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Dr. Luther sagt: »Als ich sah, daß Dr. Gode seine im Kamin hängenden Würste zu zählen begann, erklärte ich ihm, daß er nicht mehr lange leben werde!«
Ich wünschte, ich hätte diese Stelle aus den »Tischgesprächen« mit großen runden Buchstaben abgeschrieben und meinem Vater am Morgen vor jenem verhängnißvollen Abend, an welchem Onkel Jack ihn beredete, seine Würste zu zählen, beim Frühstück vorgelegt.
Und doch, wenn ich recht darüber nachdenke, so hing zwar Onkel Jack die Würste in den Kamin, brachte meinen Vater jedoch nicht dazu, sie zu zählen.
Außer einer unbestimmten Vermuthung, daß die Hälfte der Tomacula Bratwürste. des Rauchfangs ein Frühstück für Onkel Jack abgeben und der jugendliche Appetit des Anachronismus die andere Hälfte versorgen werde, verschwendete mein Vater keinen weiteren Gedanken an die nährenden Eigenschaften der Würste – mit andern Worten, an die zweitausend Pfund, welche, Dank meinem Onkel Jack, im Kamine baumelten. Was das große Werk betraf, so lag nur dessen Veröffentlichung meinem Vater am Herzen, nicht aber die von derselben zu erwartenden Vortheile. Ich will nicht sagen, daß er nicht nach Ruhm dürstete, allein ich bin fest überzeugt, daß er sich nicht im Geringsten um die Würste kümmerte. Gleichwohl war es eine schlimme und unglückliche Vorbedeutung für Austin Caxton, daß besagte Würste, welche er mit einem Male über sich erblickte, aus Jack Tibbets' glatten Händen hervorgegangen waren! Denn keine von all' den zahlreichen und verschiedenartigen Würsten, welche der arme Mann während seines ganzen Lebens in seinem eigenen oder in anderer Leute Kamin aufgehängt, hatten sich jemals als wirkliche Würste erwiesen – sie waren stets nur die eidola, die Erscheinungen, die Phantome und Gespenster von Würsten gewesen. Ich bezweifle, daß Onkel Jack viel von Democrit aus Abdera wußte; sicherlich aber war er von der Philosophie dieses wunderlichen Weisen angesteckt. Er belebte die Luft mit Bildern von colossalem Umfang, welche alle seinen Träumen und Ahnungen ihren Stempel aufdrückten, und unter deren Einfluß selbst seine innersten Gedanken und Gefühle standen. Sein ganzes Dasein, im Schlafen oder Wachen, war nichts, als der Wiederschein von großen, gespenstischen Würsten!
Sobald sich Mr. Tibbets in den Besitz der zwei Bände von der »Geschichte des menschlichen Irrthums« gesetzt, hatte er nothwendig auch jenen Anhaltspunkt an meinem Vater gefunden, den zu gewinnen seinen schlüpfrigen Händen bis jetzt nicht gelungen war. Wonach er so lange vergeblich geseufzt, der point d'appui Stützpunkt; im Militärischen jener Ort, wo die Truppen sich zur Schlacht sammeln., worin er die archimedische Schraube Förderanlage, die aus einer um eine Welle gewickelten Spirale und einem Trog besteht (»Schneckenpumpe«); ihre Erfindung wird dem griechischen Techniker Archimedes (287-212 v.u.Z.) zugeschrieben. befestigen konnte, war errreicht. Er bohrte sie mit Macht in die »Geschichte des menschlichen Irrthums« und bewegte die Caxton'sche Welt.
Einen oder zwei Tage nach der in meinem letzten Kapitel mitgetheilten Unterredung sah ich Onkel Jack aus den Mahagonithüren von meines Vaters Banquier herauskommen, und von dieser Zeit an schien kein Grund mehr vorhanden, weßhalb Mr. Tibbets seine Verwandten nicht eben so gut an Wochentagen, wie an Sonntagen, besuchen sollte. Es verging in der That kein Tag, ohne daß er lange Besprechungen mit meinem Vater gehabt hätte, er häufige Berichte über seine Verhandlungen mit den Buchhändlern erstatten mußte. In diesen Unterredungen kehrte ganz natürlich die großartige Idee seiner »Literarischen Times,« welche die Einbildungskraft meines armen Vaters so sehr geblendet hatte, immer wieder, und Onkel Jack war ein viel zu verständiger Mann, um das Eisen nicht zu schmieden, so lange es glühte.
Wenn ich an die Einfalt zurückdenke, welche mein weiser Vater in dieser Krisis seines Lebens an den Tag legte, so muß ich gestehen, daß ich weniger von Mitleid, als von Bewunderung, für diesen armen, hochherzigen Gelehrten bewegt bin. Wir haben gesehen, daß der Ehrgeiz, den ich den Instinct des Mannes von Genie nennen möchte, die zwanzigjährige Trägheit und Gleichgültigkeit des Forschers überwand, und die ernstlichen Vorbereitungen, das große Werk dem lesenden Publikum zugänglich zu machen, brachten ihm nun die Ansprüche der geräuschvollen Welt an jedes einzelne Glied derselben unmerklich wieder zum Bewußtsein. Daher denn auch der edle Vorwurf, den er sich machte, bisher so wenig für sein Geschlecht gethan zu haben. Genügte es, Quartbände über die vergangene Geschichte des menschlichen Irrthums zu schreiben? War es nicht seine Pflicht, nun sich die Gelegenheit dazu darbot, auf den gegenwärtigen, täglichen und stündlichen Kampf mit dem Irrthum einzugehen, in welchem der geschworene Ritterdienst des Wissens besteht? Der heilige Georg stritt nicht mit einem todten, sondern mit dem lebenden Drachen. Und London mit jener magnetischen Atmosphäre, welche in großen Städten den Athem des Lebens mit stimulirenden Theilchen erfüllt, trug dazu bei, den langsamen Puls des Gelehrten zu beschleunigen. Auf dem Lande hatte er nur seine alten Schriftsteller gelesen und mit ihnen die entschwundenen Jahrhunderte durchlebt. In London dagegen machte sich mein Vater in den Ruhepunkten, welche ihm das große Buch gestattete, und noch mehr jetzt, da dieses zu einer Pause gekommen war, mit der Literatur seiner eigenen Zeit bekannt. Der Eindruck, welchen er von derselben empfing, war ein wunderbarer. Er gehörte nicht zu dem gewöhnlichen Schlag von Gelehrten oder von Lesern überhaupt, welche in ihrer abergläubischen Huldigung für die Todten stets willig sind, die Lebendigen zum Opfer zu bringen. Vielmehr ließ er der erstaunlichen Fruchtbarkeit des Verstandes, welche die Literatur unserer Tage bezeichnet, volle Gerechtigkeit widerfahren. Unter unsern Tagen verstehe ich jedoch nicht bloß die gegenwärtige Zeit, sondern ich beginne mit dem Jahrhundert. »Was die Literatur unserer Periode charakterisirt,« bemerkte mein Vater eines Tages gegen Trevanion, »ist ihr menschliches Interesse. Es ist wahr, wir sehen nicht Gelehrte an Gelehrte sich wenden – aber der Mensch spricht zu dem Menschen; nicht, daß der Gelehrten weniger geworden wären – sondern das lesende Publikum hat sich vergrößert. Die Schriftsteller aller Zeiten behandeln das, was für ihre Leser Interesse hat, und was ein Dutzend Mönche oder Bücherwürmer interessirte, hat nicht die nämliche Bedeutung für ein großes Gemeinwesen. Die literarische Polis war einst eine Oligarchie – nun ist sie zur Republik geworden. Der allgemeine Glanz der Atmosphäre verhindert uns, die Größe irgend eines einzelnen Sternes zu erkennen. Sehen wir nicht, daß mit der Bildung der Massen die Literatur der Empfindungen erwacht ist? Jedes Gefühl findet einen Ausleger, ein Orakel. Gleich Epimenides Vorsokratischer Philosoph; Seher und Priester. Er soll der Sage nach einst in der Diktäischen Höhle bei Knossos geschlafen und erst nach 57 Jahren wieder aufgewacht sein. habe ich in einer Höhle geschlafen und sehe nun beim Erwachen Diejenigen, welche ich als Kinder gekannt, als bärtige Männer wieder, und in den Gegenden, die ich als einsame Wüsten verlassen, sind ganze Städte entstanden.«
Hieraus mag der Leser die Ursachen der Veränderung erkennen, welche über meinen Vater gekommen war. Von ihm galt, was Robert Hall Englischer Theologe und Kanzelredner (1764-1831)., wenn ich nicht irre, über Dr. Kippis Andrew Kippis (1725-1795), englischer Kleriker und Biograph, der immens viel schrieb. sagt – »er hat so viele Bücher auf seinen Kopf gelegt, daß das Gehirn sich nicht bewegen kann.« Allein die Electricität hatte jetzt das Herz durchdrungen, und die beschleunigte Kraft dieses edlen Organs befähigte das Gehirn, sich wieder zu rühren. Inzwischen überlasse ich jedoch meinen Vater diesen Einflüssen und den fortgesetzten Unterredungen mit Onkel Jack, um den Faden meines eigenen Ichs wieder aufzunehmen.
Mr. Trevanion gebührt der Dank dafür, daß meine Lebensweise keine solche war, welche Freundschaften mit Müssiggängern begünstigte; doch machte ich einige Bekanntschaften unter jungen Männern, einige Jahre älter, als ich, welche untergeordnete Stellen in den verschiedenen Kanzleien bekleideten, oder sich für die Advokatenlaufbahn vorbereiteten. Es fehlte diesen jungen Herrn durchaus nicht an Fähigkeiten, allein sie hatten sich noch nicht in die ernste Prosa des Lebens gefunden. Die Geschäfte des Tages machten sie nur um so geneigter, die Stunden der Erholung zu genießen. Und so bildeten wir, wenn wir zusammen kamen, eine sehr heitere, fröhliche Gesellschaft! Wir hatten weder Geld genug, um sehr verschwenderisch zu sein, noch Muße genug, um uns allzu vielen Zerstreuungen hinzugeben; gleichwohl unterhielten wir uns sehr gut. Meine neuen Freunde waren wunderbar bewandert in allem, was die Theater betraf. Von der Oper bis zum Ballet, von Hamlet bis zur neusten französischen Posse konnten sie die Bühnenliteratur an den Fingerspitzen ihrer strohgelben Handschuhe herzählen. Sie hatten eine ziemlich ausgedehnte Bekanntschaft unter Schauspielern und Schauspielerinnen und waren vollkommene Walpoluli Kleine Walpoles; Anspielung auf den bedeutenden englischen Whig-Politiker Robert Walpole (1676-1745). in den kleineren Skandalen des Tages. Um ihnen jedoch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß ich sagen, daß sie sich nicht gleichgültig zeigten gegen das männlichere Wissen, welches in »dieser verkehrten Welt« nöthig ist. Sie sprachen mit derselben Sachkenntniß von den handelnden Personen des wirklichen Lebens wie von deren Darstellern auf der Bühne und konnten die wetteifernden Ansprüche sich bekämpfender Staatsmänner haarklein auseinandersetzen. Sie behaupteten nicht, in die Mysterien fremder Kabinete tief eingeweiht zu sein (mit Ausnahme eines einzigen jungen Gentleman beim Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, welcher sich rühmte, genau zu wissen, was die Russen mit Indien thun würden – wenn sie es hätten!); dafür aber war die Mehrzahl derselben in die innersten Geheimnisse unseres eigenen Kabinetes eingedrungen. Allerdings hatte, in Gemäßheit einer passenden Vertheilung der Arbeit, jeder Einzelne von uns die ausschließliche Beobachtung irgend eines Mitglieds der Regierung auf sich genommen, gerade weil die geschicktesten Anatomen den Bau des ganzen menschlichen Körpers durchaus und gründlich kennen, ihren Ruf jedoch hauptsächlich dem Lichte verdanken, welches sie auf einzelne Theile desselben geworfen haben – der Eine wählt das Gehirn zu seinem besonderen Studium, ein Anderer den Magen, ein Dritter die Wirbelsäule, während ein Vierter vielleicht Meister all' der Symptome des Schreibekrampfes ist. So hatte sich einer meiner Freunde das Ministerium des Innern, ein Anderer die Colonien zugeeignet, und ein Dritter, den wir Alle für einen künftigen Talleyrand Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754-1838), einer der bekanntesten französischen Staatsmänner und Diplomat in allen Regimen seiner Zeit (Revolution, Napoleon, Restauration, Juli-Monarchie) hohe Ämter; Inbegriff des politischen Opportunismus. (oder wenigstens einen de Retz Jean-François Paul de Gondi, Kardinal de Retz (1613-79); seine Memoiren gelten als eine Art Lehrbuch der politischen Intrige und des Machtspiels.) hielten, dem ausschließlichen Studium Sir Robert Peel's Britischer Staatsmann und Politiker (1788-1850), gilt als Begründer der Konservativen Partei. sich gewidmet, so daß er aus der Art, in welcher dieser tiefdenkende und unerforschliche Staatsmann seinen Rock aufknöpfte, jeden Gedanken errieth, der seine Brust bewegte! Rechtsgelehrte oder Kanzleiangehörige, unleugbar hatten alle meine Freunde eine große Meinung von sich selbst – hohe Begriffe von dem, was sie eines Tages sein (nicht sowohl aber, was sie einst thun) würden. Wie der König der modernen Gentlemen, Voltaire umschreibend, von sich selbst sagte, so »hatten sie Briefe an die Nachwelt in ihren Taschen – die Wahrscheinlichkeit sprach jedoch dafür, daß sie die Ueberlieferung derselben vergessen würden.« Einige »Naseweisheit« war dem Einen oder dem Andern nicht abzusprechen, im Ganzen aber standen sie Alle weit über bloßen, dem Vergnügen nachjagenden Müßiggängern. Als Züge einer allgemeinen Familienähnlichkeit bemerkte man an ihnen eine übersprudelnde Lebensrührigkeit – ein harmloses Ueberquellen des Ehrgeizes – heiteren Ernst bei der Arbeit – und den Frohsinn eines Schulknaben in den Erholungsstunden.
Einen großen Gegensatz zu diesen jungen Männern bildete Sir Sedley Beaudesert, dessen ausgesuchten Wohlwollens ich mich zu erfreuen hatte, und dessen Junggesellenhaus mir Nachmittags immer offen stand. Vor dieser Zeit war Sir Sedley für Niemanden, als für seinen Kammerdiener, sichtbar. Ein Junggesellenhaus von größerer Vollkommenheit, als Sir Sedley's, kann ich mir in der That nicht denken – mit seinen Fenstern nach dem Park hinaus und den Sophas in den Fensternischen, auf welchen man sich behaglich ausstrecken konnte, gleich dem Philosophen im Lucrez, –
»
Despicere unde queas alios, passimque videre
Errare,«Lukrez,
De Rerum Natura, II, v. 9f.: »Wo du hinabsehn kannst auf andere, wie sie im Irrtum schweifen.« (nach K.L.v.Knebel 1821/31) –
und die fröhlichen Reiter in Rotten Row beobachten, ohne die Mühe zu haben, sich ihnen anzuschließen, und die Unannehmlichkeit, einem kalten Ostwind zu trotzen.
