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Während mehrerer Tage hatten sie Gamâl nicht gesehen. Er saß nicht auf seinem gewohnten Platz in der Halle. Der Portier berichtete, daß Herr Gamâl einen Anfall seines alten Leberleidens bekommen habe und sich in seinem Zimmer aufhielte. Davis schlug vor, daß sie ihm einen Besuch machen wollten, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen und ihm zu erzählen, wie recht er gehabt, als er Ralph prophezeite, daß es ihm nicht glücken würde, den listigen Afghanen in seine Gewalt zu bekommen.

Als Ralph und Davis zeitig am Vormittag durch den langen, halbdunklen Korridor im dritten Stockwerk zu Gamâls Zimmer gingen, dessen Nummer sie sich hatten sagen lassen, sahen sie, wie etwas weiter fort eine Tür geöffnet wurde. Eine spindeldürre Gestalt in einem faltigen, hellen Talar kam heraus und glitt auf nackten Füßen lautlos auf sie zu. Im Halbdunkel konnten sie sehen, daß er einen trichterförmigen Hut aufhatte, der seinen Kopf zwischen die Schultern herunterzudrücken schien, so daß er beim Schreiten von rechts nach links wackelte. Als er nur ein kleines Ende von ihnen entfernt war, blieb er stehen und zögerte, machte dann kehrt und eilte an der Tür vorbei, aus der er eben herausgekommen war, auf das andere Ende des Korridors zu.

Ralph meinte, daß er die merkwürdige Kopfbedeckung schon mal gesehen habe, konnte sich aber nicht erinnern, wo. Davis folgte der Gestalt aufmerksam. Als der Mann die Biegung des Korridors erreichte, wo aus einer offenstehenden Tür Licht fiel, sah Davis, daß er langes, aschgraues Haar hatte, das ihm bis an die Schultern reichte.

Davis hatte sich die Tür gemerkt, wo die Gestalt herausgekommen war; als sie sie erreichten, blieb er stehen, lauschte einen Augenblick, trat dann dicht heran und klopfte an. Ralph sah zu der Nummer des Zimmers auf.

»Sie irren sich,« sagte er und hielt Davis zurück, »es ist erst die nächste Tür.«

Davis hieß ihn schweigen und runzelte die Brauen. Als keine Antwort erfolgte, öffnete er die Tür und sah ins Zimmer. Es war ein leeres Schlafzimmer. Er schloß die Tür wieder und ging weiter, ohne ein Wort zu sagen.

Ralph klopfte an die nächste Tür, erkannte Gamâls Stimme, und öffnete.

Gamâl erhob sich von einem Liegestuhl unter dem hohen Fenster, dessen Sprossenflügel trotz der Wärme geschlossen waren. Er trug einen langen, gestreiften Rock, in dem Ralph die Djubbe wiedererkannte, in der er ihn auf der Treppe zum Crédit Lyonnais in Konstantinopel gesehen hatte; inzwischen war sie also zum Schlafrock degradiert worden.

Der Scheik kam ihnen freundlich entgegen und drückte ihnen feierlich die Hand. Er sah müde aus.

Ralph erkundigte sich nach seinem Befinden und der Scheik erzählte von seinem Anfall; während der letzten zwei Tage hatte er nichts gegessen.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, meine Herren, für Ihre Freundlichkeit,« sagte er mit seiner sanften Stimme, »aber sprechen wir nicht mehr von meiner Krankheit. Es ist ein altes Leiden, das in bestimmten Zwischenräumen wiederkehrt, so unfehlbar wie Sommer auf Frühling und Herbst auf Sommer folgt.«

Davis blickte sich interessiert im Zimmer um.

»Wie behaglich Sie hier wohnen,« sagte er in konversierendem Ton und zeigte auf die Tür zum Nebenzimmer, »nebenan ist wohl Ihr Schlafzimmer? – Ist es ebenso groß und luftig wie dieses?«

»Wohl kaum,« sagte der Scheik. Nachdem sie Platz genommen hatten, erzählte Ralph von Abdul-Hassan und Abbas, die spurlos verschwunden wären.

