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In Kalkutta erfuhr Ralph, daß Dasturan Dastur und Helen ohne Aufenthalt nach Tuticorin weitergereist seien.
Er folgte ihnen mit dem ersten Zug und erreichte nach siebzigstündiger Reise Tuticorin.
In der kleinen Hafenstadt herrschte ein viel regeres Leben wie damals, als er sie auf seiner Reise von Ceylon passiert hatte. Wenige Augenblicke nach seiner Ankunft hatte er auch schon den Grund erfahren.
Vor dem Zollgebäude wurde er von einem Herrn aufgehalten, der seine Papiere zu sehen verlangte.
»Wer sind Sie?« fragte Ralph.
»Polizei.«
Ralph zog seine Brieftasche heraus und zeigte ihm, was er bei sich hatte.
Der Polizist sah die Schriftstücke aufmerksam durch. Dann gab er sie ihm zurück und sagte höflich:
»Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Cunning, daß Sie wahrscheinlich keine Erlaubnis bekommen werden, Ceylon zu verlassen.«
»Warum?«
»Wir haben Befehl bekommen, bis auf weiteres jeden Ausländer zurückzuhalten.«
Ralph blickte erstaunt auf.
»Warum?«
»Krieg.«
»Krieg?«
Der Polizist nickte und fixierte ihn scharf.
»Ich habe Darjeeling vor vier Tagen verlassen und seit einer Woche keine Zeitungen gelesen – Krieg sagen Sie?«
Der Mann erzählte von den letzten Begebenheiten in Europa.
»Also zu spät!«
Wenn Japan den Augenblick günstig findet, z.B. während eines Krieges zwischen europäischen Großmächten – Gibt es nicht Gerechte genug? dachte er und beugte den Kopf.
Plötzlich war es ihm, als ob ihm eine Last von den Schultern genommen sei. Wenn ich nicht reisen und keinen Boten senden kann, bin ich jeder Verantwortung enthoben. Jetzt gilt es nur sie zu finden, dachte er, alles andere entschwand seinem Gedächtnis.
Er erklärte dem Beamten, daß er nach Colombo reiste, wo er eine Dame seiner Bekanntschaft treffen wollte.
Der Mann überlegte einen Augenblick und erlaubte ihm dann sich zur Fähre zu begeben, die an der Brücke wartete, um die Passagiere über das seichte Küstenwasser zum Dampfer hinauszubringen.
Als Ralphs Gepäck an Bord des Dampfers gebracht worden war, kam der erste Steuermann auf ihn zu, – Ralph kannte ihn von der vorigen Ueberfahrt – fragte ihn, ob er Herr Cunning sei, und teilte ihm mit, daß der Kapitän beauftragt sei, darüber zu wachen, daß er in Colombo an Land ginge.
»Wo denn sonst?«
»Sie könnten ja vom Dampfer an Bord eines andern Dampfers gehen, der im Hafen von Colombo liegt.«
Sie lächelten einander zu und Ralph erfuhr, was die Zeitungen gebracht hatten.
Die Reede von Colombo war von den Ereignissen geprägt. Mehrere große Paketdampfer lagen vorm Hafen und warteten auf Bescheid. Dampffähren und Motorboote eilten hin und her über das regenbogenfarbige Wasser des Hafens. Auf der Dampferbrücke stand es voll von Kontoristen, die auf Zeitungen vom Festlande warteten. Kein lautes Sprechen, nur ernste Gesichter, bekümmerte Augen, zurückhaltendes Lächeln.
Ralph ging über den öden Platz an dem Denkmal der Königin Viktoria vorbei. Er blieb stehen und blickte zur Treppe des Hotels Grand Oriental hinüber, wo er Helen zum letztenmal gesehen hatte.
In Gedanken erlebte er den Abschied noch einmal – den unerklärlichen Schmerz, den er bei ihrem Blick und ihrem hastigen, heftigen Händedruck empfunden hatte. Er erinnerte sich der nagenden Leere, die er nach Empfang ihres Briefes gefühlt hatte, des entsetzlichen Ueberdrusses, – und es wurde ihm klar, daß die Helen, die er in Darjeeling angerufen, nicht dieselbe war, die er in Colombo begehrt hatte.
Ich selbst habe mich verändert, dachte er. Sein Gefühl war ein anderes geworden, – höher, reiner, geheiligt.
