. Nachdem Arno Joseph seiner Gattin unten im Vestibül vorgestellt, führte er ihn hinauf.
Als Joseph eintrat, stand Hertha am Fenster.
»Hertha, endlich sehe ich Sie wieder!« rief Joseph in überströmender Freude und eilte auf sie zu.
Hertha sah seinen offenen und ehrlichen Blick und gewann Vertrauen zu ihm. Sie reichte ihm die Hand und sagte: »Es ist mir eine große Freude, daß es sich anders verhält, als wir dachten. Es wäre ja auch zu furchtbar gewesen! Ihnen eine solche Handlungsweise zutrauen zu müssen, ging über meine Kraft.«
»Hertha, diese Ihre letzten Worte machen mich unaussprechlich glücklich. Ich sehe daraus, daß Sie noch ebenso zu mir stehen wie früher.«
»Täglich habe ich für Sie gebetet, und was ich von Ihrem Wirken hörte, nahm ich als teilweise Erhörung meiner Gebete hin.«
»Haben Sie innigen Dank! Ihre Gebete haben vielleicht mehr gewirkt, als Sie ahnen.«
»Joseph, ist es möglich, glauben Sie an Jesus?«
»Nach langen Kämpfen ist es mir klar geworden, daß mein Platz an der Seite des Messias ist.«
»Welch ein Wunder seiner Gnade! Da ist es mir gewiß, daß er Sie ganz zu seinem Eigentum machen wird, denn den Aufrichtigen läßt es Gott gelingen.«
»Ja, wenn ich jetzt zurückblicke und meine merkwürdigen Geschicke als Führungen des Wunderbaren, Gewaltigen ansehe, zu dem Zweck, mich für ihn zu gewinnen, dann fällt Licht auf meine Vergangenheit, und vieles, was mir bisher unverständlich war, wird mir nun einleuchtend.« Er erzählte den wunderbaren Traum, den er kürzlich gehabt.
»Das war der Herr, der im Traume zu Ihnen geredet hat. Sie sehen, daß der Angriff des Präsidenten auf die Stadt nicht das Letzte für Sie sein wird, sondern daß der Herr noch große Aufgaben für Sie hat.«
»Dann aber, Hertha, möchte ich nicht allein an diese Aufgaben herangehen. Hertha, willst du mit mir gehen?«
Hertha umschlang ihn mit beiden Armen und sagte leise: »Joseph, wo du hingehst, da gehe ich auch hin, dein Kampf ist mein Kampf, deine Aufgabe meine Aufgabe.« Ihr Kopf schmiegte sich an seine Brust.
Joseph aber nahm ihr schönes Haupt mit den goldenen Flechten in seine Hände und küßte sie wieder und wieder auf Lippen und Augen.
»Meine Hertha, täglich habe ich an dich gedacht und Hunderte von Malen habe ich mich gefragt, ob wohl einmal eine Stunde kommen würde wie diese!«
Sie setzten sich, saßen lange Hand in Hand und redeten miteinander von ihren Erlebnissen. Endlich sagte Joseph: »Hertha, wir haben nicht lange Zeit. In längstens einer Woche wird das Heer des Präsidenten im Lande sein. Wir wollen aber allem Kommenden schon als eng Verbundene entgegentreten, die nur noch durch den Tod geschieden werden können. Deshalb bitte ich dich, daß wir die Eheschließung sobald wie möglich vornehmen.«
»Ja, Liebster, du sprichst aus, was ich schon gedacht und gefühlt.«
Es klopfte und auf Herthas »Herein« traten Arno und Elsbeth ein.
Das Brautpaar sprang auf und ging ihnen entgegen.