Die Neuigkeit schien den Scheik zu schmerzen. Er murmelte einige arabische Worte und sagte:

»Also haben die Madhisten ihn schließlich doch gefunden.«

»Und Abbas?« fragte Davis.

Der Scheik starrte vor sich hin, als suche er in seinem Gedächtnis, dann schüttelte er den Kopf.

»Den kenne ich nicht.«

»Fürchten Sie nicht, daß auch die Reihe an Sie kommen wird?« fragte Davis, »auch Sie sind ja ein Flüchtling.«

Gamâl ließ seinen Blick über Davis' energisch vorgebeugtes Gesicht gleiten.

»O nein,« sagte er sanft, »ich vermeide das Viertel der Araber und gehe ehemaligen Glaubensgenossen aus dem Wege. Solange ich mich zwischen Touristen bewege, genieße ich den gleichen Schutz wie diese.«

»Auch einem Touristen kann dies und jenes zustoßen,« sagte Davis, und erzählte, wie Ralphs Handtasche mit allen Papieren gestohlen worden sei. Der Scheik blickte vom einen zum andern und zuckte schweigend die Achseln.

Davis' Augen hingen unverwandt an Gamâl.

»Können Sie begreifen,« sagte er, »welches Interesse Diebe im tiefsten Innern Indiens für Herrn Cunnings Papiere haben? Einem Globetrotter wie Cunning, dem Amerika zu klein geworden ist?«

Der Scheik musterte Ralph unter halbgeschlossenen Lidern.

»Wenn ich es noch gewesen wäre,« lachte Davis und erzählte in humoristischen Wendungen von seinem Liebesabenteuer in Madura.

»Also das ist der Zweck Ihrer Reise« – Gamâl lächelte nachsichtig.

»Ja – ein Ethnograph muß auch die Frauen des Landes kennen lernen. Aber ernsthaft gesprochen: ich würde es begreiflich finden, wenn man einen Professor wie mich verdächtigt, der keine Gelegenheit vorbeigehen läßt, um herumzustöbern, auch dort, wo er der Meinung der Eingeborenen nach nichts zu suchen hat. Meine Handtasche aber hat vor einem offenen Fenster gestanden – ich schlafe immer bei offenen Fenstern – und keiner hat sich daran vergriffen.«

Der Scheik betrachtete seine mit Leberflecken bedeckten Hände und erwiderte nichts.

»Ist man wirklich hier in Indien so nervös? – Was fürchtet man denn eigentlich?«

»Was weiß ich?« Der Scheik blickte mit einem müden Ausdruck in seinem unbeweglichen Gesicht zu ihm auf.

»Wir ermüden Herrn Gamâl,« sagte Ralph und erhob sich, »vergessen Sie nicht, daß wir einen Patienten besuchen.«

Der Scheik wehrte ab, erhob sich aber dennoch zum Abschied.

»Unten in der Halle begegnete uns eine hochinteressante Figur,« sagte Davis, als er zum Abschied dem Scheik die Hand drückte. »Ein Eingeborener in einem hellen Talar mit einer mächtigen Kopfbedeckung, die einem umgekehrten Weidenkorb glich. Er hatte bloße Füße und aschgraues Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte. Kann das ein Jogi gewesen sein, ein heiliger Wanderer? – Es ist schon lange mein Wunsch gewesen, einem solchen zu begegnen. Ich wollte ihn anreden, aber er war scheu und eilte vorbei. Glauben Sie, daß es ein Sannyasi war?«

Bei dem Wort Sannyasi fiel Ralph plötzlich ein, wo er diese merkwürdige Kopfbedeckung schon gesehen hatte. Der heilige Bettler, den er auf dem Markt in Kotagiri getroffen, während Davis in Madura war, hatte sie getragen – warum aber sagte Davis, daß sie dem Mann in der Halle begegnet waren?

Der Scheik blickte unter halbgeschlossenen Lidern vor sich hin, als suche er in seinem Gedächtnis.