»Ob wir uns wiedersehen, das liegt in der Hand des unbekannten Gottes,« – ahnte sie bereits damals, daß eine Wandlung geschehen müßte?
Ralph dachte an seine Begegnung mit Dasturan Dastur: »Reisen Sie nach Darjeeling.« Er dachte an den Brief: »Suchen Sie in Colombo.« Ja, eine unbekannte Hand hatte gnädig geschenkt, was er vergeblich in Agra, Benares und Kalkutta gesucht hatte.
Wenn aber er ein anderer geworden war – würde dann auch die Wandlung in ihr vollbracht sein?
Würde sie, wenn sie wieder vor ihm stand, die sein, die er jetzt in seiner Seele trug, die seinem Leben und seiner Aufgabe not tat? – Wenn sie ihren starken, warmen Blick auf ihn richtete, würde sie dann in ihm, der endlich seine Aufgabe in der Welt gefunden hatte, den Ralph wiedererkennen, dessen Arm auf der Fahrt vom Garten des Paradieses um ihrer Schulter gelegen hatte?
Er suchte ihren Namen vergeblich in dem Fremdenbuch des Hotels. Auch Cook wußte nichts von ihr oder Dasturan Dastur. Ralph aber fürchtete nichts, er wußte, daß die Zeit gekommen war.
Gleich nach dem Mittagessen fuhr er zum Adaran hinaus. Er erkannte das Gitter wieder und hinter den dunklen Gebüschen, den niedrigen, weißgekalkten Tempel. Er öffnete die Pforte. Auf dem Kiesweg vor dem Hause begegnete ihm ein weißgekleideter Priester. Er erfuhr, daß Dasturan Dastur sich zum Adaran auf dem Berge Adam begeben hatte.
Ralph eilte zum Bahnhof, den er seit jenem strahlenden Morgen, als er und Helen zusammen nach Kandy gefahren waren, nicht wiedergesehen hatte.
Helen öffnete Dasturan Dastur ihr Herz. Sie sagte ihm, daß sie nach den Worten gehandelt, die er ihr mit auf den Weg gegeben hatte, als sie in Bombay voneinander schieden.
»Ich bin dem Licht gefolgt, das in meinem Herzen dämmerte; ich habe die Bürde der Dunkelheit ohne Bitterkeit und Zorn auf mich genommen.«
Sie erzählte ihm, daß sie erst begriffen habe, was Liebe sei, als sie der großen Versuchung auf ihrem Weg begegnet wäre und die Gewißheit bekommen habe, daß ihr Leben nicht ohne Ralph vervollkommnet werden könne. Als das Augenlicht sie aber verließ, da verstand sie es erst voll und ganz; denn wie sollte sie ihn in der Dunkelheit finden, in der sie wanderte?
»Ich werde dein Auge sein,« sagte Dasturan Dastur, »bis du das Licht wiedergewinnst. Ich werde dich zu dem heiligen See auf Adams Berg geleiten, dort sollst du baden.«
»Werde ich dann mein Augenlicht zurückbekommen?«
»Dort wirst du sehend werden.«
Und sie hatten zusammen Darjeeling verlassen.
Sie saßen im Speisewagen auf dem Weg zur Höhe. Dasturan Dastur saß ihr gegenüber auf dem Platz, wo Ralph an dem Tage gesessen hatte, als sie nach Kandy zum Garten des Paradieses fuhren.
Das Sprossenfenster stand offen, der Zug schwankte, und plötzlich merkten sie die Luft von den Bergen wie einen Hauch auf ihrer Stirn.
Sie sah in der Erinnerung, was sie damals gesehen hatte: die Luft, die von Millionen Kristallen unter der Himmelswölbung leuchtete, Berge, die sich in dem ewigen Blau mit ihren weißen Gipfelzähnen festbissen.
Sie sah Ralphs Blick aufleuchten und sie hörte seine Stimme, als er sagte:
»Sehen Sie, dort ist Adams Berg.«
Seine Hand hatte die ihre berührt, als er sein Glas hob, um zu trinken. Ihre Augen trafen sich und sie wurden von dem Glanz in ihrem Blick, von dem festlichen Rausch, mit dem die wunderbare Schönheit der Erde ihre Gemüter freigemacht hatte, benommen.
