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Nach dem Fünfuhrtee verließen Ralph und Davis den Bahnhof; sie wollten um sechs Uhr beim Tempel sein, wozu der Brahmane Ramalingam sie aufgefordert hatte.

Hinter ihnen glühte die Sonne am Himmel. Auf dem braunen Rücken des Läufers lag der Schweiß in blanken Flächen. Es war ein hochaufgeschossener Junge mit einem riesigen Turban, dessen Zipfel wie Wimpel hinter ihm herflatterten. Er lief in langen, regelmäßigen Sprüngen vorm Wagen und schwang seinen Stock von links nach rechts, während er in einem durchdringenden Messeton den Geistern der Luft und wem er sonst auf dem staubigen Weg begegnete, verkündete, daß hier zwei weiße Könige in ihrer Majestät daherkämen.

Hühner flogen schreiend nach allen Seiten. Ein hungriger Paria-Hund, der an einem Vogelaas nagte, knurrte gereizt. Zwei elende Wasserträger gingen in großem Bogen um sie herum und wagten erst wieder zu atmen, als die Erscheinung glücklich vorbei war.

In rasendem Lauf ging es an einer Lehmhütte vorbei, gelb und grau wie das Flußwasser, mit einem dunklen Türloch unter dem Verandadach, aber ohne Anzeichen von Leben. Noch eine und noch eine in dem goldenroten Schein, der wie ein Schleier über den steinigen Feldern lag. Die vereinzelten Häuser wurden zu einer Straße. Männer kamen vom Felde, mit Messern, Hacken oder Körben. Weißgekleidete Witwen auf bloßen Füßen, das Genick steif und die Hüften beschwert von dem gewaltigen Messinggefäß, das sie auf dem Kopf trugen, kamen mit Wasser vom Fluß für das Nachtessen der Familie.

Jetzt machte der Wagen solch heftige Schwenkung, daß Davis fast herausgeflogen wäre. Chundri drehte sich auf dem Bock um und zeigte nach oben. Dort, am Ende der schmalen Gasse, hob sich eine dunkle Masse himmelwärts.

Es war der größte von den Riesentürmen des Tempels. Er bestand aus zehn bunten Bilderstockwerken, die zu einer langgestreckten Pyramide von sitzenden und tanzenden Göttern und Göttinnen mit schwellenden Brüsten und Hüften übereinandergetürmt waren, in dunklem Stein ausgehauen. Es war wie ein verstummtes Geschrei von Tausenden beseelter Steinleben, zum Preis des Ewigen, ein lärmender Lebenskampf von andächtigen Menschengedanken, die alle zu Licht und Raum hinaufstrebten und mitten in der Ekstase beim donnernden Halt des Gewaltigen, der Ruhe in seinem Himmel haben wollte, erstarrt waren. Diesen Eindruck machte es auf Ralph.

Sie fuhren an einem mannshohen Eisengitter entlang, das das Grundstück des Tempels einfriedigte, und dort lag wieder ein Gopuram mit Menschengewimmel davor. Das war der Eingangsturm.

Ein Strom von braunen Gestalten, die sich bemühten, durch den Anblick der Fremden nicht verunreinigt zu werden, wogte ein und aus. Es war die Andachtsstunde nach des Tages Arbeit. Man kam mit Blumen und wollte beten, jeder hatte ein Anliegen, das wiederum das eines anderen kreuzte, alle aber stiegen zur veilchenblauen, dunstigen Wölbung hinauf.

Die Kinder, die den Wagen der Weißen umringten, wichen zur Seite, als sich jetzt ein älterer, korpulenter Mann näherte. Er hatte traurige schwarze Augen über welken Wangen, die sich zu einem Lächeln verzogen, als er sich vorbeugte und die Hand grüßend zur Stirn führte.

Es war der Brahmane Ramalingam. Als Davis ihn auf Hindustanisch anredete, blitzte es in seinen matten Augen auf, und er setzte sich gleich in Bewegung, zuvorkommend, aber mit einem Selbstbewußtsein, so sicher und anspruchslos, wie nur der es hat, der weiß, daß sich nicht ein einziger Tropfen unreinen Blutes in den Saft seines Stammbaumes gemischt hat, und der nie jemandem begegnet ist, der daran gezweifelt hat.

Er schritt ihnen voran durch den ungeheuren wimmelnden Haufen unter dem flachen Dach. Sie kamen durch einen halbdunklen, breiten Gang, der von bemalten Holzsäulen getragen wurde, durch eine Vorhalle, wo Licht zwischen zwei Reihen Sandsteinsäulen, die zu Göttergestalten ausgehauen waren, hereinfiel. Hinter den Säulen hatten die Tempelhändler Auslagen von Amuletts, Blumen und Räucherhölzern, aber auch von ganz weltlichen Dingen, Hausgerät und billigen Gegenständen aus europäischen Fabriken ausgebreitet. Am Ende der Vorhalle, zu jeder Seite des breiten Tores, das zum eigentlichen Tempelraum führte, standen Siwas Söhne: der Kriegsgott Subrahmanyi, furchtbar in seinem versteinerten Zorn, und Ganesh, der Glücksgott, der seinen Elefantenrüssel gemütlich zwischen seine Steinknie gesenkt hielt.