In den Zimmern bemerkte man kein Haschen noch Kostbarkeit, keine »Recherche« Gesuchtheit., wie die Tapezierer sagen, wohl aber einen wunderbaren Grad von Comfort. Jeder patentirte Stuhl, der eine Abwechslung in der Kunst, gemächlich auszuruhen, darbot, fand hier seine Stelle, und bei jedem stand ein kleines Tischchen, um das eben gebrauchte Buch oder die Kaffeetasse aufzunehmen, deren man sich entledigen möchte, ohne mehr, als die Hand, zu bewegen. Im Winter konnte man sich nichts Wärmeres denken, als die wattirten Vorhänge und die Axminster Teppiche Axminster ist eine Kleinstadt in der südwestenglischen Grafschaft Devon. 1755 gründete Thomas Whitty hier eine Teppichfabrik. Der Axminster-Teppich mit seiner samtigen Oberfläche besitzt weltweit bis heute einen guten Ruf., im Sommer nichts Luftigeres und Kühleres als die Musselindraperien und die indischen Matten. Endlich behaupte ich kühn, daß kein Mensch wissen kann, zu welcher Höhe der Vollkommenheit die Kochkunst sich erheben läßt, er habe denn ein Diner bei Sir Sedley Beaudesert eingenommen. Wahrhaftig, wäre diese ausgezeichnete Persönlichkeit ein Egoist gewesen, er hätte der glücklichste der Menschen sein müssen. Unglücklicherweise für ihn war er aber ausnehmend gutherzig und wohlwollend. Er hatte zwar die bonne digestion, aber nicht das andere Erforderniß zu weltlicher Glückseligkeit – das mauvais cœur. Gute Verdauung – böses Herz. Er fühlte ein aufrichtiges Bedauern mit Jedem, der nicht in Zimmern mit Patentstühlen und kleinen Kaffeetischchen wohnte – dessen Fenster nicht auf den Park hinaussahen und keine Sophas in ihren Vertiefungen hatten. Wie Heinrich IV. jedem seiner Unterthanen einen pot au feu wünschte Gemeint ist Heinrich von Navarra (1553-1610), als frz. König Heinrich IV. In einem Gespräch mit Karl Emanuel I. von Savoyen äußerte Heinrich den Wunsch, »Wenn mir Gott zu leben erlaubt, werde ich dafür sorgen, dass es in meinem Land keinen Bauern gibt, der sonntags nicht sein Huhn im Topf ( pot au feu) hat!«, so würde, wenn es nach Sir Sedley Beaudesert's Willen gegangen wäre, Jedermann eine frühe Gurke zu seinem Fisch und eine Flasche Eiswasser zu seinem Brod und Käse gehabt haben. Ebenso legte er über Politik eine naive Einfalt an den Tag, welche einen entzückenden Gegensatz zu seinem feinen Urtheil in Dingen des Geschmacks bildete. Ich erinnere mich, bei einer Debatte über die Bierbill Biersteuer. die Worte von ihm gehört zu haben: »Man sollte den Armen nicht gestatten, Bier zu trinken, da es sehr zu Rheumatismen geneigt macht. Das beste Getränke bei schwerer Arbeit ist Champagner (aber nicht moussirender). Ich habe diese Erfahrung gemacht, als ich in den Mooren zu jagen pflegte.«
So indolent Sir Sedley auch war, so hatte er dennoch seinem Reichthum eine außerordentliche Zahl von Abzugs-Kanälen zu eröffnen gewußt.
Erstlich war er Landeigenthümer, und die Bittschriften unglücklicher Farmer, betagter Armen, der Wohlthätigkeitsvereine und der Wilddiebe, welch' letztere brodlos geworden, weil er seinen Pächtern zu Gefallen seine Jagden hatte eingehen lassen, nahmen kein Ende.
Alsdann war er ein Lebemann, und als solcher hatte das ganze weibliche Geschlecht rechtmäßige Ansprüche an ihn. Von der unglücklichen Herzogin an, deren Porträt perdu unter einer geheimen Feder seiner Tabaksdose lag, bis zu der geringsten Wäscherin, welcher er vielleicht ein Kompliment über die vollkommenen Falten eines Busenstreifs zu machen hatte, genügte es vollständig, eine Tochter Eva's zu sein, um gerechte Ansprüche an Sir Sedley's Adamische Erbschaft zu erheben.
Ferner war es ihm, als einem Kunstfreund und ergebenen Diener aller Musen, vorbehalten, Derjenigen sich anzunehmen, welchen das Publikum seine Anerkennung versagte. Zahllose Maler, Schauspieler, Dichter und Musiker wandten sich, wie sterbende Sonnenblumen der Sonne, dem mitleidsvollen Lächeln Sir Sedley Beaudesert's zu. Rechnet man die große, gemischte Menge, welche »von Sir Sedley's hohem Wohlthätigkeitssinn gehört hatte,« noch hinzu, so kann man sich leicht denken, wie theuer ihn sein Ruf zu stehen kam. In der That, obgleich Sir Sedley nicht den fünften Theil seines sehr schönen Einkommens für sich selbst verwenden konnte, so zweifle ich doch nicht, daß er es schwierig fand, Einnahmen und Ausgaben am Schluß des Jahres in Uebereinstimmung zu bringen. Daß es ihm gelang, verdankte er vielleicht zwei Regeln, an welchen er unabänderlich festhielt: er machte niemals Schulden und spielte nie. Diese beiden bewunderungswürdigen Ausnahmen von der gewöhnlichen Weise vornehmer Herrn hatten, wie ich glaube, ihren Grund in der Weichheit seines Charakters. Die Unglücklichen, welche von Gläubigern verfolgt wurden, erfüllten ihn mit großem Mitleid. »Der arme Mensch!« konnte er sagen, »wie peinlich muß es ihm sein, sein ganzes Leben lang ›Nein‹ zu sagen!« So wenig kannte er diese Klasse von Versprechern – als ob ein von Schulden Geplagter jemals ›Nein‹ sagte! Wie Beau Brummell George Bryan Brummell (1778-1840), englischer Lebemann, modische Stilikone; er ist der zuvor im Text erwähnte »König der modernen Gentlemen«. auf die Frage, ob er Gemüse liebe, gestand, er habe einmal eine Erbse gegessen, so gestand Sir Sedley Beaudesert, einmal hoch Piquet gespielt zu haben. »Ich war so unglücklich, zu gewinnen,« sagte er in Bezug auf diese Unbescheidenheit, »und werde nie die Angst in den Zügen des Mannes vergessen, der mich bezahlen mußte. Wenn ich nicht immer verlieren könnte, wäre es ein wahrhaftes Fegfeuer für mich, zu spielen.«
Niemand konnte in der Art, Wohlthätigkeitsspenden auszutheilen, verschiedener sein, als Sir Sedley und Mr. Trevanion. Letzterer verachtete es gründlich, Almosen an einzelne Personen zu geben. Selten zog er seinen Beutel – er schrieb vielmehr eine große Anweisung auf seinen Banquier. War ein Gemeinde ohne Kirche, ein Dorf ohne Schule, oder ein Fluß ohne Brücke, so fing Mr. Trevanion an, zu berechnen, fand mit Hülfe eines algebraischen a–y die erforderliche Summe genau heraus und bezahlte sie, wie er seinen Bäcker oder Metzger bezahlt haben würde. Es muß indeß zugegeben werden, daß ein Unglücklicher, den er wirklich für würdig erkannte, sich nicht vergeblich an ihn wandte; doch war es erstaunlich, wie wenig er in dieser Weise ausgab, denn es hielt in der That schwer. Mr. Trevanion zu überzeugen, daß ein würdiger Mann jemals in der Lage sein könne, die Mildthätigkeit Anderer in Anspruch nehmen zu müssen.
Gleichwohl glaube ich, daß Trevanion unendlich mehr wahrhaft Gutes wirkte, als Sir Sedley; allein es war bei ihm Sache des Verstandes – durchaus kein freier Antrieb des Herzens. Es thut mir leid, sagen zu müssen, daß der Hauptunterschied darin bestand: das Unglück schien sich stets um Sir Sedley anzuhäufen, in Trevanion's Gegenwart aber zu verschwinden. Wo der Letztere mit seinem thätigen, durchdringenden Geist hinkam, da erwachte die Thatkraft, und Verbesserungen wurden in kurzer Zeit sichtbar; wo aber der Erstere mit seinem warmen, wohlwollenden Herzen sich zeigte, da verbreiteten die Strahlen desselben eine Art von Erschlaffung, und die Leute legten sich nieder, um sich von dieser großmüthigen Sonne bescheinen zu lassen. Die Natur zeigte sich in dem Einen als ein frischer, stärkender Winter, in dem Andern als ein ermattender italienischer Sommer. Wir haben ohne Zweifel die anregende, belebende Kraft des Winters schon oft und sehr angenehm empfunden, dennoch aber lieben wir Alle den Sommer weit mehr.
Als Beweis nun, wie liebenswerth Sir Sedley war, mag der Umstand dienen, daß ich ihn liebte, obgleich ich mit eifersüchtigen Augen auf ihn blickte. Denn von allen Satelliten, die meine schöne Cynthia Kynthia ist einer der Beinamen der griechischen Göttin Artemis., Fanny Trevanion, umschwärmten, war es dieses freundliche Gestirn, das ich am meisten fürchtete. Vergebens sagte ich mir mit der Anmaßung der Jugend, daß Sir Sedley Beaudesert in demselben Alter, wie Fanny's Vater, siehe – wenn man sie beisammen sah, konnte man ihn für Trevanion's Sohn halten. Nicht ein Einziger unter der jüngeren Generation durfte sich einer ähnlichen Schönheit rühmen, wie Sir Sedley sie besaß; üppigere Locken und blühendere Farben mochten ihn vielleicht beim ersten Anblick verdunkeln, allein er brauchte nur zu sprechen oder zu lächeln, um eine ganze Herde von Zierbengeln in den Schatten zu stellen. Es war der Ausdruck seiner Züge, welcher bezauberte – Güte, Wohlwollen, Offenheit und Freundlichkeit sprachen so deutlich aus denselben. Und wie gut verstand er die Frauen! Wie unmerklich wußte er ihren Schwächen zu schmeicheln, mit welch' anmuthiger Würde ihre Gefühle zu beherrschen! Seine Kenntnisse, sein guter Name, seine lange Ehelosigkeit und die sanfte Melancholie in seinem ganzen Wesen genügten vollkommen, ihnen stets Interesse für ihn einzuflößen. Es gab keine bezaubernde Frau, welche nicht scheinbar eben im Begriffe stand, diesen bezaubernden Mann in ihren Schlingen zu fangen – wie im durchsichtigen Bache die silberglänzende Forelle gedankenvoll hin und her schwimmt, zu der Lockfliege hin und wieder zurück, bald wollend, bald nicht wollend! Und was für eine Forelle! Es wäre Jammerschade, sie aufzugeben, da sie augenscheinlich nicht lange mehr widerstehen kann! Aber die Forelle, schöne Jungfrau oder zarte Wittwe, wird Dich festhalten vom Morgen bis zum thauigen Abend, und noch immer wirst Du sie, glücklich die Fliege umgehend, den Strom auf und abschwimmen sehen. Gewiß, ich wünsche meinem ärgsten Feind von fünf und zwanzig Jahren nichts Schlimmeres, als einen Nebenbuhler, wie Sir Sedley Beaudesert mit sieben und vierzig Jahren.
Fanny quälte und verwirrte mich nicht wenig. Zuweilen glaubte ich, ihr nicht gleichgültig zu sein, allein kaum hatte mich dieser Gedanke mit seinem Entzücken durchbebt, als er schon wieder vor dem frostigen Hauche eines kalten Blickes oder spöttischen Lachens dahinschwand. Sie war der verzogene Liebling der Welt, und erschien in ihrem übersprudelnden Glücke so unschuldig, daß man alle ihre Fehler in der Atmosphäre der Freude vergaß, welche sie um sich her verbreitete. Und trotz ihres liebenswürdigen Uebermuthes barg sie ein so feinfühlendes Frauenherz unter der Oberfläche! Sah sie, daß sie Jemand gekränkt hatte, so zeigte sie sich so weich, so einschmeichelnd und demüthig, bis die Wunde wieder geheilt war. Dann aber, wenn sie glaubte, zu sehr gefallen zu haben, hatte die kleine Hexe keine Ruhe – sie mußte wieder von Neuem quälen. Als Erbin eines so reichen Vaters, oder vielmehr einer so reichen Mutter (denn das Vermögen rührte von Lady Ellinor her), war sie natürlich von vielen nicht ganz uneigennützigen Verehrern umringt, und sie that wohl daran, diese zu quälen, aber mich! Armer Junge, der ich war – weßhalb sollte ich weniger uneigennützig erscheinen, als Andere? wie konnte sie wissen, was in der Tiefe meines jugendlichen Herzens verborgen lag? War ich nicht in den Augen der Welt der unwürdigste ihrer Bewerber und daher dem Verdachte der Habsucht und Geldgier am meisten ausgesetzt? Und doch sah ich in ihr niemals die reiche Erbin, oder, wenn der Gedanke daran mich durchzuckte, so erfaßte mich Schrecken, und meine Wangen erblaßten! Beim ersten Blick aus ihren Augen verschwand der böse Gedanke jedoch wieder, wie das Gespenst vor dem Anbruch des Tages. Wie schwer ist es doch, die Jugend, welche die ganze Zukunftswelt vor sich sieht und dieselbe mit goldenen Palästen schmückt, von den Ungleichheiten des Lebens zu überzeugen! In meiner phantastischen, romantisch gesteigerten Stimmung ließ ich meine Blicke in jene Welt der Zukunft schweifen – ich sah mich als Redner, Staatsmann, Minister, Gesandten – der Himmel weiß, als was sonst noch – und legte meine Lorbeeren, die ich mit einem Einkommensverzeichniß verwechselte, zu Fanny's Füßen nieder!