Hertha umschlang Arno und Elsbeth und flüsterte: »Denkt euch, wir haben uns eben verlobt!«
»Das ist allerdings sehr überraschend«, sagte Arno. »Daß es so weit kommen würde, hätte ich nicht gedacht. Darf ich Sie bitten, Herr Statthalter, uns mit meiner Schwester einen Augenblick allein zu lassen?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Joseph. »Ich werde im Lesezimmer des Hotels warten.«
Als sie allein waren, brach Elsbeth in bittere Tränen aus und Arno sagte in ernstem Tone: »Wohl dachte ich mir, daß es euch lieb sein würde, euch allein zu sprechen, nachdem ihr so vieles Wunderbare gemeinsam erlebt, und ging deshalb mit Elsbeth hinaus. Hätte ich aber ein solches Ende eurer Unterredung geahnt, wären wir im Zimmer geblieben. Hertha, wie konntest du dich so vergessen, einem ungläubigen Juden, wenn er auch ein noch so edler Mensch ist, dein Jawort zu geben, und dazu noch dicht vor dem ersehnten Kommen des Herrn?«
»Er ist kein Ungläubiger mehr. Er bekennt, daß sein Platz in Zukunft an der Seite Christi ist.«
»Das freut uns sehr zu hören; aber ein ungetaufter Jude bleibt er doch und dazu das bisherige Werkzeug des Antichristen, durch das er die Organisation der christlichen Kirchen zerschlagen hat. Wenn das die Eltern wüßten! Es würde ihnen die ewige Ruhe stören, und du, Hertha, kommst in Gefahr, durch alle die Aufregungen und Zerstreuungen, die mit diesem Schritt verbunden sind, deine Bereitschaft auf den Tag des Herrn zu verscherzen und den törichten Jungfrauen zu gleichen.«
»Arno, wo wären wir, wenn nicht die messiasgläubigen Juden uns immer wieder in den Weg geführt worden wären? Haben sie nicht die Gemeinde der Gläubigen immer wieder geschützt?«
»Der Statthalter gehört nicht zu den Versiegelten Israels.«
»Aber der Herr wird und kann ihn nicht verwerfen. Ja, ich weiß, der Herr hat ihn zu seinem Dienst berufen.«
»Nun dann, Hertha, wenn du durchaus nicht von ihm lassen willst, so können wir nur darum beten, daß dir und ihm möglichst wenig Schaden aus eurer Verbindung geschehe.«
Elsbeth zog Hertha an sich und sagte mit einer noch vom Weinen zitternden Stimme: »Hertha, es ist mir durch den Geist gewiß, daß du deine Seligkeit nicht auf das Spiel setzest durch diesen Schritt; ja du wirst deinem Verlobten Segen vermitteln. Du selbst wirst eine große Aufgabe auf Erden gewinnen, aber gleichzeitig größerer Herrlichkeit verlustig gehen. Fürchte dich aber nicht, Gott läßt dich nicht sinken. Seine Gnade sei dir genug!«
Elsbeths Weissagungen waren immer eingetroffen. Sie galt in der Gemeinde als Prophetin. Ihre Worte hatten die Frage entschieden. Hertha schaute mit Zuversicht in die Zukunft, wenn sie sich auch eines leisen Gefühls des Unbehagens nicht erwehren konnte.
Joseph hatte geahnt, daß Arno und Elsbeth die Verlobung nicht ohne weiteres gut heißen würden und war daher freudig überrascht, als Arno, der ihn abholte, ihm herzlich die Hand drückte, und auch Elsbeth ihn mit einer gewissen gemessenen Feierlichkeit begrüßte. Die Eheschließung wurde um der besonderen Verhältnisse willen auf den dritten Tag festgesetzt. Nach der bürgerlichen Eheschließung sollte Josephe Vater als Priester des Tempels die Trauung vollziehen. Die Priester, die durchweg zu den Versiegelten gehörten, waren trotzdem in Jerusalem geblieben, da sie ihren Dienst im Tempel nicht im Stiche lassen konnten.
Die wenigen Tage ihres Brautstandes waren für Hertha eine Zeit schwerer innerer Kämpfe, ohne daß sie klar zu erkennen vermochte, weshalb sie von so widerstreitenden Empfindungen hin und her gerissen wurde. Alles, was sie je heimlich gewünscht und erbeten, war ja in wunderbarer Weise erfüllt. Die Liebe ihres Verlobten umgab sie und suchte sie auf alle nur mögliche Weise zu erfreuen. Der Sorgen für die Aussteuer war sie überhoben, denn sie kam in einen vollständigen, vornehm ausgestatteten Haushalt, und was sie für sich selbst bedurfte, besorgte Joseph mit ihr in der Heiligen Stadt gleich am ersten Tage. Sie erwiderte Josephs Liebe mit einer Innigkeit und Leidenschaftlichkeit, die sie in stillen Augenblicken selbst ängstlich machte. Und doch war sie nicht restlos glücklich. Das inbrünstige Warten auf den Herrn, das das Seelenleben ihrer Geschwister und der Familie Kahn beherrschte, war bei ihr mehr zurückgetreten. Ihr Verlobter nahm in ihrer Seele die Stelle ein, die Christus in den Seelen der anderen inne hatte. Sie sprach sich das nicht aus und hätte es wohl auch nicht zugegeben, wenn jemand es ihr geradeheraus auf den Kopf zugesagt hätte; aber sie empfand es doch als einen dumpfen Druck auf ihrer Seele und spürte eine täglich sich mehr vertiefende Kluft zwischen sich und den Geschwistern.