Auf dem Boden lag es voll von Bettlern, die sich erhoben, durcheinanderschrien und mit ihren Stöcken auf die Steinfliesen klopften, als sie der weißen Männer ansichtig wurden.

Ramalingam machte den Weg mit einigen drohenden Worten frei und die Bettler zogen sich knurrend zurück.

Es roch nach Stall; der schmutzige Steinboden war mit Stroh bedeckt. Da erklang von rechts ein gellender Trompetenstoß, und gleich darauf tauchte ein mächtiger Elefant auf. Auf dem Rücken hatte er eine violette Seidendecke und ein befranstes Käppchen auf dem Kopf. Er lächelte verschmitzt mit seinen kleinen gelben Augen, als machte er sich heimlich über seine eigene Heiligkeit lustig.

Der Führer rasselte mit einer Blechbüchse, Ralph warf eine Münze auf die Erde; der Elefant strich mit dem Rüssel durch den Schmutz, fand die Münze und ließ sie in die Büchsenöffnung fallen.

Davis nahm eine falsche Rupie, die er am selben Morgen bekommen hatte, und warf sie auf die Erde. Sie klirrte über den Fußboden und rollte zu einer Säule, wo ein junger Krüppel lag, die Krücken neben sich. Er reckte sich nach der Münze, richtete sich an seinen Krücken auf und schleppte sich auf seinen welken Beinen, die am Schenkel nicht dicker als der Krückenstock und im Kniegelenk gegeneinander gebogen waren, über den Boden. Während seine großen Augen in heiligem Zorn glühten, warf er Davis die Rupie an den Kopf, indem ein Strom von zornigen Worten ihm den Schaum auf die Lippen trieb. Die Bettler rings umher klapperten mit ihren Stöcken und wiederholten seine Worte. Der Führer machte kehrt und zog das heilige Tier, das so schamlos verhöhnt worden war, mit sich fort.

Ramalingam erklärte in seinem gebrochenen Englisch, daß der Krüppel ein sehr heiliger Mann sei, und er warf Davis einen mißbilligenden Blick zu, der lachend erklärte, daß er die Intelligenz des Elefanten auf die Probe stellen wollte.

Der Brahmane hatte alles Interesse für die Fremden verloren. Er führte sie durch das Bassin, »der Teich der goldenen Lilien«, wo einige Hindus bis an den Leib im Wasser standen und ihre Andacht verrichteten, ohne seinen Gästen Zeit zu lassen, das Schnitzwerk der Säulen zu bewundern.

Durch ein Bronzetor kamen sie in einen langen, breiten Gang, wo unter den Deckenbalken zahlreiche fliegende Hunde hingen; es stank wie in einer Menagerie, und die Tiere schwirrten ihnen um die Ohren. In der Mitte des Ganges war eine Türöffnung zu einem viereckigen Raum, wo ein Götterbildnis stand. Beim Lichtschein einer vereinzelten Kerze, die auf dem Altar brannte, sahen sie dasselbe, was sie am Morgen im Kali-Tempel gesehen hatten: wechselnde Schatten von Körpern, die sich im Tanz schwangen.

Ramalingam wollte vorbeigehen; Davis aber, der der Tür am nächsten war, meinte die Dewadasi wiederzuerkennen; er ging einen Schritt näher und zog Ralph mit sich. Da beeilte Ramalingam sich, ihnen den Weg zu versperren.

»Den Weißen nicht erlaubt!« sagte er streng.

Die Dewadasi erstarrte im Tanz und ihre Augen suchten die Fremden, die den Abendfrieden des Gottes kränkten. Ramalingam aber machte ihr ein Zeichen, daß sie sich nicht stören lassen sollte.

Bis an die Taille entblößt, mit einem violetten Schleier um ihr schwarzes Haar, drehte sie sich vor dem Gott, bald die schönen Arme über dem Kopf schwingend, bald sie ihm im Gebet entgegenstreckend; sie legte sich nach hinten und bot dem Gewaltigen ihren Schoß dar, beugte darauf die üppig gerundeten Schultern tief zum Steinboden, mit den Fingerspitzen die Erde zu Füßen des Gottes berührend. Ralph sah, wie ihre Augen jedesmal, wenn sie ihren Kopf von dem Gott abwandte, Ramalingam suchten; und die Augen des Brahmanen funkelten vor schmerzhafter Gier. Der Schein der einsamen Kerze ließ sein Gesicht gelblich wie das eines Toten erscheinen. Der Schatten ihres Schleiers fiel abwechselnd über seine Züge und die des Gottes: Ramalingams waren im Anschauen nicht weniger erstarrt. Es war, als habe er die Gegenwart der Fremden ganz vergessen. Er stand mit vorgebeugtem Kopf und starrte und starrte, als ob die dunkle Flamme ihres Körpers seine Seele verbrenne und ihn vergehen ließe; und je mehr er bei ihrem Anblick verging, desto stärker glühte ihm das Verlangen entgegen, desto tiefer funkelte der dunkle Schmerz in ihren großen blanken Augen.