Was auch Fanny über den Zustand meines Herzens entdeckt haben mochte, jedenfalls schien es ein Abgrund zu sein, in welchen zu schauen weder Trevanion noch Lady Ellinor für der Mühe werth hielt. Ersterer war, wie natürlich, zu sehr beschäftigt, um an solche Kleinigkeiten zu denken, und Lady Ellinor behandelte mich als einen bloßen Knaben – ich möchte beinahe sagen, wie ihren eigenen Sohn, so gütig war sie gegen mich. Sie schenkte jedoch den Dingen, welche in ihrer unmittelbaren Umgebung lagen, nicht viele Aufmerksamkeit. Im Schimmer der Unterhaltung mit Dichtern, großen Geistern und Staatsmännern – in lebendiger Theilnahme an den Anstrengungen ihres Gatten – oder in stolzen Entwürfen für die Vergrößerung seines Ruhmes lebte Lady Ellinor ein Leben fortwährender Aufregung. Ihre großen, funkelnden Augen, in denen sich eine fieberhafte Unzufriedenheit aussprach, blickten in weite Fernen, als suchten sie dort neue Welten zu erobern – die Welt zu ihren Füßen aber war aus ihrem Gesichtskreis ausgeschlossen. Sie liebte ihre Tochter, sie war stolz auf sie und vertraute ihr mit der Ruhe der Zuversicht – allein sie wachte nicht über sie. Lady Ellinor stand allein auf einem Berge, von einer Wolke umhüllt.
Eines Tages hatten sich Trevanions zu einem Besuche auf den Landsitz eines ehemaligen Ministers begeben, der ein entfernter Verwandter von Lady Ellinor war und zu den wenigen Personen gehörte, welche zu Rathe zu ziehen Trevanion sich herabließ. Ich hatte somit einen Feiertag und beschloß. Sir Sedley Beaudesert aufzusuchen. Längst schon hätte ich ihn gerne über einen Gegenstand ausgeforscht, doch immer hatte mir der Muth dazu gefehlt. Heute nun wollte ich es wagen.
»Ah! mein junger Freund!« sagte Sir Sedley, sich von der Betrachtung eines schlechten Bildes erhebend, welches er so eben aus Mitleid einem jungen Künstler abgekauft hatte. »Ich dachte diesen Morgen an Sie. – Warte einen Augenblick, Summers (dies zu seinem Kammerdiener). Habe die Güte, dieses Bild fortzunehmen; lasse es einpacken und auf mein Landgut schicken. Es gehört zu jener Art von Gemälden, welche ein großes Haus bedürfen,« setzte er zu mir gewendet hinzu. »Ich habe dort eine alte Gallerie mit kleinen Fenstern, die kein Licht hereinlassen – es ist erstaunlich, wie gut mir dieselbe schon gekommen ist!«
Sobald das Bild fortgenommen worden, athmete Sir Sedley tief auf, als fühle er sich sehr erleichtert, und fuhr in heiterem Tone fort –
»Ja, ich dachte an Sie, und wenn Sie mir, als einem alten Freunde Ihres Vaters, eine Einmischung in Ihre Angelegenheiten vergeben wollen, so würde ich mich sehr geehrt fühlen durch Ihre Erlaubniß. Trevanion zu fragen, welchen Nutzen er denn eigentlich für Sie im Auge hat, indem er eine so unsinnige Arbeitslast auf Ihre Schultern legt –«
»Aber, mein bester Sir Sedley, die Arbeit ist mir lieb, und ich bin vollkommen zufrieden –«
»Immer der Secretär eines Mannes zu bleiben, der, wenn es unter den Menschen nichts mehr zu thun gäbe, den Ameisen Unterricht ertheilen würde, wie sie ihre Hügel nach bessern architektonischen Grundsätzen bauen könnten? Mein lieber Freund, Trevanion ist ein entsetzlicher, ein erstaunlicher Mann, und man wird müde, wenn man nur drei Minuten mit ihm in demselben Zimmer ist! In Ihrem Alter, einem Alter, welches so glücklich sein sollte,« fuhr Sir Sedley mit einer wahrhaft engelgleichen Theilnahme fort, »ist es traurig, so wenig Vergnügen zu haben.«
»Aber, Sir Sedley, ich versichere Sie, Sie irren sich. Ich freue mich meines Lebens und meiner Jugend – und hörte ich nicht sogar aus Ihrem Munde das Geständniß, daß man müßig und doch nicht glücklich sein könne?«
»Ich war schon vierzig vorüber, als ich dies zugab!« erwiederte Sir Sedley, während ein leichter Schatten über seine Stirne glitt.
»Niemand würde glauben, daß Sie die Vierzig schon überschritten haben!« sagte ich mit schlauer Schmeichelei, indem ich meinem Gegenstand näher rückte. »Miß Trevanion zum Beispiel –«
Ich hielt inne – Sir Sedley sah mich aus seinen glänzenden dunkelblauen Augen scharf an.
»Nun – Miß Trevanion zum Beispiel?«
»Miß Trevanion, die von den schönsten Jünglingen Londons umringt ist, zieht Sie augenscheinlich ihnen allen vor,« erwiederte ich; die letzten Worte blieben mir jedoch fast in der Kehle stecken, allein ich war fest entschlossen, in's Klare über den Grund oder Ungrund meiner Befürchtungen zu kommen.
Sir Sedley erhob sich, legte freundlich seine Hand auf die meinige und sagte: »Lassen Sie sich durch Fanny Trevanion nicht noch mehr quälen, als durch ihren Vater!«
»Ich verstehe Sie nicht, Sir Sedley!«
»Aber wenn ich Sie verstehe, so gehört dies mehr zur Sache. Ein Mädchen, wie Fanny Trevanion, ist grausam, bis sie entdeckt, daß sie ein Herz hat. Es ist jedoch gefährlich, sein eigenes an ein solches Mädchen zu verlieren, so lange sie nicht aufgehört hat, kokett zu sein. Mein lieber junger Freund, wenn Sie das Leben weniger ernst nähmen, so würde ich Ihnen den Schmerz dieser Winke ersparen. Manche Menschen pflanzen Bäume, andere säen Blumen – Sie pflanzen einen Baum, unter welchem, wie sie bald finden werden, keine Blume wächst. Wohl und gut, wenn der Baum so lange stehen bleibt, bis er Früchte trägt und Schatten gibt; aber nehmen Sie sich in Acht, daß Sie ihn nicht eines Tages ausreißen müssen, denn dann – was dann? nun, dann werden Sie finden, daß Sie mit den Wurzeln auch Ihr Leben ausgerissen haben!«
Sir Sedley sprach diese letzten Worte mit einem so ernsten Nachdruck, daß ich die Verwirrung vergaß, in welche mich der erste Theil seiner Anrede versetzt hatte. Er schwieg lange, klopfte auf seine Tabaksdose, nahm langsam eine Prise und fuhr alsdann mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit fort:
»Gehen Sie, so viel Sie können, in die Welt. Noch einmal sage ich: genießen Sie Ihr Leben! Und noch einmal frage ich, was soll Ihnen all' Ihr Arbeiten nützen? Manche Menschen, die vielleicht weit unter Trevanion stehen, würden sich dadurch verpflichtet fühlen. Ihnen zu einer praktischen Laufbahn behülflich zu sein oder Ihnen ein öffentliches Amt zu sichern. Bei ihm ist dies nicht der Fall. Er würde nicht einen Zoll von seiner Unabhängigkeit verpfänden, um sich eine Gunst von einem Minister zu erbitten. Er hält Beschäftigung so sehr für das größte Glück des Lebens, daß er Ihnen aus reinem Wohlwollen mehr, als Ihr redlich Theil daran, zukommen läßt. Ueber Ihre Zukunft macht er sich keine Gedanken; dafür, vermuthet er, werde Ihr Vater sorgen, und bedenkt dabei nicht, daß inzwischen Ihre Arbeit zu nichts führt! Ueberlegen Sie dies alles wohl. Ich habe Sie jetzt genug gelangweilt.«
Ich war verwirrt – ich vermochte nicht zu antworten. Diese praktischen Weltmenschen verstehen es, durch Ueberraschung zu wirken! Hier war ich gekommen, um Sir Sedley auszuforschen, und statt dessen ward ich selbst ausgeforscht, geeicht, gemessen und mein Innerstes nach außen gekehrt, ohne auch nur einem Zoll unter die Oberfläche jener sanften, lächelnden Ruhe vorgedrungen zu sein. Und doch hatte bei seinem stets gleichen Zartgefühl Sir Sedley trotz seiner schrecklichen Offenheit nicht ein Wort gesagt, welches meine Eigenliebe an ihrer empfindlichsten Stelle hätte verwunden können – nicht ein Wort über das Unpassende meiner Anmaßung, im Ernste an Fanny Trevanion zu denken. Wäre ich der Seladon eines Bauerndorfes und Fanny meine Chloë gewesen, er hätte uns nicht als auf gleicherer Stufe stehend betrachten können, so weit das Urtheil der Welt ging. Und im Uebrigen deutete er eher an, daß die arme Fanny, die reiche Erbin, meiner nicht würdig sein könnte, als daß ich nicht den Muth haben dürfte, mich ihr zu nahen.
Ich fühlte, daß durch ein stotterndes und erröthendes Leugnen nichts gewonnen gewesen wäre; so streckte ich Sir Sedley meine Hand hin, griff nach meinem Hut – und ging. Unwillkührlich lenkte ich meine Schritte nach dem Hause meines Vaters, woselbst ich viele Tage nicht gewesen war. Nicht nur hatten mich meine Arbeiten sehr in Anspruch genommen, sondern – ich schäme mich, es zu gestehen. – auch meine Mußestunden waren durch das Vergnügen so vollständig ausgefüllt und hauptsächlich Miß Trevanion gewidmet gewesen, daß ich ohne die geringste schlimme Ahnung meinen armen Vater den Netzen Onkel Jack's überlassen hatte, in welchen er immer schwächer und schwächer hin und her flatterte. Bei meiner Ankunft in Russel Street fand ich die Fliege und die Spinne dicht bei einander. Kaum hatte mich Onkel Jack erblickt, als er mit den Worten aufsprang: »Gratulire Deinem Vater! Nein – vielmehr gratulire der Welt!«
»Wie, Onkel!« erwiederte ich mit einer traurigen Anstrengung, eine lebhafte Theilnahme zu zeigen, »ist die ›Literarische Times‹ endlich vom Stapel gelassen?«
»O, das ist alles in Ordnung – schon seit lange. Hier ist eine Probe der Schrift, die wir für die Leitartikel gewählt haben.«
Und Onkel Jack, in dessen Tasche sich immer ein nasser Bogen irgend welcher Art befand, zog ein dampfendes Papierungeheuer hervor, welches sich seinem Umfange nach zu der politischen »Times« etwa wie ein Mammuth zu einem Elephanten verhielt.
»Das ist alles längst in Ordnung. Wir haben uns noch unsere Correspondenten vorzubereiten und werden unser Programm in der nächsten oder übernächsten Woche ausgeben. Nein, Pisistratus, ich meine das große Werk.«
»Mein theurer Vater, wie freue ich mich! So ist es also wirklich verkauft?«
»Hm!« erwiederte mein Vater.
»Verkauft!« rief Onkel Jack ungestüm. »Verkauft? Nein, Herr, wir verkaufen es nicht! Nein, und wenn alle Buchhändler auf die Kniee vor uns niederfielen – und das werden sie eines Tages! – das Buch wird nicht verkauft! Neffe, dieses Buch ist eine Revolution – es ist eine Aera – es ist der Befreier des Genius von der schnöden Sclaverei; – dieses Buch! –«
Ich blickte fragend von meinem Onkel auf meinen Vater und nahm im Geiste meine Glückwünsche wieder zurück. Leicht erröthend und schüchtern seine Brille abreibend sagte hierauf Mr. Caxton: »Du siehst, Pisistratus, daß es dem armen Jack trotz seiner rastlosen Bemühungen nicht gelungen ist, die Verleger zu der Anerkennung des Werthes zu vermögen, welchen er in der ›Geschichte des menschlichen Irrthums‹ entdeckt hat.«
»Keine Rede davon – sie Alle erkennen die wunderbare Gelehrsamkeit vollkommen an –«
»Ganz richtig; aber sie glauben nicht, daß sie das Buch gut verkaufen könnten und weigern sich daher sehr selbstsüchtiger Weise, es zu übernehmen. Einer der Buchhändler war allerdings geneigt, auf Unterhandlungen einzugehen, wenn ich mich dazu verstünde, alles über die Hottentoten und Kaffern, die griechischen Philosophen und ägyptischen Priester auszulassen, mich blos auf die gebildete Gesellschaft zu beschränken und dem Werke den Titel zu geben: ›Anekdoten von den alten und neuen europäischen Höfen‹.«
»Der Elende!« stöhnte Onkel Jack.
»Ein Anderer meinte, man könnte es in kleine Abhandlungen zerlegen, die Citate auslassen und den Titel wählen: ›Menschen und Sitten.‹ Ein Dritter war freundlich genug, zu bemerken, daß zwar gerade dieses Werk ganz und gar unverkäuflich sei, ich jedoch einige historische Kenntnisse zu besitzen scheine, und er sich daher glücklich schätzen würde, einen historischen Roman von ›meiner graphischen Feder‹ zu übernehmen – nicht wahr, Jack, so lauteten seine Worte?«
Jack vermochte nicht zu antworten – sein Herz war zu voll.
– »Vorausgesetzt, daß ich eine passende Liebesintrigue darin anbringe, und das Ganze drei Octavbände fülle, dreiundzwanzig Zeilen auf jede Seite, nicht mehr und nicht weniger. Zuletzt fand sich ein ehrlicher Mann, der mir sehr achtbar und in der That unternehmend zu sein schien. Er stellte seine Berechnungen an, und da sich dabei zeigte, daß kein möglicher Gewinn damit zu erzielen war, so erbot er sich großmüthig, mir die Hälfte dieses negativen Profits zu überlassen, wenn ich für die Hälfte der sehr positiven Auslagen einstehen wolle. Ich überlegte eben, ob es wohl rathsam wäre, diesen Vorschlag anzunehmen, als Dein Onkel von einer erhabenen Idee ergriffen wurde, welche mein Buch in einen Wirbelwind von Erwartungen geschleudert hat.«
»Und diese Idee?« frug ich kleinlaut.