Und sie erinnerte sich des Gefühls, das sie ergriffen hatte, als sie in etwas unübersehbar Neues emporgehoben zu werden meinte, und des plötzlichen Schamgefühls, das sie zwang, die Augen niederzuschlagen, weil sie fühlte, daß ihre Seele sich in jenem Augenblick wehrlos der seinen hingab.
Da war es, daß die Worte in ihr geboren wurden:
»Nicht im Mann und nicht im Weibe, sondern im Menschenpaar wird das Leben vervollkommnet und geht den Weg zu Gott.«
Ja, so war es geschehen. Wie sie geahnt, so war es gekommen, das Neue war in ihr selbst geboren, wenn auch anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Ihre Seele hatte sich suchend und rufend der seinen zugeneigt, weil sie nicht anders konnte. Ja, das war die Einweihung, – würde die Vollendung kommen?
Hätte er ihr jetzt gegenüber gesessen, dann würde sie die Hand genommen haben, die die ihre so zart und vorsichtig berührte; sie würde ihre Augen nicht schamhaft niedergeschlagen, sondern bis auf den Grund seiner Seele gesehen haben – –
Ach, sie war ja blind.
Tränen brannten hinter ihrem Blick, aber sie drängte sie zurück; und sie dachte: wenn Blindheit der Preis ist, will ich nicht darum bitten sehend zu werden.
Sie verließen den Bahnhof und stiegen in den wartenden Wagen.
Sie fuhren langsam den Berg hinauf. Nachdem sie eine Weile gefahren waren, merkte Helen einen kräutrigen Duft von Blumen und Wald; sie atmete ihn in tiefen Zügen und fragte Dasturan Dastur:
»Was siehst du?«
»Gottes Angesicht. Dort unten lächelt ein kleiner, glänzender Fluß zwischen gelben Ufern, Büffel erquicken sich im Strom. Ein Wald von Kokospalmen gibt Schutz gegen die brennende Sonne. Vögel mit roten Schnäbeln und blendenden Federn zwitschern über hängendem Laub. Eine Eidechse hastet über den kahlen Felsen, Goldkäfer blitzen im Licht. Blumen öffnen ihre Becher, alles ist eines – ein Leben, ein Gedanke, ein Gott, und alles bist du – und alles bin ich.
Willst du hören, was die Vögel singen? Wir fürchten uns nicht, wir leiden nicht; denn nur der, der fürchtet, leidet; wir leiden nicht, wir fürchten uns nicht, denn jedem Geborenen ist der Tod gewiß, und jedem, der stirbt, ist die Geburt gewiß. Ich aber, der ich im Licht bin, mich kann Geburt und Tod nicht treffen.«
»Warum ist es mir versagt, zu sehen?«
»Es ist dir nicht versagt zu sehen!«
»Wenn aber Blindheit der Preis ist, so nimm sie nicht von mir, sondern laß mich im Dunkel bleiben.«
»Das Licht kommt in die Seele wie das Kind in den Mutterleib. Durch Empfängnis. Was dem menschlichen Auge verborgen ist, das sieht der Blinde besser, als der Sehende.«
Helen schwieg.
Kurz darauf berührte Dasturan Dastur ihre Hand und sagte:
»Jetzt sehe ich Adams Gipfel gegen den blauen Himmel leuchten.«
»Warum heißt er Adams Gipfel?«
»Als Adam und Eva aus dem Garten des Lichtes vertrieben wurden, flüchteten sie auf einen Berg, von wo sie die Gipfel der Bäume sehen konnten, die ihr Glück beschattet hatten. Es war Kandys Garten und der Berg, den du dort siehst. Auf dem Abhang des Berges bauten sie sich eine Laubhütte, von wo sie jeden Morgen Gottes Auge über dem Garten leuchten sehen konnten.
Und zum Gipfel dieses Berges führte Krishna den Königssohn Arjuna, als die Geschlechter der Erde sich im Kampf gegeneinander erhoben. Arjuna, der Streiter des Lichtes, sah ein, daß er sein ganzes eigenes Geschlecht töten müßte. Da klagte er Krishna sein Leid und weigerte sich. Vishnus heiliger Sohn aber führte ihn zum Gipfel und lieh ihm sein göttliches Auge. Und er sah, daß alle Geschlechter vom Tod gezeichnet waren und hörte eine Stimme, die sagte: ›Ich will Reiche vernichten, damit eine neue Zeit geboren werden kann. Du bist das Werkzeug, das ich mir ausersehen habe, aber auch ohne dich wird es vollbracht werden.‹«
Dasturan Dastur blickte über die Dunkelheit der Erde, über die Heermassen, die aufeinander lauerten, dicht, dunkel und drohend; er hörte das ferne Getöse zwischen den Bergen und sein Auge suchte den, dem er den Weg gewiesen hatte.