Was ist es, was sie zusammenbindet? dachte Ralph. Im selben Augenblick klang es wie Metall auf dem Steinboden. Die Dewadasi hielt inne und beugte sich über ihren linken Fuß; der Ring von ihrem großen Zeh war entzweigesprungen und rollte über die Erde.

»Das ist der Tali-Ring,« flüsterte Davis, »der Trauring des Gottes. Sehen Sie nur ihre Angst!«

Die großen, blanken Augen starrten voller Entsetzen auf den Fußboden. Auch Ramalingam war beim Laut erwacht und sah aus, als ob ein böses Wahrzeichen ihn getroffen habe; er beugte sich herab, um den Ring zu suchen, damit keine unreine Hand ihn berühren sollte.

Der Ring war Davis vor die Füße gerollt, sein scharfer Blick sah ihn beim gelblichen Schein der Kerze blitzen. Er beugte sich herab und nahm den Ring auf; er war breit, mit einer großen, runden Spiegelscheibe von Silber.

Er hielt ihn hoch und ließ das Metall im Licht blitzen. Das Mädchen stand mit unbeweglich vorgestreckten Armen, im Tanz erstarrt; ihre Brust wogte heftig, die großen dunklen Pupillen hingen wie festgezaubert an dem heiligen Ring in der unheiligen Hand. Indem Davis ihr den Ring reichte, flüsterte er ihr einige Worte in ihrer eigenen Sprache zu. Ein Kälteschauer durchbebte sie, ihr Blick suchte Ramalingams und glitt dann zum Ring zurück; statt aber danach zu greifen, zog sie sich zum Gott zurück, als ob sie dort Schutz suche. Davis folgte ihr und wiederholte flüsternd seine Worte. Schließlich streckte sie die Hand aus, nahm den Ring und beugte den Kopf vor seinem Blick, als ob er ihr Herr sei.

 

Sie verabschiedeten sich von Ramalingam, der stumm und düster war; seit dem Unglück mit dem Ring hatte er kein Wort mehr gesagt.

Als sie im Wagen saßen, fragte Davis:

»Na, wollen Sie wetten?«

»Was?«

»Sie meinten, daß eine Dewadasi dem Begehren eines weißen Mannes unzugänglich sei.«

Ralph betrachtete ihn neugierig; sein Blick war ernst und die Augen funkelten hinter den Brillengläsern.

»Sie sind also wirklich ins Herz getroffen!« sagte er neckend.

Davis antwortete nicht.

»Was haben Sie ihr zugeflüstert?«

»Bleiben Sie bei Ihrer Behauptung von heute morgen?« fragte Davis statt zu antworten.

»Selbstverständlich.«

»Ich flüsterte: ›Beim südlichen Gopuram, wenn der Mond aufgegangen ist.‹«

»Und Sie glauben, daß sie kommt?«

»Wollen wir wetten?«

»Warum nicht. Was gilt die Wette?«

»Daß sie vor Ablauf einer Woche die meine ist – sagen wir, Donnerstag morgen bei Sonnenaufgang. Wenn nicht, habe ich verloren.«

Ralph sah ihren seltsam verzauberten Blick wieder vor sich, als Davis ihr den Ring reichte, und ihre demütige Kopfbeugung, als sie ihn nahm.

»Das ist ungleiches Spiel,« sagte er, »Sie wissen, daß das Unheil mit dem Ring eine Bedeutung hat, die ich nicht kenne. Sie haben sie vor dem Zorn des Gottes gerettet oder dergleichen, so daß sie Ihnen verpflichtet ist. Das aber hat nichts mit Leidenschaft zu tun. Darum aber handelte es sich. Wenn sie aus freiem Willen die Ihre wird, dann haben Sie gewonnen, sonst nicht.«

»Wie soll das festgestellt werden?«

»Wenn ich aus ihrem eigenen Mund höre, daß sie bereit ist, alles zu verlassen, um Ihnen zu folgen, dann haben Sie gewonnen; dazu können Sie meinetwegen so viel Wochen oder Monate gebrauchen wie Sie wollen.«

Davis überlegte einen Augenblick.

»Gut!« sagte er dann, »was wollen wir wetten?«

»Das überlasse ich Ihnen zu bestimmen.«

»Gut!« Davis wandte sich zu ihm und sagte mit leiser Stimme, als fürchtete er, daß jemand es hören könnte: »Wenn ich gewinne, müssen Sie mir einen Dienst erweisen, um den ich Sie zu gegebener Zeit bitten werde – und umgekehrt. Einverstanden?«

Ralph kniff die Augen prüfend zusammen.

»Wir kennen einander ja noch wenig, aber ich gehe davon aus, daß wir beide Ehrenmänner sind und nehme Ihre Wette an.«

Seine Jagd in den ›Blauen Bergen‹ aber wollte Ralph nicht aufgeben, und so einigten sie sich denn, daß er allein mit dem Vellala Shankar und dem Diener Chundri aufbrechen sollte. Davis wollte ihm entweder später folgen oder von Madura aus Nachricht senden, wann sie sich in Bombay wieder treffen wollten.

* * *


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