»Diese Idee,« erwiederte Onkel Jack, der sich nun wieder erholt hatte, »ist kurz und einfach folgende. Seit unvordenklichen Zeiten sind die Schriftsteller die Beute der Verleger gewesen. Große Autoren haben in Dachstübchen gelebt – ja, sind auf der Straße an einer unerwarteten Brodkruste erstickt, wie jener Schauspieldichter, der arme Mann!«
»Otway Thomas Otway (1652-1685), englischer Dramatiker in der Zeit der Stuart-Restauration. Theophilus Cibber berichtet in seinem Buch Lives of the Poets (1753), er sei schließlich an einem Stück Brot erstickt, das er sich von einer erbettelten Guinee gekauft habe. Willibald Alexis hat dies in seinem Roman »Schloß Avalon« (1827) aufgegriffen.,« ergänzte mein Vater. »Die Geschichte ist zwar nicht wahr – doch, das thut nichts zur Sache.«
»Milton erhielt, wie Jedermann weiß, Zehn Pfund für sein Verlorenes Paradies – zehn Pfund, Neffe! Kurz, derartige Beispiele sind zu zahlreich, um sie alle anzuführen. Aber die Buchhändler, Neffe – sie sind Leviathans – sie schwimmen in Meeren von Gold. Sie nähren sich von den Schriftstellern, wie die Vampyre von den kleinen Kindern. Aber zuletzt hat die Geduld ihr Ende erreicht – das Fiat ist erschollen – die Sturmglocke der Freiheit ertönt – die Fesseln der Autoren sind zerbrochen! Wir haben soeben die ›Große Anti-Buchhandels-Autoren-Verbindung‹ in's Leben gerufen, durch welche – merke wohl auf, Pisistratus – durch welche jeder Schriftsteller sein eigener Verleger wird – das heißt, jeder Schriftsteller, der als Mitglied in die Gesellschaft eintritt. Keine unsterblichen Werke sollen mehr einer gewinnsüchtigen Berechnung, einem schmutzigen Geschmack unterworfen werden; das Handeln und Mäckeln ist vorbei; die gebrochenen Herzen haben aufgehört! Keine großen Dichter werden mehr auf der Straße an Brodkrusten ersticken – Verlorene Paradiese nicht länger mehr um zehn Pfund verkauft werden! Der Autor übergibt sein Werk einem auserlesenen Comité, welches zu diesem Zweck ernannt ist und aus Männern von Zartgefühl, Erziehung und feinster Bildung besteht. Diese, selbst Schriftsteller, lesen und prüfen das ihnen Mitgetheilte; alsdann wird es von der Gesellschaft herausgegeben, und nach einem bescheidenen Abzug, welcher den Fonds der Gesellschaft anheimfällt, händigt der Zahlmeister dem Schriftsteller den Gewinn ein.«
»Da wird in der That jeder Autor, der sonst nirgends einen Verleger finden kann, zu der Gesellschaft kommen, Onkel. Die Genossenschaft wird zahlreich sein!«
»Das wird sie ohne Zweifel.«
»Und die Spekulation – zu Grunde richtend!«
»Zu Grunde richtend? Warum?«
»Weil in allen kaufmännischen Geschäften ein Kapital verloren ist, das auf nicht gesuchte Gegenstände verwendet wird. Ihr unternehmt es, Bücher herauszugeben, welche von den Buchhändlern zurückgewiesen worden, weil sie keinen Absatz dafür haben. Nun ist es ziemlich wahrscheinlich, daß Ihr sie eben so wenig verkaufen werdet, wie die Buchhändler, und je ausgedehnter also Euer Geschäft, desto größer wird Euer Deficit, je zahlreicher Eure Gesellschaft, desto schlimmer Eure Lage sein.«
»Pah! Das Comité wird entscheiden, welche Bücher gedruckt werden sollen.«
»Wo zum Henker ist dann der Vortheil für die Schriftsteller? Ich würde ganz gewiß mein Werk eben so gerne von einem Buchhändler, als von einem auserlesenen Comité von Schriftstellern beurtheilen lassen. Jedenfalls ist der Buchhändler nicht mein Nebenbuhler und vermuthlich doch wohl im Grunde der beste Richter eines Buches – wie der Geburtshelfer sich auf ein neugeborenes Kind verstehen wird.«
»Auf mein Wort, Neffe. Du machst dem großen Werke Deines Vaters, mit welchem die Buchhändler nichts zu thun haben wollen, ein schlechtes Kompliment.«
Das war listig gesagt, und ich schwieg verlegen, worauf Mr. Caxton mit einem entschuldigenden Lächeln bemerkte –
»Die Sache ist nämlich die, mein lieber Pisistratus, daß ich mein Buch drucken lassen möchte, ohne das kleine Vermögen zu vermindern, welches Dir eines Tages bestimmt ist. Onkel Jack gründet nun eine Gesellschaft, wodurch die Erfüllung meines Wunsches ermöglicht wird. Möge Onkel Jack's Gesellschaft lange leben und blühen! Einem geschenkten Pferd sieht man nicht nach den Zähnen.«
In diesem Augenblick trat meine Mutter ein, mit rosigen Wangen von einem weiten Gange zurückkehrend, welchen sie mit Mrs. Primmins in verschiedene Läden Londons unternommen hatte, und in ihrer Freude darüber, daß ich zu Tische bleiben konnte, wurde alles Andere vergessen. Durch ein Wunder, welches ich nicht beklagte, war Onkel Jack an diesem Tage wirklich anderwärts eingeladen. Er hatte noch andere Eisen im Feuer, außer der »Literarischen Times« und der »Anti-Buchhandels-Autoren-Verbindung«; er war in einen Entwurf vertieft, Dachgiebel aus Filz anzufertigen (was, wie ich glaube, inzwischen andern Händen gelungen ist) und hatte einen reichen Mann (vermuthlich einen Hutmacher) aufgefunden, der dem Projekte geneigt zu sein schien und ihn eingeladen hatte, ein Diner bei ihm einzunehmen und seine Ansichten weiter zu entwickeln!
Wir sitzen nach Tische alle drei an dem offenen Fenster – so traulich, wie in den glücklichen alten Zeiten – und meine Mutter spricht leise zu mir, um meinen Vater nicht zu stören, der in Gedanken vertieft zu sein scheint. –
Kr-kr-krrr-kr-kr! Ich fühle es – ich habe es! – Wo? Was? Wo? Fort damit – streift es ab! Um des Himmels willen, seht darnach! – Krrrr – krrrrr – da – hier – in meinen Haaren – in meinem Aermel – in meinem Ohr! – Kr – kr.
Ich erkläre feierlich und bei dem Worte eines Christen, daß als ich mich niedersetzte, um dieses Kapitel zu beginnen, die Feder unwillkührlich meiner Hand entschlüpfte. Ich befand mich in einer etwas düstern Stimmung, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und starrte in das Feuer. Es ist Ende Juni und ein merkwürdig kalter Abend für diese Jahreszeit. Während ich nun so vor mich hin starrte, fühlte ich gerade in meinem Nacken etwas krabbeln. Mechanisch und instinktartig, aber noch immer nachsinnend, griff ich mit der Hand darnach und erwischte was? Eben dieses Was ist es, was mich in die größte Verlegenheit versetzt. Es war ein Ding – ein dunkles Ding – ein viel größeres Ding, als ich erwartet hatte. Der Anblick überraschte mich so sehr, daß ich meine Hand heftig schüttelte und das Ding hinunterfiel – wohin? weiß ich nicht. Das Was und Wo sind die Knotenpunkte in der ganzen Frage! Kaum war es verschwunden, als ich bereute, keine nähere Untersuchung angestellt und mir keine Gewißheit verschafft zu haben, was für ein Geschöpf es eigentlich gewesen. Vielleicht war es ein Ohrwurm – ein sehr großer mütterlicher Ohrwurm – ein Ohrwurm, weit vorgerückt in dem Zustande in welchem Ohrwürmer zu sein wünschen, welche ihre Ehegenossen lieben.
Ich habe einen tiefgewurzelten Abscheu vor Ohrwürmern und glaube fest, daß sie den Menschen in die Ohren kriechen. Es ist dies ein Gegenstand, in Bezug auf welchen man vergeblich mit naturwissenschaftlichen Gründen gegen mich ankämpft. Ich erinnere mich lebhaft einer Geschichte, die mir Mrs. Primmins erzählte – wie eine Dame viele Jahre lang an den peinlichsten Kopfschmerzen litt; wie »alle Kunst der Aerzte vergeblich war,« wie sie starb, und wie man bei Oeffnung ihres Kopfes ein ganzes Nest von Ohrwürmern fand – und welch' ein Nest! Die Ohrwürmer sind die fruchtbarsten Geschöpf und lieben ihre Nachkommenschaft so sehr! Sie sitzen auf ihren Eiern, wie die Hühner und die Zungen, sobald sie ausgeschlüpft sind, kriechen Schutz suchend unter die Mutter – ganz rührend anzusehen! Man denke sich nun aber eine solche Familien-Niederlassung hinter dem Trommelfelle eines Menschen!
Aber das Thier war sicherlich größere als ein Ohrwurm. Vielleicht gehörte es zu dem genus in der Familie Forficulidae, welches den Namen Labidoura führt – Ungeheuer, deren Fühlhörner dreißig Gelenke haben! Es gibt eine Species dieses Geschöpfes in England – viel größer als der gemeine Ohrwurm oder die Forficulida auriculana – welche jedoch zum großen Bedauern der Naturforscher und zur großen Ehre der Vorsehung nur sehr selten gefunden wird. Forficulidae, Familie der Ohrwürmer. – Labidura, Sandohrwurm. – Forficulida auriculana (bzw. Forficula auricularia), gemeiner oder europäischer Ohrwurm. Konnte es eine frühe Horniß gewesen sein? Jedenfalls hatte das Ding einen schwarzen Kopf und große Fühlhörner gehabt. Wenn möglich, so hege ich gegen Hornisse einen noch größeren Abscheu, als gegen Ohrwürmer. Zwei Hornisse können einen Menschen und drei ein sechzehn Faust hohes Wagenpferd tödten. Doch, Ohrwurm oder Horniß, das Ding war fort. – Ja, aber wo? Wohin hatte ich es geschleudert? Vielleicht steckte es in einer Falte meines Schlafrocks oder in meinen Pantoffeln – oder, mit Einem Wort, in irgend einem der verschiedenen Schlupfwinkel für Ohrwürmer und Hornisse, welche die Kleidung eines Gentlemens darbietet. Ich überzeuge mich endlich soweit mir dies möglich ist, da ich nicht allein im Zimmer bin, daß es sich nicht an mir befindet. Ich suche auf dem Teppich – unter dem Stuhle – am Kamingitter – non est inventum Es ist nicht zu finden.. Barbarischer Weise hoffe ich, es brate hinter jener großen schwarzen Kohle in dem Roste. Ich raffe meinen Muth zusammen und begebe mich vorsichtig nach dem andern Ende des Zimmers. Ich nehme meine Feder auf. – ich beginne mein Kapitel – und noch dazu in recht hübscher Weise, wie mir schien. Kaum aber habe ich mich gehörig in meinen Gegenstand hinein gefunden, als es wieder – kr- kr- kr- kr- kr- – kr- kr- kr- kr- kr– kriebelte und krabbelte. Genau an derselben Stelle, wo es vorhin gewesen! O, bei allen Mächten! ich vergaß meine wissenschaftliche Reue darüber, daß ich zuvor nicht untersucht hatte, ob es dem genus Auriculana oder Labidoura angehöre. Ich fuhr mit beiden Händen darnach – und fort war es wieder! Ja, und wieder wohin? Wahrhaftig, dieses Wo ist eine schreckliche Frage! Daß die Bestie trotz aller meiner Vorsichtsmaßregeln zweimal gekommen ist und sich jedesmal genau dieselbe Stelle gewählt hat, deutet auf die entschiedene Absicht, dem Quartier treu zu bleiben – sich häuslich auf mir niederzulassen; es liegt etwas Schreckliches, etwas Uebernatürliches darin! Ich kann versichern, daß kein Theilchen an mir war, welches nicht seitdem – kr- kr- kr– krabbelte und zappelte, und ich frage, welch' ein Kapitel ich werde zu Stande bringen können nach einem solchen – mein gutes Mädchen, willst Du nicht das Licht nehmen und sorgfältig unter dem Tische nachsehen? Recht so, meine Liebe! Ja, sehr schwarz allerdings, mit zwei Hörnern und zur Korpulenz geneigt. Die Herrn und Damen, welche die Bekanntschaft mit der phönizischen Sprache kultivirt haben, wissen, daß Belzebub nach allen etymologischen und entomologischen Untersuchungen nichts mehr und nichts weniger ist, als Baalzebub – »die Jupiter-Fliege« Baal-Zebub: der Herr der Fliegen. – ein Sinnbild des zerstörenden Attributs, welches in der That unter allen Insectengeschlechtern in höherem oder geringerem Grade gefunden wird. Aus diesem Grunde – wie Mr. Payne Knight Richard Payne Knight (1750-1824), britischer Kunstkenner, Sammler und Amateurarchäologe. in seiner Untersuchung der symbolischen Sprachen bemerkt – schoren sich auch die ägyptischen Priester am ganzen Leibe, sogar bis auf die Augbrauen, damit sie nicht etwa, ohne es zu wissen, irgend einem der kleineren Zebuben des großen Baal Herberge gäben. Wäre ich nur im mindesten mehr überzeugt, daß der schwarze Kr-kr sich noch an mir befinde und daß das Opfer meiner Augbrauen ihn dieses Obdachs berauben würde – bei den Seelen der Ptolemäer! ich wollte – ja, und ich will es auch! Zieh' die Klingel, meine Liebe! John, – mein Cigarrenetuis! Es gibt kein Kr in der Welt, das den Wolken der Havanna Stand halten kann! Pah, mein lieber Leser, ich bin nicht der einzige Mann, dessen erste Gedanken an kalten Stahl gleich diesem Kapitel sich auflösen in Pff – pff – pff –!
Alles in der Welt hat seinen Nutzen, sogar ein schwarzes Ding, das einem über den Nacken kriecht. Unbekanntes, grimmiges Wesen. Du sollst mir – zu einem Gleichniß dienen!