Helen aber, die es nicht wußte, dachte über seine Worte nach und wunderte sich.
»Vishnus heiliger Sohn entstammte doch einer heidnischen Sage und nicht der Religion der Parsen?«
»Sagen sind Sagen – bunt und mannigfach wie die Welt, – doch haben alle nur eine Quelle, ebenso wie die Lehre vom Licht alles menschliche Streben umfaßt, welchen Namen jeder einzelne seinem Glauben auch gibt. Alle Erlöser, welchen Namen sie auch trugen, haben für das Licht gekämpft. Muß der Priester aller Priester sie nicht alle ehren? – Jedesmal, wenn die Dunkelheit auf Erden Macht bekommt, entzündet der Herr des Lichts einen Funken in einer auserwählten Seele, gibt ihr ein göttliches Auge und Kraft von seiner Kraft, damit sie über das Dunkel siegen und aus dem Ende der Zeiten eine neue Zeit bereiten kann. Darum, wo immer uns eine auserwählte Seele begegnet, die mit göttlicher Kraft für das Licht kämpft, müssen wir sie ehren und anbeten; denn in ihr ist das Licht.«
Der Pfad stieg an, die Pferde gingen Schritt für Schritt, und schließlich hielt der Wagen.
»Hier endet der Fahrweg,« sagte Dasturan Dastur, »wir müssen noch einige hundert Schritt gehen, dann sind wir am Ziel.«
Sie stiegen aus. Dasturan Dastur nahm ihre Hand. Als sie eine Weile gegangen waren, blieb er stehen und sagte:
»Hier ist der alte Kreuzweg, wo die Pilger zwischen den Pfaden wählen mußten. Der eine wird der Männerweg genannt – er ist steil und steinig, biegt nirgends aus, aber steigt mit Stufen hinan, die in den Fels eingehauen sind; er ist gefährlich zu beschreiten, manch einer ist schon von Schwindel ergriffen worden und hinabgestürzt. Diesen Weg wählte Adam, als er den Gipfel erstürmte. Der andere ist der Frauenweg, er ist sanft und bequem, paßt sich dem Willen des Felsens an und überwindet ihn zuletzt; es ist ein Weg ohne Schwindel und Gefahr, wer ihn aber einschlägt, braucht mehr Zeit, bis er zum Ziel gelangt. Diesen Weg wählte Eva.«
Wieder nahm er ihre Hand und führte sie längs des Bergabhanges, bis sie einen Duft von Sandelholz spürte, dessen sie sich aus dem Tempel im Garten der Toten erinnerte.
Eine Glocke ließ drei kurze, silberklare Schläge ertönen, noch einmal und noch einmal. Helen blieb mit gebeugtem Kopf stehen; Dasturan Dastur aber ließ ihre Hand los und sprach die Gebete der guten Gedanken, guten Worte und guten Taten.
»Der Zot begrüßt dich!« sagte er.
Helen wandte ihre leeren Augen in die Richtung, woher das Geräusch einer Stimme kam. Sie hörte Worte von einer jungen feierlichen Stimme und neigte ihren Kopf zum Gruß.
»Jetzt sind wir beim Adaran, es ist nur ein kleiner Tempel, von der Welt ungekannt; auf seinem Altar aber hat die heilige Flamme seit Jahrtausenden gebrannt.«
Dasturan Dastur führte sie hinter den Tempel, zu dem Haus, wo der Zot wohnte, der ihr und Dasturan Dastur seine beiden Zimmer eingeräumt hatte.
Ein Tempelherbad stellte ihnen Wasser bereit. Als sie sich nach der Reise gewaschen hatten, geleitete Dasturan Dastur sie in einen Garten hinaus, wo es zwischen den schmalen Fußwegen nach Ambra und Rosen duftete. Da wurde die Luft vor ihr dichter, sie trat auf weicheren Boden, ihre suchende Hand stieß gegen einen Stamm und sie hörte ein leises Rascheln über ihrem Kopf, als wenn ein Vogel ein Blatt mit seinem Flügel streifte.