Am zweiten Tage war sie gegen Abend allein aus dem Hause geschlichen, den Berg hinabgestiegen und hatte im Garten Gethsemane unter einem der uralten Ölbäume ihr Herz ausgeschüttet vor dem Herrn. Im Gebet fand sie Ruhe und die prophetischen Worte Elsbeths wurden ihr ein milder Trost.
Als sie zurückkehrte, fand sie Joseph in großer Aufregung.
»Die Entscheidung naht!« rief er ihr entgegen. »Soeben erhielt ich ein Telegramm, daß die Truppen, die der Völkerbundsrat für diese Zwecke eigens zusammengestellt, in Haifa gelandet sind. Jaffa eignet sich ja nicht für die Ausschiffung eines Heeres. So wollen sie durch die Ebene von Jesreel von Norden her auf unsere Stadt marschieren.«
»Sei getrost, Geliebter«, sagte Hertha, indem sie sich an ihn lehnte, »der Herr wird seine Stadt und uns alle schützen. Wir sind in seiner Hand.«
»Es kann noch einige Tage dauern, bis sie hier sind. Sie wollen sich in der Ebene lagern und auf die Flugzeuge des Präsidenten warten.«
Am nächsten Tage war die Neuigkeit durch die Zeitungen in der ganzen Stadt bekannt. Die Bevölkerung wurde von Schrecken erfaßt.
Erregte Gruppen standen auf den Straßen und im Vorhofe des Tempels zusammen. Man ahnte, daß dieser Heereszug nichts Gutes bedeutete. Die Priester beruhigten nach Kräften das Volk und erklärten ihm nun offen die Gründe für die Deportation. Dadurch gewann das Volk wieder Vertrauen zum Statthalter. Die Häupter der Gemeinden, denen sich viel Volks angeschlossen, stiegen zum Ölberg hinauf und verlangten den Statthalter zu sprechen. Sie baten ihn um Aufklärung über die Bedeutung des Kriegszuges des Weltpräsidenten.
»Sie ziehen gegen die Heilige Stadt«, erwiderte der Statthalter, »um die messiasgläubigen Israeliten und die Christen zu vernichten. Doch es wird ihnen nicht gelingen. Stärker als ihre Macht ist Jeschua, der Messias, der Herr aller Herren, der König aller Könige. Zu ihm betet um Schutz und Rettung. Er wird uns erhören!«
Atemlos lauschte das Volk den Worten des Statthalters. Die meisten Juden hatten schon lange geahnt, daß Jesus der Messias sei.
Nun aber kam es wie eine Erleuchtung über sie und als ein einmütiges Bekenntnis aus ihren Herzen und von ihren Lippen: »Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn. Hosianna in der Höhe!«
Ruhig und getrost zogen sie wieder den Ölberg hinab.
Am Nachmittag gab Aaron, der Priester, die Verlobten nach jüdischem Ritus zusammen zum Ehestande und flehte den Messias an um Segen für das junge Paar. Im kleinsten, vertrauten Kreise der nächsten Angehörigen, zu denen nur noch die Familie Kahn geladen war, wurde die Hochzeit gefeiert.
»Es ist wahr geworden«, sagte Aaron beim Festmahl, »was geschrieben steht im 23. Psalm: ›Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.‹ Nun wird auch das andere erfüllt werden: ›Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.‹«
Währenddessen vollzog sich in der Stadt eine Scheidung. Es gab in Jerusalem nicht nur Freunde der Christen und der messiasgläubigen Juden, sondern auch eine große Zahl von entschiedenen Weltbundpatrioten, die aus ihrem Haß gegen die Christen und das wahre Israel kein Hehl machten. Nach der Rückkehr der Deputation war es überall auf den Straßen zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Die Folge war schließlich, daß alle Gegner des Messias die Stadt verließen und nach Nordwesten zogen, um sich in den Schutz der Truppen zu stellen.