Ich denke, meine verehrte Leserin, Du wirst mir zugeben, daß, wenn ein Unfall, wie der eben von mir beschriebene, Dich befallen sollte, und Du einen gebührenden Abscheu, wie Damen ihn zu haben pflegen, vor Ohrwürmern hegst (wie mütterlich zärtlich diese auch ihre Nachkommenschaft lieben mögen), sowie vor frühen Hornissen und überhaupt vor allen unbekannten Dingen aus dem Insectengeschlecht mit schwarzen Köpfen, zwei großen Hörnern, Fühlern oder Zangen, hauptsächlich, wenn sich dieselben in der Nähe Deines Ohres befinden – ich denke, meine verehrte Leserin, Du wirst mir zugeben, daß es Dir in einem solchen Falle schwer werden dürfte, mit Deiner vorherigen Gemüthsruhe zu Deiner unschuldigen Näharbeit zurückzukehren. Du würdest stets ein gewisses Etwas fühlen, das Dir die Nerven angriffe und Dir »über den ganzen Körper krabbelte,« wie die Kinder sagen. Und das Schlimmste wäre, daß Du Dich schämen würdest, es zu sagen. Du würdest Dich verpflichtet fühlen, heiter zu scheinen, an der Unterhaltung Theil zu nehmen, keine Unruhe blicken zu lassen. Deine Röcke nicht immer auszuschütteln und die dunkeln Falten Deiner Schürze nicht zu untersuchen. So ist es mit vielen anderen Dingen im Leben, auch außer den schwarzen Insecten. Man hat eine geheime Sorge – einen Gedanken – ein Etwas, halb Erinnerung und halb Gefühl eines schwarzen, krabbelnden Kr, das man nicht zu zergliedern wagt. So saß ich bei meiner Mutter und bemühte mich, zu lächeln und zu sprechen, wie in den alten Zeiten, während ich mich dabei fortwährend sehnte, umher zu gehen, mich umzuschauen, in die Einsamkeit zu fliehen, die Gewänder meines Geistes abzustreifen und zu untersuchen, was es war, das mich so ängstlich und beklommen machte – denn Angst und Beklommenheit lagen auf meiner Seele. Und meine Mutter, die (der Himmel segne sie!) immer genug zu fragen hatte über alles, was ihren lieben Anachronismus betraf, war an diesem Abend ganz besonders neugierig. Ich mußte ihr sagen, wo ich gewesen, was ich gethan und wie ich meine Zeit ausgefüllt hatte; und Fanny Trevanion (welche sie, beiläufig bemerkt, zwei oder dreimal gesehen und für das hübscheste Mädchen von der Welt erklärt hatte) – o, sie mußte genau wissen, was ich von Fanny Trevanion dachte!
Und während dieser ganzen Zeit schien mein Vater in Gedanken versunken zu sein. Den Arm über den Stuhl meiner Mutter gelegt und meine Hand in der ihrigen beantwortete ich ihre Fragen bisweilen mit einem Stottern, bisweilen mit einer gewaltsamen Anstrengung, meine Zunge in Geläufigkeit zu bringen, bis ich mich bei einer Frage, die prickelnd ihren Weg zu meinem Herzen fand, unruhig abwandte und den Augen meines Vaters begegnete. Sie hafteten fest auf den meinigen – wie damals, als ich dahinsiechte. Niemand wußte, aus welchem Grunde, und mein Vater sagte: »Er muß in die Schule gehen.« Fest, mit ruhiger, wachsamer Zärtlichkeit! Ach nein, seine Gedanken waren nicht bei dem großen Werke gewesen – sie hatten sich in die Seiten jenes anderen, unwürdigeren vertieft, für welches er in noch höherem Grade väterliche Sorgfalt empfand. Ich begegnete seinen Augen – ich sehnte mich, an seine Brust zu sinken und ihm alles zu sagen. Ihm was zu sagen? Meine liebe Leserin, das wußte ich eben so wenig, als ich weiß, was das schwarze Ding gewesen, welches mich diesen ganzen gesegneten Abend so sehr gequält hat!
»Pisistratus,« sagte mein Vater sanft, »ich fürchte, Du hast den Saffransack vergessen.«
»Nein, gewiß nicht, Vater,« erwiederte ich lächelnd.
»Wer den Saffransack trägt,« fuhr mein Vater fort, »ist heiterer und ruhiger, als Du zu sein scheinst, mein armer Junge.«
»Lieber Austin, er ist ja recht heiter, meine ich,« sagte meine Mutter ängstlich.
Mein Vater schüttelte den Kopf und schritt hierauf zwei oder dreimal im Zimmer auf und ab.
»Soll ich läuten, daß man Licht bringe, Vater? Es wird dunkel und Du wirst lesen wollen.«
»Nein, Pisistratus. Du sollst jetzt lesen, und diese Dämmerstunde paßt am besten zu dem Buche, das ich vor Dir aufschlagen will.«
So sprechend rückte er einen Stuhl zwischen meine Mutter und mich, ließ sich ernst darauf nieder und blickte eine geraume Zeit schweigend zu Boden. Alsdann heftete er seine Augen zuerst auf meine Mutter, dann auf mich.
»Meine liebe Gattin,« sagte er endlich beinahe feierlich, »ich bin im Begriff, von mir selbst zu reden, wie ich war, ehe ich Dich kannte.«
Sogar in der Dämmerung bemerkte ich, daß meine Mutter die Farbe wechselte.
»Du hast meine Geheimnisse zart und redlich geehrt, Catharina. Die Zeit ist gekommen, da ich sie Dir und unserm Sohne mittheilen kann.«
Meines Vaters erste Liebe.
Ich verlor meine Mutter früh. Mein Vater (ein guter Mann, allein so unbeweglich und sorglos, daß er selten seinen Lehnstuhl verließ und, gleich einem indianischen Derwisch, oft ganze Tage hinbrachte, ohne ein Wort zu sprechen) bekümmerte sich wenig um Roland's und meine Erziehung, welche daher so ziemlich unserm eigenen Geschmack überlassen blieb. Roland jagte und fischte, las alle Gedichte und Ritterbücher, die sich in meines Vaters Bibliothek vorfanden, und deren es nicht wenige waren, und fertigte eine Menge Abschriften des alten Stammbaumes, des einzigen Gegenstandes, für welchen mein Vater jemals ein lebhaftes Interesse an den Tag legte. In früher Jugend schon faßte ich eine Leidenschaft für ernstere Studien und fand zu meinem Glück in Mr. Tibbets einen Lehrer, der, wenn er nicht so bescheiden gewesen wäre, Kitty, Porson Richard Porson (1759-1808), britischer Altphilologe. an die Seite hätte treten können. An Fleiß war er ein zweiter Budäus Guillaume Budé (latinisiert Guglielmus Budaeus; 1468-1540), französischer Philologe, Humanist, Diplomat und Bibliothekar der Renaissance. und pflegte, beiläufig bemerkt, ganz dasselbe zu sagen, was Budäus gesagt, nämlich, ›daß der einzige verlorene Tag in seinem Leben sein Hochzeittag gewesen, weil ihm an demselben nur sechs Stunden zum Studiren geblieben!‹ Unter einem solchen Meister konnte ich nicht verfehlen, ein Gelehrter zu werden. Ich kehrte mit so großer Auszeichnung von der Universität zurück, daß ich mit frohen Hoffnungen auf meine Laufbahn in der Welt hinblickte.
In dem stillen Pfarrhause meines Vaters wollte ich mir einige Erholung gönnen und überlegen, welchen Weg zum Ruhm ich einschlagen solle. Das Pfarrhaus lag am Fuße des Hügels, auf dessen Spitze die Ruinen des Schlosses standen, welches Roland seitdem gekauft hat; und obgleich ich nicht dieselbe romantische Ehrfurcht vor den Ruinen hegte, wie mein lieber Bruder, indem meine wachenden Träume mehr von classischen, als von ritterlichen Erinnerungen gefärbt waren, so liebte ich es doch, mit meinem Buch in der Hand den Berg hinan zu klimmen und meine Luftschlösser inmitten der mich umgebenden Trümmer zu bauen.
Eines Tages, als ich den alten, mit Unkraut überwucherten Schloßhof betrat, sah ich an meinem Lieblingsplätzchen eine Dame sitzen, welche die Ruinen abzeichnete. Die Dame war jung – und schöner, als irgend ein weibliches Wesen, das meine Augen je erblickt hatten. Mit Einem Worte, ich war bezaubert und – um mich des abgenutzten Ausdrucks zu bedienen –,wie an die Stelle gebannt.‹ Ich setzte mich in einiger Entfernung nieder und betrachtete sie, ohne den Wunsch zu empfinden, sie anzureden. Bald darauf trat aus einem andern Theil der damals unbewohnten Ruinen ein großer, Achtung gebietender ältlicher Herr von wohlwollendem Aussehen mit einem kleinen Hunde, der bellend auf mich zu sprang, wodurch die Aufmerksamkeit der Dame sowohl, als des Herrn, auf mich gelenkt wurde. Letzterer näherte sich mir, rief seinen Hund zurück und entschuldigte sich mit großer Artigkeit. Nachdem er mich etwas neugierig betrachtet, begann er, verschiedene Fragen über das alte Schloß und seine früheren Eigenthümer, mit deren Namen und Abkunft er wohl bekannt schien, an mich zu richten. Nach und nach erfuhr er, daß er in mir einen Nachkommen dieser Familie, und zwar den jüngeren Sohn des bescheidenen Pfarrers, des jetzigen Vertreters derselben, vor sich habe. Er stellte sich mir nun als den Grafen von Rainsforth vor, den größten Grundbesitzer der Umgegend, der aber während meiner Kindheit und früheren Jugend die Grafschaft so selten besucht hatte, daß er mir gänzlich unbekannt geblieben war. Sein einziger Sohn jedoch, ein junger Mann von vielversprechenden Hoffnungen, war während meines ersten Universitätsjahres mit mir in demselben Collegium gewesen. Der junge Lord hatte sich viel mit gelehrten Studien abgegeben, und wir hatten uns oberflächlich kennen gelernt, ehe er seine Reisen Die sog. Grand Tour, eine seit der Renaissance obligatorische Reise der Söhne des europäischen Adels, später auch des gehobenen Bürgertums, durch Mitteleuropa, Italien, Spanien und auch ins Heilige Land. antrat.
Als Lord Rainsforth meinen Namen hörte, nahm er mich herzlich bei der Hand und führte mich mit den Worten zu seiner Tochter: ›Denke nur, wie glücklich, Ellinor, dies ist Mr. Caxton, der junge Mann, von welchem Dein Bruder so oft gesprochen.‹
Kurz, mein lieber Pisistratus, das Eis war gebrochen, die Bekanntschaft angeknüpft, und Lord Rainsforth drang in mich, ihn zu besuchen, indem er mir mittheilte, daß er in der Absicht gekommen, seine lange Abwesenheit von der Grafschaft wieder gut zu machen und den größern Theil des Jahres in Compton zuzubringen. Ich machte von der Einladung Gebrauch, erwarb mir Lord Rainsforth's Zuneigung mehr und mehr und ward sein häufiger Gast.«
Mein Vater hielt inne, und als er sah, daß meine Mutter ihre Augen mit einer Art wehmüthigen Ernstes auf ihn geheftet und ihre Hände fest zusammengepreßt hatte, beugte er sich zu ihr nieder und küßte sie auf die Stirne.
»Es ist kein Grund vorhanden, mein Kind!« sagte er.
Es war dies das einzige Mal, daß ich ihn je meine Mutter so väterlich anreden hörte. Aber auch nie zuvor hatte er so ernst und feierlich gesprochen – nicht eine einzige Citation – es war unglaublich! Es war mir, als rede nicht mein Vater, sondern ein ganz anderer Mann.
»Ja, ich ging oft hin,« fuhr mein Vater in seiner Erzählung fort. »Lord Rainsforth war eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Schüchternheit, ohne allen Stolz (was ein seltener Fall ist), und eine Vorliebe für stille, literarische Thätigkeit hatten ihn verhindert, am öffentlichen Leben jenen persönlichen Antheil zu nehmen, für welchen er so reichlich befähigt war; gleichwohl verdankte er seinem ehrenhaften Rufe und seiner Popularität einen nicht unbedeutenden Einfluß, wie ich glaube, sogar auf die Bildung der Cabinete, und einmal hatte er sich bewegen lassen, einen hohen diplomatischen Posten im Ausland zu übernehmen, dessen Ausfüllung ihn jedoch ohne Zweifel eben so unglücklich machte, als irgend eine Strafe einen rechtschaffenen Mann. Er war froh, sich nun von der Welt zurückziehen und aus seiner Abgeschiedenheit auf dieselbe niederschauen zu können. Lord Rainsforth hegte große Achtung vor dem Talente und ein warmes Interesse für Diejenigen der jüngeren Generation, welche ihm damit begabt zu sein schienen. Durch geistige Fähigkeiten hatte sich seine eigene Familie gehoben und stets in hohem Grade ausgezeichnet. Sein Ahne, der erste Peer, war ein berühmter Rechtsgelehrter, sein Vater ein Meister in den Wissenschaften gewesen; seine Kinder, Ellinor und Lord Pendarvis, besaßen die feinste, vollendetste Bildung. So verkörperte sich in dieser Familie die Aristokratie der Intelligenz, während sie sich ihrer Ansprüche an die tiefer stehende Aristokratie des Ranges scheinbar unbewußt war. Ihr dürft dies im Laufe meiner Erzählung niemals aus dem Auge verlieren.
Lady Ellinor theilte ihres Vaters Ansichten und Liebhabereien – (sie war damals noch keine Erbin). Lord Rainsforth sprach mit mir über meine Laufbahn. Es war eine Zeit, in welcher die französische Revolution die Staatsmänner bewog, mit Besorgniß umher zu schauen und die bestehende Ordnung der Dinge durch einen Bund mit jenen Angehörigen der heranwachsenden Generation zu kräftigen, welche durch ihre Fähigkeiten einen Einfluß auf ihre Zeitgenossen zu gewinnen versprachen.