»Wo bin ich?« fragte sie und zog ihre Hand zurück.
»Unter dem Baum des Lebens.«
Dasturan Dastur legte den Arm um sie und führte sie in einen Hain von Stämmen, die ihr Kleid, ihren Ellenbogen und ihre Hand berührten. Die Luft war kühl und schwer; sie fühlte, daß sie sich in tiefem Schatten bewegte.
Er führte sie zu einer niedrigen, weichen Grasbank, hieß sie Platz nehmen und drückte ihren Rücken sanft gegen einen alten Stamm.
Dort saß sie und blickte mit ihren großen, blinden, strahlenden Augen vor sich hin. Und als sie ihren Mund zu einer Frage öffnen wollte, sagte Dasturan Dastur:
»Hier zu deinen Füßen liegt der See, keine zwanzig Schritt und du bist auf dem Pfad, der längs seines Ufers führt. Das ist der See Kasava. Dort drüben liegt der Weg, wo wir fuhren, rechts leuchtet Adams Gipfel in der Sonne.«
Der Tempelherbad brachte Brot und Obst und Tee. Als sie gegessen hatten, lehnte Helen sich zurück und nahm den Frieden in ihrem Herzen auf.
Es war still und kühl unter dem Laubdach. Käfer summten leise, Blätter flüsterten über ihrem Kopf, sie meinte den Puls in dem glatten Stamm schlagen zu hören, gegen den ihr Rücken ruhte, den ewigen Kreislauf des Lebenssaftes, den stillen Atemzug der Blätter. Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und der Strom glitt von dem Baum in sie über, stieg zu ihrem Herzen hinauf und kehrte wieder zurück. Ihr Puls schlug im Takt mit dem großen Puls der Natur, und die Augenlider fielen ihr zu.
Als sie erwachte, streckte sie suchend die Hand aus. Dasturan Dastur ergriff sie. Sie wandte ihm ihre blinden Augen zu und lächelte, weil er noch bei ihr war.
»Warum nennst du diesen Baum den Lebensbaum?«
»Weil er nicht stirbt. Sobald ein Stamm alt wird, schießt ein neuer Ast hervor und strebt zur Erde; wenn er Wurzel gefaßt hat, sagt der neue zu dem alten: ›jetzt kannst du in Frieden welken, denn ich habe Wurzel gefaßt und werde deine Bürde tragen.‹ So vertauscht sich Alt mit Jung im Wechsel der Zeiten, während die Säfte von der Erde aufwärtsstreben und wieder zur Erde herab, in einem ewigen Kreislauf. Dieser Banyanbaum ist der älteste, den es gibt, er stammt aus dem Garten Eden.«
Mit ihrer Hand in der seinen, erzählte Dasturan Dastur die Mythe vom Lebensbaum:
»Als Adam und Eva aus dem Garten des Paradieses vertrieben wurden, brach er auf dem Wege einen Ast von dem Feigenbaum, in dessen Schatten sie gelebt hatten. Und als sie auf den Berg hinaufgelangt waren – hier – wo wir sitzen – als sie sich umwandten und den Garten Eden tief unten im Tal liegen sahen, da griff die Sehnsucht und der Kummer sie so heftig ans Herz, daß sie weinten, bis sie keine Tränen mehr hatten; aus ihren Tränen aber entstand ein See zu ihren Füßen. Und dies ist der See. Adam pflanzte den Feigenzweig vor ihrer Hütte, er schlug gleich Wurzel und wuchs und gewährte ihnen wieder Schatten. Eines Nachts aber sandte der Herr des Lichts einen Funken von seinem Schwert, um ihnen zu zeigen, daß seine Hand auch hier über ihnen sei. Der Blitz entzündete den Feigenbaum, damit sie sich nicht in seinem Schatten geborgen fühlen sollten. Adam aber beugte sich in Demut und dachte: ›Der Funke kommt von Gott.‹ Und er nahm eine Fackel von dem Baum, nährte die Flamme und pflegte sie, um Gott stets bei sich zu haben; und um die Flamme gegen Wind und Regen zu schützen, legte er Steine über sie und unter sie und um sie herum. So entstand der erste Adaran. Hier, wo wir sitzen, hat er gestanden. Adams und Evas Nachkommen verstreuten sich vom Berge aus über alle Gegenden der Welt. Wohin sie kamen, beteten sie das Licht an, das über ihrem Leben schien. Einer von Adams Söhnen aber nahm eine Fackel von dem Feuer auf seines Vaters Berg mit, wachte darüber und nährte sie auf seinem Weg. Als er zu Elburs Berg in Persien kam, war er des Wanderns müde. Er baute sich eine Hütte auf dem Bergabhang und errichtete einen Altar für das Feuer, wie sein Vater ihn errichtet hatte. Von ihm stammt das Geschlecht der Parsen. Er begnügte sich nicht damit, das Licht anzubeten, das vom Himmel scheint; er bewahrte das Feuer, befreite es von allem Unreinen, ehrte es und betete es an. Ueberall, wo seine Nachkommen lebten, führten sie eine Fackel von dem heiligen Feuer mit sich. Und es geschah, daß einer der Wächter des Feuers zu Adams Berg kam. Er fand den Baum des Lebens und den Steinaltar im Schatten desselben, aber er war kalt und leer. Da reinigte er den Stein, sammelte Holz, weihte es, und entzündete es an der Fackel, die er bei sich trug.