»Ich weiß es nicht, ich habe nie solchen Mann gesehen.«

Als Ralph und Davis Gamâl verlassen hatten und wieder durch den Korridor gingen, fragte Ralph plötzlich Davis, indem er ihn scharf ansah:

»Warum sagten Sie Gamâl, daß wir dem Sannyasi in der Halle begegnet sind?«

Davis überlegte einen Augenblick. Dann fragte er statt zu antworten:

»Achteten Sie darauf, daß Gamâl sagte, er habe solchen Mann nie gesehen?«

Ralph nickte.

»Der Mann ist aber notorisch aus seinem Schlafzimmer gekommen.«

Ralph entsann sich, daß Davis die Tür zum Nebenzimmer geöffnet und nachher Gamâl gefragt hatte, ob es sein Schlafzimmer sei.

»Also,« entschied Davis, »entweder ist der heilige Wandersmann ein Dieb – oder Herr Gamâl-ed-dîn lügt.«

»In Ihnen ist ein hervorragender Detektiv verloren gegangen,« sagte Ralph und lachte.

Nach dem Frühstück, das sie zusammen eingenommen hatten, fuhr Davis allein aus. Er habe etwas in der Stadt zu besorgen, sagte er.

Sie blieben noch einige Tage und durchstreiften die verschiedenen Viertel von Bombay. Davis führte Ralph zu den Türmen des Schweigens, die einen starken Eindruck auf ihn machten; er mußte die ganze Zeit an Schehanna denken.

Am Abend vor ihrer Abreise lud Ralph Gamâl zum Mittagessen ein. Nachdem sie gegessen hatten, tranken sie den Kaffee in dem großen Rauchsalon, wo das Orchester die neuesten europäischen Operettenmelodien spielte.

Der Scheik erhob sich mit vielen Entschuldigungen – seine Gesundheit verlange, daß er zeitig zu Bett gehe. Und da Ralph und Davis zeitig am nächsten Morgen reisen wollten, bevor der Scheik aufgestanden war, verabschiedeten sie sich von ihm.

Ralph dankte ihm für das angenehme Beisammensein; auch Davis, dessen stärkste Seite Liebenswürdigkeit sonst nicht war, drückte ihm auffallend herzlich die Hand und sprach die Hoffnung aus, daß sie sich in einem andern Winkel Indiens wieder begegnen würden.

Als Gamâl gegangen und der gewohnte abendliche Whisky serviert war, sagte Ralph:

»Ich möchte wissen, was der Scheik eigentlich hier in Bombay vorhat. Heute nachmittag, als ich an meinem Fenster stand und durch das Fernglas eine Schar Eingeborener beobachtete, die zu einem festlich geschmückten Schoner hinausgerudert worden, sah ich an Bord unseren Scheik im eifrigen Gespräch mit einigen turbangeschmückten Herren. Ich möchte darauf wetten, daß er es war. Aber sagte er nicht, als ich ihn fragte, wie sein Befinden sei, daß er die ganze Zeit zwischen Frühstück und Mittag geschlafen habe?«

Davis nickte mehrmals vor sich hin, ohne zu antworten; er saß und sann. Darauf rückte er seinen Stuhl näher an Ralph heran, beugte sich zu ihm, nachdem er ihre Umgebung an den nächsten Tischen gemustert hatte und sagte:

»Der Scheik scheint eine vielseitige Natur zu sein. Vorgestern hat man ihn in einen Hindutempel hinter Pinjra Pol hineingehen sehen, wo kein Weißer Zutritt hat. Gestern morgen zu einer Zeit, wo wir andern noch in süßem Schlaf lagen, ist der arme leberkranke Mann in einem Haus im Chinesenviertel gesehen worden, und am selben Abend gegen elf Uhr hat er den heimlichen Klub der Japaner besucht.«

»Sie haben ihn also verfolgen lassen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Sport!«

»Unsinn,« sagte Ralph ärgerlich, »weswegen haben Sie ihn in Verdacht?«

»Ich habe alle und niemanden in Verdacht.«

»Mich auch?«

Davis lächelte mit all seinen Goldplomben.

»Sie auch – natürlich.«

Sie lachten alle beide herzlich.

Am nächsten Morgen reisten sie weiter.

* * *


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