Die auf der Universität errungene Auszeichnung ist noch jetzt, wie damals, die leichteste Brücke zum Eintritt in das öffentliche Leben. Lord Rainsforth hatte mich allmählig so lieb gewonnen, daß er mir vorschlug, mich um einen Sitz im Unterhause zu bewerben. Ein Parlamentsmitglied konnte sich zu allen Würden und Aemtern erheben, und Lord Rainsforth besaß hinreichenden Einfluß, um meine Wahl durchzusetzen. Glänzende Aussichten für einen jungen Studenten, der frisch von Thucydides Thukydides, griechischer Historiker der Antike, der den Peleponnesischen Krieg (zwischen Sparta und Athen, 431-404 v. u.Z.) beschrieb und analysierte. herkam und Demosthenes Demosthenes (384-322 v.u.Z.), einer der bedeutendsten griechischen Redner. Berühmt sind seine leidenschaftlichen Kampfreden, die er zum Widerstand gegen König Philipp II. von Makedonien hielt (Philippika). noch warm auf der Zungenspitze hatte! Mein lieber Sohn. Du siehst, ich war damals nicht ganz, was ich jetzt bin – mit Einem Worte, ich liebte Ellinor Compton, und aus diesen, Grunde war ich ehrgeizig. Du weißt, wie hochstrebend sie noch immer ist; ich konnte jedoch meinen Ehrgeiz nicht nach dem ihrigen formen. Der Gedanke war mir unerträglich, in den Senat meines Vaterlandes als der Abhängige einer Partei oder eines Beschützers einzutreten – als ein Mann, der dort sein Glück machen wollte und bei jeder Abstimmung überlegen mußte, in wie fern ihm Vortheil daraus erwachsen könne. Auch wußte ich nicht einmal gewiß, ob Lord Rainsforth's politische Ansichten mit den meinigen übereinstimmen würden. Wie konnte die Politik eines erfahrenen Weltmannes die nämliche sein, wie diejenige eines feurigen jungen Studenten? Allein selbst wenn sie es gewesen, so fühlte ich doch, daß ich die Gleichstellung mit der Tochter eines Beschützers nicht in solcher Weise erschleichen konnte. Nein! ich war bereit, meine Vorliebe für die classischen Studien zum Opfer zu bringen, alle meine Thatkraft der Rechtsgelehrsamkeit zuzuwenden, auf dem Weg zum Glücke mir gewaltsam Bahn zu brechen und, wenn ich mir eine unabhängige Stellung errungen hätte, dann – nun, was dann? – das Recht für mich in Anspruch zu nehmen, von Liebe zu sprechen und nach Macht und Ansehen zu trachten. Dies war jedoch nicht Ellinor Compton's Ansicht. Das Studium des Rechts erschien ihr als eine langweilige, nutzlose Plackerei; es enthielt nichts, was ihre Einbildungskraft zu fesseln vermochte. Sie hörte mich mit jenem Zauber an, den sie noch heute besitzt, und durch welchen sie sich Denen, die mit ihr reden, so vollständig gleichzustellen scheint. Sie konnte einen bittenden Blick auf mich richten, wenn sich ihr Vater über die glänzenden, von ihm gewiß überschätzten Aussichten einer von Erfolg gekrönten parlamentarischen Laufbahn verbreitete; denn, obwohl er selbst nie darnach gestrebt, hatte er doch mit Solchen, welche jene Laufbahn eingeschlagen, vielfach Umgang gehabt und schien stets zu wünschen, eines derartigen Erfolges in der Person eines Andern sich zu erfreuen. Wenn ich dagegen meinerseits von Unabhängigkeit und von der Stellung eines Rechtsgelehrten sprach, umwölkte sich Ellinor's Antlitz. Die Welt – die Welt übte ihre Herrschaft über sie aus; – der Ehrgeiz der Welt, der nach Macht oder Aufsehen trachtet! Ein Theil des Hauses war dem Ostwind ausgesetzt. ›Lassen Sie jene Seite des Abhangs zur Hälfte mit Bäumen bepflanzen,‹ sagte ich eines Tages zu Lord Rainsforth. ›Mit Bäumen bepflanzen!‹ rief Lady Ellinor – ›es wird zwanzig Jahre dauern, bis sie groß geworden. Nein, mein theurer Vater, laß' lieber eine Mauer aufführen und sie mit Schlingpflanzen überdecken!‹ Dies mag zur Beleuchtung ihres ganzen Charakters dienen. Sie konnte nicht warten, bis die Bäume Zeit gehabt, zu wachsen; eine todte Mauer war so viel schneller hergestellt und der Epheu verlieh ihr ein hübscheres Aussehen. Gleichwohl war sie ein großes und edles Wesen. Und ich – ich liebte sie! Nicht so hoffnungslos, als Ihr vielleicht voraussetzen mögt, denn Lord Rainsforth gab mir oft ermuthigende Andeutungen, welche ich kaum mißverstehen konnte. Er suchte weder Rang, noch Vermögen für seine Tochter (wenigstens nicht mehr, als zu einem anständigen Auskommen nothwendig war) und glaubte daher, in mir alles zu erblicken, was er wünschte – einen jungen Mann von alter Familie, in welchem sein eigener regsamer Geist jene Art innerlichen Ehrgeizes verfolgen konnte, der in ihm überströmte, sich jedoch niemals geäußert hatte. Und Ellinor – fern sei es von mir, zu behaupten, sie habe mich geliebt; eine Stimme in meinem Innern aber flüsterte mir zu, sie werde es vielleicht eines Tages! So machte ich denn, alle meine Hoffnungen unterdrückend, einen kühnen Versuch, die mich umgebenden Einflüsse zu bemeistern und diejenige Laufbahn zu ergreifen, welche mir als die würdigste erschien. Ich ging nach London, um mich für die Advokatenbank vorzubereiten.«
»Für die Advokatenbank! Ist's möglich?« rief ich.
Mein Vater lächelte wehmüthig.
»Damals schien mir alles möglich. Ich studirte einige Monate und begann schon in dieser kurzen Zeit, meinen Weg klar vor mir zu sehen, sowie die mir entgegenstehenden Schwierigkeiten zu erkennen, zugleich aber auch die mir innewohnende Kraft zu Ueberwindung derselben zu fühlen. Ich machte Ferien und kehrte nach Cumberland zurück. Dort traf ich Roland. Unstet und kühnen Muthes, obgleich er damals noch nicht in die Armee eingetreten war, hatte er während der letzten zwei Jahre Großbritannien und Irland zu Fuß durchwandert. Es war ein junger fahrender Ritter, den ich umarmte, und der mich mit Vorwürfen überschüttete, daß ich mich für den Advokatenstand vorbereite. Nie habe es einen Advokaten in der Familie gegeben! Ich glaube, in jene Zeit fiel es auch, daß ich die Entdeckung von dem Buchdrucker machte, welche einen so versteinernden Eindruck auf Roland hervorbrachte. Einen bestimmten Grund vermochte ich mir selbst nicht anzugeben – ich wußte nicht, war es Eifersucht, Furcht oder Ahnung – so viel aber ist sicher, daß sich ein Schmerzgefühl meiner bemächtigte, als ich von Roland erfuhr, daß er mit den Bewohnern von Compton Hall genau bekannt geworden. Roland und Lord Rainsforth hatten sich in dem Hause eines benachbarten Gutsbesitzers getroffen und Lord Rainsforth meinen Bruder, zuerst vielleicht aus Freundlichkeit für mich, später aber um seiner selbst willen, herzlich willkommen geheißen.
Um keinen Preis der Welt,« fuhr mein Vater fort, »hätte ich Roland fragen können, ob er ein Bewunderer Ellinor's geworden; als ich jedoch fand, daß er es vermied, dieselbe Frage an mich zu richten, begann ich zu zittern!
Wir gingen zusammen nach Compton, ohne unterwegs viel zu sprechen, und blieben einige Tage dort.«
Mein Vater steckte bei diesen Worten die Hand in seine Weste. Alle Menschen haben ihre kleinen Eigenthümlichkeiten oder besondere Geberden, welche viel bedeuten, und wenn mein Vater die Hand in die Weste steckte, so war es stets ein Zeichen irgend einer geistigen Anstrengung – er war alsdann im Begriff, zu beweisen, Schlüsse zu ziehen, zu moralisiren oder zu predigen. Deßhalb glaube ich, magnetisch und mesmerisch Animalischer Magnetismus, auch Mesmerismus ist die Bezeichnung für eine dem Elektromagnetismus analoge Kraft am Menschen, die von Franz Anton Mesmer (1734–1815) propagiert wurde. Die davon abgeleitete Heilmethode, die auch Hypnosetechniken einsetzte, erfuhr große öffentliche Beachtung, wurde aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend abgelehnt. gesprochen, es war mir ein weiteres Paar Ohren und ein neuer Sinn verliehen worden (obgleich ich zuvor schon mit größter Aufmerksamkeit zugehört hatte), als mein Vater seine Hand in seine Weste steckte.
worin mein Vater in seiner Erzählung fortfährt.
Es gibt keine mystische Schöpfung, kein Bild, kein Symbol und keine poetische Erfindung zur Bezeichnung des Dunkeln, Verborgenen und Unbegreiflichen, zu deren Darstellung nicht das weibliche Geschlecht gewählt worden wäre,« sagte mein Vater, der jetzt seine Hand ganz in seiner Weste begraben hatte. »Da ist die Sphinx, die Chimäre, die Isis, deren Schleier kein Mensch je gelüftet hat – sie Alle sind weibliche Wesen, Kitty, Alle! Ebenso Persephone, die stets entweder im Himmel oder in der Hölle sein mußte – und Hecate, welche bei Nacht das Eine und bei Tag das Andere war. Auch die Sibyllen waren weibliche Geschöpfe; deßgleichen die Gorgonen, die Harpien, die Furien, die Parzen, die teutonischen Valkyren, die Nornen und Hela selbst Chimäre: Mischwesen aus Löwe und Ziege; Sphinx gilt mythologisch als ihre Tochter; Isis: altägyptische Göttin von Geburt, Wiedergeburt und Magie sowie Totengöttin – Schillers Ballade ›Das verschleierte Bild zu Sais‹ (1795) verarbeitet die angebliche Inschrift über dem Eingang des Tempels der Isis, die die Alleinheit Gottes und seine Verborgenheit (Verschleierung) betrifft; Persephone: Toten-, Unterwelt- und Fruchtbarkeitsgöttin; Hekate: Göttin der Magie, Theurgie und Nekromantie; Sibylle: Prophetin, die im Gegensatz zu anderen göttlich inspirierten Sehern ursprünglich unaufgefordert die Zukunft weissagt; Gorgonen: drei geflügelte Schreckgestalten mit Schlangenhaaren, die jeden, der sie anblickt, zu Stein erstarren lassen; Harpyie: Mischwesen in Gestalt einer geflügelten Frau; Furien (Erinnyen): Rachegöttinnen; Parzen bzw. (in der germanischen Mythologie) Nornen: Schicksalsgöttinnen; Walküren: in der nordischen Mythologie weibliche Geistwesen aus dem Gefolge des Göttervaters Odin (Wodan), die aus den auf dem Schlachtfeld Verstorbenen die ehrenvoll Gefallenen auswählen, um sie nach Walhall, ihrem Ruheort, zu führen; Hela (oder Hel): in der nordischen Mythologie die Herrscherin der gleichnamigen Unterwelt. – kurz, alle Darstellungen von finstern, unerforschlichen und Unheil verkündenden Ideen sind weiblich.«
Der Himmel segne meinen Vater! Austin Caxton war wieder er selbst! Ich begann zu fürchten, er möchte den Faden seiner Erzählung in diesem Labyrinth von Gelehrsamkeit verloren haben. Glücklicher Weise jedoch fiel sein Blick, als er inne hielt, um Athem zu holen, auf die offene, freie Stirne und die klaren blauen Augen meiner Mutter, welche sicherlich nichts mit Sphinxen, Chimären, Parzen, Furien oder Valkyren gemein hatten. Ob ihn nun sein Gewissen strafte, oder ob sein Verstand einräumen mußte, daß er in eine Reihenfolge höchst arglistiger und ungesunder Behauptungen gerathen, weiß ich nicht; allein seine Stirne klärte sich auf, als er mit einem Lächeln fortfuhr –
»Ellinor wäre es niemals eingefallen, irgend Jemand absichtlich täuschen zu wollen. Hatte sie nun Roland und mich getäuscht, daß wir uns beide, ohne eine große Meinung von uns selbst zu haben, dem Glauben hingaben, wir würden, wenn wir es gewagt hätten, offen von Liebe zu sprechen, nicht umsonst gesprochen haben? oder glaubst Du, Kitty, daß ein Mädchen wirklich zwei oder drei oder ein halbes Dutzend Männer zugleich (nicht sehr, aber doch ein wenig) lieben könne?«
»Unmöglich!« rief meine Mutter. »Und was diese Lady Ellinor betrifft, so bin ich entrüstet über sie – ich weiß nich5, wie ich es nennen soll!«
»Ich auch nicht, meine Liebe!« sagte mein Vater, indem er seine Hand aus der Weste zog, als sei die Anstrengung zu groß für ihn und das Räthsel nicht zu lösen. »Hingegen glaube ich (und bitte um Entschuldigung, für diese Ansicht) daß ein Mädchen, ehe sie ihre Neigung wirklich wahrhaftig und aufrichtig einem bestimmten Gegenstand zuwendet, ihrer Phantasie, dem Verlangen nach Gewalt, der Neugierde, oder der Himmel weiß, was sonst noch, gestattet, sogar dem eigenen Herzen bleiche Reflexe des noch nicht aufgegangenen Lichtes vorzuspiegeln – Nebensonnen, welche der wirklichen Sonne vorangehen. Beurtheile Roland nicht nach dem, wie Du ihn jetzt siehst, Pisistratus – grämlich, grau und förmlich; denke Dir eine Natur, die sich hoch aufschwingt unter kühnen Gedanken oder überströmt von der unnennbaren Poesie des jugendlichen Lebens – eine Gestalt von unvergleichlicher Spannkraft – ein Auge, leuchtend von stolzem Feuer – ein Herz, aus dem edle Gefühle sprühten, wie die Funken von einem Ambos.
Lady Ellinor besaß eine glühende, forschbegierige Phantasie. Eine so kühne, feurige Natur mußte ihr Interesse in Anspruch nehmen. Auf der andern Seite war ihr Geist in hohem Grade gebildet und für Belehrung empfänglich. Ist es Eitelkeit, wenn ich jetzt, nach Verfluß so vieler Jahre, sage, daß ihr Geist dem meinigen sich verwandt fühlte? Wenn das Weib liebt, sich verehelicht und am eigenen Herde waltet – dann erst tritt ihr eigentliches Wesen zu Tage. Ein Mädchen aber, wie Ellinor, birgt viele Weiber in sich. Selbst veränderlich, haben alle Abwechslungen Reiz für sie. Ich glaube, daß, welcher von uns auch das kühne Wort gesprochen hätte, Lady Ellinor sich in ihr eigenes Herz zurückgeflüchtet, es untersucht, geprüft und eine edle, offene Antwort gegeben haben würde. Und wer zuerst gesprochen, hätte vielleicht am wenigsten ein ›Nein‹ zu erwarten gehabt. Allein keiner von uns beiden sprach. Und vielleicht war sie eher neugierig, zu erfahren, ob sie Eindruck gemacht habe, als darauf bedacht, einen solchen hervorzurufen. Nicht, daß sie uns mit Willen täuschte, allein ihre ganze Atmosphäre war Täuschung und Blendwerk. Die Nebel gehen dem Sonnenaufgang voran. Wie dem übrigens sein mochte, so währte es nicht lange, bis Roland und ich gegenseitig unser Geheimniß entdeckten. Die Folge war zuerst Kälte, dann Eifersucht, endlich Streit.«
»O, mein Vater, Eure Liebe muß in der That gewaltig gewesen sein, wenn sie zwei solche Bruderherzen entzweien konnte!«
»Ja,« fuhr mein Vater fort! »es war unter den alten Schloßruinen, da, wo ich Ellinor zum erstenmal gesehen, daß ich ihn, das Antlitz mit den Händen verhüllt, unter Steinen und Sträuchern sitzend fand. Dort war es, daß ich meinen Arm um seinen Hals schlang und zu ihm sagte: ›Bruder, wir lieben beide dieses Mädchen! Ich bin von Natur ruhiger, als Du – ich werde den Verlust weniger fühlen. Bruder, gib mir Deine Hand – Gott helfe Dir, denn ich gehe!‹«
»Austin,« flüsterte meine Mutter und ließ ihren Kopf an meines Vaters Brust sinken.