Die Zeiten aber wechselten, und ein indischer König brachte Buddhas Lehre zur Insel. Buddhas Priester kamen zu Adams Berg, und als sie den Adaran fanden, wollten sie den Wächter des heiligen Feuers zu der neuen Lehre bekehren. Sie erzählten von dem Erlöser, der zur Rettung der Welt gekommen war. Als die Priester geendet hatten, sagte der Zot: ›Ich wußte, daß er gekommen sei!‹ Er führte sie unter den Baum des Lebens und zeigte auf einen jungen kräftigen Stamm, der just in der Erde Wurzel gefaßt hatte. ›Seht, dieser junge Stamm ist Buddha.‹ Und er fiel auf die Knie und sagte: ›Ich preise dich, Buddha, du neuer Schößling am Baum des Lebens, du, der du in der Dunkelheit Wurzel gefaßt hast, um die Bürde derselben zu tragen und dem Licht eine neue Zeit zu bereiten.‹ Die Priester aber sahen ihn verwundert an und wußten nicht, was sie sagen sollten.«
Dasturan Dastur geleitete Helen durch die Stämme, blieb stehen und führte ihre Hand über die lockere Rinde eines alten Stammes.
»Kannst du fühlen, daß er welk und hohl ist? Bald wird er unter dem Gewicht der Aeste zusammenbrechen.«
Und er führte ihre Hand über neue Schößlinge, die wie Saiten in der Luft schwirrten; einige waren ganz jung und glatt und frisch, andere waren bereits lang und steif, und einer war der Erde so nah, daß seine Spitze einen Halm berührte.
»Jahr für Jahr bin ich hergekommen, um den Baum zu befragen, Jahr für Jahr habe ich den Stamm bewacht, der im Begriff war zu welken, und die neuen Schößlinge, die zur Erde streben, um seine Bürde zu übernehmen. Sieh, das Ende der Zeiten ist nahe, denn einer der Schößlinge hat die Erde berührt.«
Dämmerung senkte sich herab und Sterne funkelten auf dem Weg, der zum Baum des Lebens führte. Helen sah es nicht. Als aber die Luft feucht wurde, erschauerte sie und Dasturan Dastur geleitete sie in das Haus des Zoten.
Der Tag ging zu Ende, als Helen zum See ging, um zu baden.
Dasturan Dastur hatte sie vor das heilige Feuer geführt, der Zot hatte das Gebet der einundzwanzig Worte gesprochen, während der Herbad das Becken mit dem duftenden Sandelholz vor ihr schwang. Dann hatte er das weiße Opfertuch, das von geweihter Wolle gewebt ist, um ihre Schultern gelegt und ihr Haar gelöst.
Dasturan Dastur führte sie zum See über den schmalen Pfad. Als sie am Ufer standen, legte er seine Hand auf ihr Haupt und sprach das Gebet der guten Gedanken, guten Worte und guten Taten.
Als Helens Fuß das Wasser berührte, erschauerte ihr Körper, obgleich das Wasser von der Sonne warm war. Sie stieg die letzte Stufe hinab, und der See nahm sie in seine warmen Arme. Sie tauchte den Kopf unter, einmal, zweimal, dreimal.
Dasturan Dastur ergriff ihre Hand und geleitete sie eine Treppe hinauf.
»Sei gegrüßt, du strahlende Jungfrau!« sagte er mit lauter Stimme und verneigte sich tief zur Erde, »rein ist deine Stirn, rein ist dein Mund, rein ist deine Seele!«
Er nahm das nasse Opfertuch von ihren Schultern, trocknete ihr Haar und ihr Kleid mit dem Tuch und hüllte sie von Kopf bis Fuß in das große weiße Laken ein, das Leichengewand der Parsen, als Zeichen, daß keine Dunkelheit mehr an ihrer Seele haftete.
Er führte sie zur Bank und ließ sie allein, damit sie unter dem Baum des Lebens ruhen konnte.
In der stillen Sonnenuntergangsstunde stieg der Lebensstrom aus der Erde in den Baum und wieder zurück. Die Lebenswoge schlug an ihr Herz und öffnete die Flügel desselben weit. Sie breitete die Arme aus, um das Erschaffene gegen ihre Brust zu drücken.
Dann lehnte sie sich gegen den Stamm und schlief ein.
Bei den letzten Sonnenstrahlen wanderte Ralph über den Pfad. Der See lag blank und golden da. Da sah er oben die weiße Gestalt unter dem dunklen Laub.
»Sie ist es!« Und das Herz stand ihm still.
Sie schläft, dachte er und ging so nah, daß er ihre Züge erkennen konnte.
Die klare Stirn, die starken Brauen – das war Helen. Aber die Wangen schmal und bleich, und die Schmerzenslinie um den milden Mund, das war Schehanna.
Verwirrt suchte sein Blick die sanft gerundeten Schultern, die hohe Brust. Da schlug sie die Augen auf – es war Helens Blick, aber seltsam verändert.
Sie hob lauschend den Kopf – und sieh: sie preßte die Hände gegen die Brust, wie Schehanna es getan hatte, und dennoch war es Helen.
Er schaute und schaute.
Ja, es war eine andere als die, die er in seiner Erinnerung getragen hatte. Die Hoheit auf ihrer Stirn griff ihm ans Herz. Die Frau, die er liebte, war reiner und schöner, als er sich vorzustellen vermocht hatte.
Darf ich mich ihr nähern, dachte er voller Ehrfurcht.
Da richtete sie den Blick auf ihn; das Herz klopfte ihm erwartungsvoll, – sie aber rief ihn nicht, grüßte nicht; kein Zug ihres Gesichts verriet, daß sie ihn erkannt hatte.
Habe ich mich denn so verändert, dachte er, trat einige Schritte näher und grüßte.
Sie erwiderte seinen Gruß nicht, obgleich ihre Augen geradeswegs auf ihn gerichtet waren.
Er blieb verwundert stehen, die Enttäuschung zwang ihn fast in die Knie.
Sie hob den Kopf, als ob sie lauschte, und streckte die Hand suchend nach der Stelle aus, wo er stand. Da durchfuhr es ihn: Sie ist blind.
»Helen!« schrie es in seinem Herzen auf und mit einem Sprung war er oben.
Beim Laut seiner Stimme hatte sie sich erhoben, wie eine bebende Saite stand sie vor ihm, die blinden Augen auf ihn gerichtet.
»Helen!«
Da lösten sich die Fesseln. Das Lächeln brach auf ihrem Gesicht hervor. Die Augen wurden blank von Tränen. Von ihren Lippen kam ein Laut, halb jubelnd, halb schluchzend. Sie streckte die Arme nach ihm aus und schwankte.
Er faßte sie um die Taille und zog sie an sich, während er ihre Seele hinter der strahlenden Leere der Augen suchte. Schmerz und Freude überwältigten ihn, so daß er nichts zu sagen vermochte.
Ihre Hände tasteten über seine Stirn, von der Stirn längs der Wangen bis zum Kinn. Sie hob den Kopf und lauschte auf das, was die Finger sahen und erkannten.
Dann legte sie ihre Hände um seinen Nacken, schloß die blinden Augen und sank in seine Arme.
Und wie sie in seinen Armen ruhte, geschah das Wunder, daß die Welt in ihrem Herzen erstand und mit ihrer Seele eins wurde. Das namenlose Einfache erfüllte sie mit seinem Licht, so daß sie dabei erbebte. Und aus dem Licht erklang es:
»Was du suchtest, sollst du empfangen!«
* * *