»Und damit begann der Streit. Denn Roland bestand darauf, während ihm die Thränen über die Wangen rollten und er mit dem Fuß auf den Boden stampfte, daß er der Eindringling – daß es für ihn keine Hoffnung gebe – daß er ein Thor, ein Wahnsinniger gewesen – daß es für ihn sich zieme, zu gehen! Während wir nun in diesem Wortwechsel begriffen waren und dabei immer heftiger wurden, erschien der alte Diener meines Vaters an dem einsamen Orte mit einem Billet von Lady Ellinor, in welchen, sie mich bat, ihr ein Buch zu leihen, von welchem ich ihr gesprochen. Roland erkannte die Schriftzüge, und, während ich das Billet unschlüssig in der Hand hielt, ehe ich das Siegel erbrach, war er verschwunden.
Er kehrte nicht nach dem väterlichen Hause zurück, und wir wußten nicht, was aus ihm geworden war. Bei dem Gedanken an sein heftiges, ungestümes Wesen erfaßte mich jedoch wirklicher Schrecken, und ich beschloß, ihn aufzusuchen. Endlich entdeckte ich seine Spur und fand ihn nach vielen Tagen in einer elenden Hütte mitten in der traurigsten der traurigen Oeden, welche einen so großen Theil von Cumberland bilden. Er war so verändert, daß ich ihn kaum erkannte. Um mich kurz zu fassen, wir kamen endlich dahin überein, daß wir zusammen nach Compton zurückkehren und dieser unerträglichen Ungewißheit ein Ende machen wollten, indem einer von uns seinen Muth zusammen nehmen und sein Schicksal erfahren mußte. Doch wer sollte zuerst sprechen? Wir loosten – das Loos traf mich!
Und nun, da ich wirklich den Rubikon überschreiten, da ich jener geheimen Hoffnung, welche mich so lange beseelt hatte und für mich ein neues Leben gewesen war, Worte leihen sollte – welches waren nun meine Gefühle? Mein lieber Sohn, glaube mir, jenes Alter ist das glücklichste, in welchem uns solche Empfindungen, wie meine damaligen waren, nicht mehr aufregen können. Sie sind Fehltritte in der ruhigen Ordnung jenes majestätischen Lebens, welches der Himmel für den denkenden Mann bestimmt hat. Unsere Seelen sollen wie Sterne auf Erden sein, nicht aber wie Meteore und Cometen. Was konnte ich Ellinor – was ihrem Vater bieten? Nichts, als eine Zukunft voll geduldiger Arbeit. Und welches auch die Antwort sein mochte – Schmerz und Elend waren unvermeidlich! Entweder wurde mein eigenes Leben zerrissen, oder Roland's edles Herz gebrochen!
So gingen wir denn nach Compton. Bei unsern früheren Besuchen waren wir beinahe die einzigen Gäste gewesen, denn Lord Rainsforth suchte den Umgang mit den Landedelleuten nicht sehr, da diese in damaliger Zeit weit ungebildeter waren, als sie es heut zu Tage sind. Und zur Entschuldigung für Ellinor sowohl, als für uns, muß ich bemerken, daß wir so ziemlich die einzigen jungen Männer ihres Alters gewesen, welche sie in dem großem öden Hause gesehen hatte. Jetzt aber war die Saison in London vorüber und das Haus mit Gästen angefüllt; jener ungehinderte und vertrauliche Verkehr mit der Gebieterin der Halle, welcher uns das Gefühl von Familien-Angehörigen gegeben hatte, war nicht länger mehr möglich. Vornehme Herrn und Damen umringten Lady Ellinor, und ein Blick, ein Lächeln oder ein flüchtiges Wort war alles, was ich ein Recht hatte, von ihr zu erwarten. Und dann die Unterhaltung – wie verschieden! Früher konnte ich von Büchern reden – da war ich zu Hause! und Roland durfte seinen Träumen, seiner ritterlichen Vorliebe für die Vergangenheit und dem Trotze, den er einer unbekannten Zukunft entgegenstellte, kühne Worte leihen. Die gebildete und phantasiereiche Ellinor verstand uns beide – ebenso ihr Vater, der Gelehrter und Gentleman zugleich war. Allein jetzt –«
worin mein Vater zur Lösung des Knotens kömmt.
Es nützt nichts in der Welt,« sagte mein Vater, »wenn man alle in Grammatiken erklärte und in Wörterbüchern zersplitterte Sprachen kennt, wofern man die Sprache der Welt nicht gelernt hat. Sie ist eine ganz besondere Sprache, Kitty,« rief mein Vater, warm werdend. »Sie ist ein Anaglyph Eigentlich ein Ausdruck aus der Kunstgeschichte: Ornament in einem Flachrelief. – ein Anaglyph in Worten, meine Liebe! Wenn Dir alle Hieroglyphen so geläufig wären, wie das ABC, Du jedoch nichts von dem Anaglyph verstündest, so könntest Du auch von den Geheimnissen der Priester nichts erfahren.«172.
Weder Roland, noch ich kannte auch nur einen einzigen symbolischen Buchstaben des Anaglyphs. Gerede, und nichts als Gerede, über Leute, von denen wir nie gehört hatten, oder über Dinge, um die wir uns nichts kümmerten. Alles, was wir für wichtig hielten, erschien als knabenhafte oder pedantische Spielerei, während dagegen alles, was uns so abgedroschen und kindisch vorkam, zu einer großen und bedeutungsvollen Lebensfrage erhoben wurde! Wenn Du an einem Vacanztag einen kleinen Schuljungen fändest, der mit einer krummen Stecknadel nach Gründlingen fischt, und ihm erzählen wolltest von allen Wundern der Tiefe, von den Gesetzen der Ebbe und Fluth und von den antediluvianischen Ueberresten des Iguanodon und Ichthyosaurus – ja, wenn Du nur von Perlenfischereien und Korallenbänken oder von Wassergeistern und Najaden zu ihm sprächest, würde der kleine Junge nicht unmuthig ausrufen: ›Quäle mich nicht mit all' diesen, Unsinn, und laß' mich im Frieden meine Gründlinge fangen?‹ Ich denke, der Knabe hat Recht in seiner Art – der arme Bursche war wegen des Fischens herausgekommen, nicht aber, um sich über Iguanodonen und Wassergeister belehren zu lassen!
So fischte die Gesellschaft nach Gründlingen, und nicht eine Sylbe konnten wir von unserer Perlenfischerei und unsern Korallenbänken sprechen. Ob wir nun selbst auch nach Gründlingen angelten? – mein lieber Sohn, wir wären weniger in Verlegenheit gerathen, wenn man uns zugemuthet hätte, nach einer Meerjungfer zu fischen! Siehst Du nun einen der Gründe, weßhalb ich Dir so frühe Gelegenheit gab, die Welt kennen zu lernen? Unter jenen Fischern war jedoch Einer, der seine Angel in einer Weise handhabte, daß seine Gründlinge größer aussahen, als Salmen.
Trevanion war mit mir in Cambridge gewesen, und wir hatten uns innig befreundet. Unsere Verhältnisse waren ziemlich dieselben; wie ich, mußte er sich erst einen Weg in der Welt bahnen, war ohne Vermögen und stammte von einer Familie, mit welcher sich die meinige messen konnte – alt, aber heruntergekommen. Der Unterschied zwischen uns beiden war jedoch, daß er Verbindungen in der großen Welt hatte, ich aber nicht. Wie bei mir, bestand sein Haupteinkommen in einem Collegiatsstipendium. Trevanion hatte sich einen großen Ruf auf der Universität erworben, weniger zwar als Gelehrter, obgleich er auch als solcher hoch stand, sondern mehr gewisser anderer Eigenschaften wegen, vermöge welcher er bestimmt schien, eine hohe Stellung in der Welt zu erringen. In allem, was er begann, entwickelte er Nachdruck und Ausdauer, und stets hatte er verschiedene Ziele im Auge – verlor er hier das eine, gewann er dafür dort das andere. Er war Mitglied eines politisch-öconomischen Clubs und ein großer, unermüdlicher Redner. Sein Vortrag war glänzend, abwechselnd, paradox und blühend – verschieden von dem, was er jetzt ist, denn, aus Furcht vor dem allzu hohen Fluge der Phantasie war Trevanion während seiner ganzen nachherigen Laufbahn unablässig bemüht, dieselbe in angemessenen Schranken zu halten. Indeß war sein Sinn stets auf das gerichtet, was wir Engländer solid nennen. Er war ein großer Geist – aber, meine liebe Kitty, nicht etwa wie ein schöner Wallfisch, der durch das Meer des Wissens aus Lust am Schwimmen segelt, sondern wie ein Polyp, der alle seine Arme ausstreckt, um etwas zu erfassen. Trevanion hatte sich von der Universität aus sogleich nach London begeben, und sein Ruf sowohl, als sein Rednertalent, machte nicht mit Unrecht einen blendenden Eindruck auf seine Freunde. Sie bemühten sich zu seinen Gunsten – er wurde Parlamentsmitglied und betrat die Rednerbühne mit großem Erfolg. In der Blüthezeit seines jungfräulichen Ruhmes kam er nach Compton. Ich kann Euch, die Ihr ihn nur mit seinem durchfurchten Antlitz und seinem abgebrochenen, trockenen Wesen – ein Schatten des einstigen kraftvollen Mannes – kennt, nicht beschreiben, wie er war, als er zum ersten Mal den Kampfplatz des Lebens betrat.
Ihr dürft nicht vergessen, meine lieben Zuhörer, daß wir mittelalterlichen Leute damals jung waren – das heißt, so verschieden von dem, was wir jetzt sind, wie der grüne Zweig des Sommers von dem dürren Holze, aus dem wir ein Schiff oder einen Thorpfosten zimmern. Weder der Mensch, noch das Holz ist für das Leben zu gebrauchen, bis das grüne Laub abgestreift und der Saft vertrocknet ist. Und alsdann verwandelt uns das Leben in seltsame Dinge mit andern Namen: der Baum ist nicht mehr Baum, sondern ein Thor oder ein Schiff, der Jüngling ist nicht mehr Jüngling, sondern ein stelzbeiniger Soldat, ein hohläugiger Staatsmann oder ein Gelehrter mit Brille und Pantoffeln! Als Micyllus – (hier schlüpfte die Hand wieder in die Weste!) – als Micyllus,« fuhr mein Vater fort, »den Hahn, der einst Pythagoras gewesen, fragte, ob Homer wirklich eine treue Schilderung des Trojanischen Krieges entworfen, erwiederte der Hahn verächtlich: ›Wie konnte Homer etwas von der Sache wissen? damals war er ein Kameel in Bactria‹ Lucian, der Traum des Micyllus. [Anm.d.Verf.]. Pisistratus, nach der Lehre von der Seelenwanderung magst Du vielleicht auch ein Bactrianisches Kameel gewesen sein, als bei den Vorgängen, welche für mich die Belagerung von Troja waren, Roland und Trevanion vor den Mauern standen.
Man sieht noch immer, daß Trevanion eine schöne Erscheinung gewesen; das Einnehmende seines Antlitzes bestand jedoch damals hauptsächlich in dem fortwährenden Spiel seiner Züge, welches das Feuer seines Geistes wiedergab. Seine Unterhaltung war überaus anregend, lebendig und vielseitig; vor allem aber verstand er es meisterhaft, in derselben die Angelegenheiten des Tages zu behandeln. Wäre er schon fünfzig Jahre ein Priester des Serapis Fruchtbarkeits- und Heilgott in Altägypten. gewesen, er hätte das Anaglyph nicht besser zu kennen vermocht! So füllte er jede Ritze und Spalte jener hohlen Gesellschaft mit seinem vielfach gebrochenen, forschbegierigen und kecken Lichte aus. So wurde er bewundert – man sprach von ihm, hörte ihm zu, und Jedermann sagte: ›Trevanion sieht eine große Zukunft bevor.‹
Dennoch ließ ich ihm damals nicht die Gerechtigkeit widerfahren, wie ich es später that, denn wir Gelehrten und abstrakten Denker sind in unserer Jugend zu sehr geneigt, nur auf die Tiefe des Geistes und Wissens zu sehen, die Oberfläche aber zu wenig zu beachten. Es mag in einem nur vier Fuß tiefen Strom mehr Wasser und jedenfalls mehr Kraft und Gesundheit enthalten sein, als in einem trägen Teiche von dreißig Ellen Tiefe! Ich war nicht gerecht gegen Trevanion – ich sah nicht, wie natürlich er Lady Ellinor's Ideal verwirklichte. Schon früher habe ich bemerkt, daß Ellinor viele Weiber in sich vereinigte; ebenso faßte Trevanion tausend Männer in Einem zusammen. Er besaß gelehrte Bildung, um ihren Geist anzusprechen, Beredtsamkeit, um ihre Phantasie zu blenden, Schönheit, um ihrem Auge zu gefallen, einen ehren- und gewissenhaften Charakter, um ihr Urtheil zu befriedigen, und gerade jene Art von Ruf, welche ihre Eitelkeit reizte. Vor allem aber war er ehrgeizig – nicht ehrgeizig, wie ich oder Roland, sondern ehrgeizig, wie Ellinor es war; ehrgeizig, nicht, um irgend ein großes Ideal in der Tiefe des Herzens zu verwirklichen, sondern um die praktischen, positiven Wesenheiten, die außerhalb lagen, zu ergreifen.
Ellinor war ein Kind der großen Welt – Trevanion ebenso.
Von diesem allem bemerkte weder Roland, noch ich etwas, und Trevanion schien Ellinor keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Inzwischen rückte die Zeit näher, da ich sprechen sollte. Die Gäste begannen sich zu verabschieden, und Lord Rainsforth fand Muße, seine zwangslosen Unterhaltungen mit mir wieder aufzunehmen. Eines Tages, als wir uns in seinem Garten ergingen, nahm ich meine Gelegenheit wahr; denn ich brauche nicht zu bemerken, Pisistratus,« fuhr mein Vater, einen ernsten Blick auf mich gerichtet, fort, »daß jeder Mann von Ehre es für seine Pflicht halten wird, namentlich, wenn er in weltlicher Beziehung nur untergeordnete Ansprüche besitzt, zuvor mit dem Vater zu sprechen, dessen Vertrauen ihm diese Offenheit auferlegt, ehe er sein Herz der Tochter erschließt.«
Ich senkte den Kopf und erröthete.
»Ich weiß nicht, wie es kam,« nahm mein Vater nach einer Pause wieder das Wort, »allein Lord Rainsforth lenkte selbst die Unterhaltung auf Ellinor. Nachdem er von den Erwartungen gesprochen, welche er von seinem Sohne hegte, dessen Rückkehr nach Hause eben bevorstand, sagte er: ›Natürlich wird er in das öffentliche Leben eintreten, wird, wie ich hoffe, sich bald verheirathen, ohne Zweifel ein eigenes Hauswesen führen und somit nicht viel mit mir zusammen sein. Meine Ellinor! – ich kann den Gedanken nicht ertragen, mich ganz von ihr zu trennen. Und dies, um die egoistische Wahrheit zu sagen, ist einer der Gründe, weßhalb ich nie wünschte, sie möchte einen reichen Mann zu ihrem Gatten wählen und so mich für immer verlassen. Ich hoffe, Derjenige, dem sie einst ihr Herz zu eigen gibt, wird nichts dagegen haben, wenigstens einen großen Theil des Jahres bei mir zu wohnen – ich hoffe, einen zweiten Sohn in ihm zu erhalten, nicht aber, die Tochter durch ihn zu verlieren. Damit will ich nicht sagen, daß er sein Leben auf dem Lande vergeuden soll, denn seine Beschäftigungen werden ihn wahrscheinlich nach London führen; allein es ist mir gleichgültig, wo mein Haus ist, wenn ich nur meine Häuslichkeit behalte. Sie wissen,« setzte er mit einem Lächeln, das mir bedeutungsvoll erschien, hinzu,wie oft ich Ihnen angedeutet, daß ich hinsichtlich Ellinor's keinen niedern Ehrgeiz hege. Ihre Mitgift wird sehr unbedeutend sein, denn von meinen Gütern geht nichts auf sie über, und meine Ausgaben sind während meines ganzen Lebens zu wenig hinter meinen Einnahmen zurückgeblieben, als daß ich hoffen könnte, jetzt noch viel zu ersparen. Allein ihre Liebhabereien sind mit keinen Ausgaben verknüpft, und, wenigstens so lange ich lebe, braucht in nichts eine Veränderung einzutreten. Und Ellinor wird nur einen Mann wählen, dessen Talente, den ihrigen verwandt, ihm eine Laufbahn eröffnen werden, welche wohl gesichert sein dürfte, ehe ich sterbe.‹ Lord Rainsforth hielt inne, und nun – wie und mit welchen Worten, weiß ich nicht – allein ich sagte ihm alles! Meine lang unterdrückte, schüchterne, ängstliche, zweifelnde Liebe – die seltsame Thatkraft, welche sie einer bisher so ruhigen, in sich selbst zurückgezogenen Natur verliehen – die Ursache meines raschen Ergreifens der juridischen Studien – meine Zuversicht, daß es mir mit einem solchen Preis vor Augen an Erfolg nicht fehlen könne, da es sich ja nur darum handle, ein Feld der Thätigkeit mit einem andern zu vertauschen – meine Ueberzeugung, daß Arbeit alles zu überwinden und auch das weniger Angenehme zu versüßen vermöge, daß aber das erste Ziel eines unbemittelten Mannes Unabhängigkeit sein müsse, und deßhalb in meinem Falle die glänzendere Laufbahn im Senate der Advokatenbank habe weichen müssen – dies alles lag enthüllt vor seinen Augen! Du siehst, Pisistratus, daß ich in unentschuldbarer Selbstsucht Roland für den Augenblick vergaß – ich sprach, wie ein Mann, der fühlte, daß sein Leben an dem Erfolg seiner Worte hing.
Lord Rainsforth blickte mich mit Innigkeit an, als ich schwieg; der Ausdruck seines Antlitzes war jedoch nicht heiter.
›Mein lieber Caxton,‹ erwiederte er mit vor Bewegung zitternder Stimme, ›ich gestehe, daß ich dies einst wünschte – daß ich es von der Stunde an wünschte, da ich Sie kennen lernte! Warum aber haben Sie so lange geschwiegen? Ich hatte keine Ahnung – und sicherlich Ellinor ebensowenig.‹ Er hielt plötzlich inne und setzte dann rasch hinzu: ›Doch, gehen Sie zu Ellinor, und sprechen Sie zu ihr, wie Sie zu mir gesprochen. Gehen Sie; vielleicht ist es noch nicht zu spät. Und doch – aber gehen Sie!‹
Zu spät! was konnten diese Worte bedeuten? Lord Rainsforth hatte schnell einen andern Weg eingeschlagen und mich allein gelassen, so daß ich ungestört über diese räthselhafte Antwort nachdenken konnte. Langsam ging ich dem Hause zu und suchte Lady Ellinor auf, halb hoffend, halb fürchtend, sie allein zu finden. Neben dem Gewächshaus befand sich ein kleines Gemach, in welchem sie sich gewöhnlich des Morgens aufhielt; dorthin lenkte ich meine Schritte.
Dieses Gemach – ich sehe es noch jetzt vor mir! Die Wände waren mit Zeichnungen von ihrer eigenen Hand bedeckt, viele davon Skizzen von Orten, welche wir gemeinschaftlich besucht hatten; die ganze Ausschmückung des Zimmers verrieth die zarte Frauenhand, aber keine weibische Weichlichkeit; auf dem Tische lagen noch dieselben Bücher, die mir durch theure Erinnerungen lieb geworden waren. Ja, hier war Tasso, in welchem wir zusammen die Episode von Clorinda gelesen – dort Aeschylus, aus welchen, ich ihr Prometheus übersetzt hatte Torquato Tasso (1544-1595), italienischer Dichter, am bekanntesten durch das Versepos La Gerusalemme liberata ( Das befreite Jerusalem). – Aischylos (525-456 v.u.Z.), der erste der drei bedeutenden altgriechischen Tragödiendichter.. Manche mögen dies pedantisch finden und vielleicht auch Recht darin haben – jedenfalls aber mag es als Beweis der Geistesverwandtschaft gelten, welche den Büchermann an das Weltkind gekettet hatte. Dieses Zimmer – es war die Heimath meines Herzens! So, dachte ich in meinem eiteln Wahne, würde mich einst die Luft in meiner künftigen Heimath anwehen! Ich blickte umher, verwirrt und schüchtern stehen bleibend. Da saß Ellinor, das Antlitz auf ihre Hand gestützt; ein tieferes Roth, als gewöhnlich, bedeckte ihre Wangen, in ihren Augen perlten Thränen. Schweigend trat ich näher und rückte meinen Stuhl an den Tisch – da fiel mein Blick auf einen am Boden liegenden Handschuh. Es war der Handschuh eines Mannes. In meiner frühen Jugend sah ich einst ein niederländisches Gemälde, ›der Handschuh‹ betitelt; die Landschaft zeigte einen mit Schilf bewachsenen Sumpf, eine öde und traurige Gegend, welche an sich schon Gedanken an Unthaten und Schrecknisse hervorrief. Zwei Männer trafen sich wie zufällig an diesem Sumpfe; der Finger des einen deutete auf einen blutbefleckten Handschuh, und die Blicke beider begegneten sich mit einem Ausdruck, welcher deutlich sagte, daß es keiner weiteren Worte bedürfe. Der Handschuh war zum Verräther eines Mordes geworden! Die Erinnerung an dieses Bild verfolgte mich lange Zeit während meiner Knabenjahre, gleichwohl hatte es kein so unruhiges und banges Gefühl in mir geweckt, als der wirkliche Handschuh auf dem Boden. Weßhalb? Mein lieber Pisistratus, die Lehre von den Ahnungen schließt eine jener Fragen in sich, bei welchen wir immer wieder und immer vergebens ›weßhalb‹ fragen könnten! Mit mehr Zaghaftigkeit, als sich in meiner Unterredung mit Lord Rainsforth kund gegeben, nahm ich endlich meinen Muth zusammen und sprach mit Ellinor –«
Mein Vater hielt inne; der Mond war aufgegangen, und seine vollen Strahlen fielen in das Zimmer und auf sein Antlitz. Und wie verändert erschien dieses Antlitz! Die Erregungen der Jugend hatten die Jugend selbst wieder zurückgebracht – mein Vater sah aus, wie ein Jüngling. Aber welch' ein Schmerz sprach aus seinen Zügen! Wenn die Erinnerung allein hervorrufen konnte, was im Grunde doch nur der gespenstische Schatten vergangener Leiden war, wie mußte die lebendige Wirklichkeit gewesen sein! Unwillkührlich ergriff ich die Hand meines Vaters. Er drückte sie krampfhaft und fuhr alsdann mit einem tiefen Athemzuge fort:
»Es war zu spät; Trevanion war Lady Ellinor's erklärter, verlobter, glücklicher Bräutigam! Meine liebe Catharina, ich beneide ihn jetzt nicht mehr; blicke auf, theures Weib, blicke auf!«
Ellinor – ich muß ihr diese Gerechtigkeit widerfahren lassen – war erschüttert über meinen stummen Schmerz. Die zarteste Theilnahme, die von menschlichen Lippen fließen konnte, drückte sie aus gegen mich, indem sie zugleich sich selbst die edelsten Vorwürfe machte; allein dies war kein Balsam für meine Wunde. Ich verließ das Haus und gab meine juridischen Studien für immer auf; jeder Antrieb, jeder Beweggrund zu ernster Anstrengung schien meinem Wesen entrissen zu sein, und so kehrte ich zu meinen Büchern zurück. Und in dieser Weise würde ich kleinmüthig, träumend und in nutzloser Trauer bis zum Ende meiner Tage fortgelebt haben, wenn mir der Himmel in seinem Erbarmen nicht Deine Mutter in den Weg geschickt hätte, Pisistratus! Ja, Tag und Naht danke ich Gott und ihr, denn sie hat mich – o, in der That, sie hat mich zu einem glücklichen Manne gemacht!«
Meine Mutter warf sich heftig schluchzend an die Brust meines Vaters und verließ hierauf, ohne ein Wort zu sprechen, das Zimmer; mein Vater blickte ihr nach – sein Auge schwamm in Thränen. Nachdem er einige Male schweigend im Zimmer auf und ab gegangen, kehrte er zu mir zurück, stützte seinen Arm auf meine Schulter und flüsterte:
»Kannst Du Dir denken, mein Sohn, weßhalb ich Dir dieses alles erzählt habe?«
»Ja, zum Theil – ich danke Dir, Vater,« stotterte ich und ließ mich auf den Stuhl nieder, denn ich fühlte mich matt und müde.
»Manche Söhne,« begann mein Vater wieder, indem er sich neben mich setzte, »würden in den Thorheiten und Irrthümern ihres Vaters eine Entschuldigung für ihre eigenen finden – doch, Du wirst das nicht, Pisistratus!«
»Ich sehe keine Thorheit, keinen Irrthum, Vater – nur Natur und Kummer.«
»Besinne Dich wohl, ehe Du so denkst,« erwiederte mein Vater. »Groß war die Thorheit und groß der Irrthum, einer Einbildung Raum zu geben, welche keine Grundlage hatte – den ganzen Erfolg und Nutzen meines Lebens an den Willen eines Wesens zu ketten, das, wie ich selbst, ein sterbliches Geschöpf war. Es liegt nicht in der Absicht des Himmels, daß die Leidenschaft der Liebe eine solche Tyrannei ausübe, und unter der großen Menge, in dem Gewühle des menschlichen Lebens, ist es auch selten der Fall. Wir Träumer, Stubengelehrte, wie ich, oder halbe Dichter, wie Roland, tragen selbst die Schuld an unserer Krankheit. Wie viele Jahre habe ich vergeudet, auch nachdem ich meine Heiterkeit wieder gewonnen und Deine Mutter mir eine Heimath geschaffen, die ich lange nicht zu würdigen wußte. Die Schnellkraft meines Daseins war gebrochen; unbeachtet und unbenützt ließ ich die Zeit verstreichen. Nun aber siehst Du, wie auch spät im Leben noch die Nemesis erwacht. Mit Schmerz blicke ich zurück auf vernachlässigte Kräfte und entschwundene Gelegenheiten und suche die durch Nichtgebrauch halbgelähmte Thatkraft künstlich zu beleben und zu stärken. Ja, lieber, als wie ein ruhiges, nutzloses Dasein fortzuführen, lasse ich mich von einem Onkel Jack ohne Zweifel zu traurigen Thorheiten überreden! Und nun, nachdem ich Ellinor wieder gesehen, frage ich mich verwundert – alles dieses, all' diesen Kummer, all' diese Seelenpein um jenes grasse Antlitz, um jenen weltlichen Geist? So ist es immer im Leben. Sterbliche Dinge welken dahin, unsterbliche aber keimen mit jedem Schritt zum Grabe immer schöner und früher hervor.
Ah!« fuhr mein Vater mit einem Seufzer fort, »es wäre nicht so gegangen, wenn ich in Deinem Alter das Geheimniß des Saffransackes herausgefunden hätte!«
Und Roland, Vater,« frug ich – »wie nahm er die Sache auf?«
»Mit der ganzen Entrüstung eines stolzen Mannes, der die Vernunft nicht sprechen läßt. Mehr noch beleidigt für mich, als für sich selbst, verletzte und erzürnte er mich so sehr durch die Art, wie er von Ellinor sprach, und tobte so heftig gegen mich, weil ich seinen Grimm nicht theilen wollte, daß wir abermals in Streit geriethen. Wir trennten uns und sahen uns viele Jahre nicht wieder. Als wir ganz unerwartet in den Besitz unseres kleinen Vermögens gelangten, kaufte er, wie Du weißt, die alte Ruine und erwarb sich eine Offiziersstelle in der Armee, was von jeher sein Wunsch gewesen – und so ging er voll Bitterkeit seines Weges. Mein Antheil, indem er zur Befriedigung aller meiner Bedürfnisse hinreichte, gab mir einen Vorwand, meine ruhigen Studien planlos fortzusetzen, und erlaubte mir, als mein alter Lehrer starb, und seine junge Tochter meine Mündel und – gleichviel, auf welche Weise – von meiner Mündel meine Frau wurde, auf mein Collegiatsstipendium zu verzichten und unter meinen Büchern, als wäre ich selbst ein Buch, zu leben. Eines Trostes hatte ich mich kurz vor meiner Verheirathung zu erfreuen, den auch Roland, wie er mir seitdem gesagt, als einen solchen betrachtete: Ellinor wurde eine reihe Erbin – ihr Bruder starb, und alle Güter, sofern sie nicht auf die männliche Linie übergingen, kamen in ihren Besitz. Diese Erbschaft öffnete eine Kluft zwischen uns, fast so weit, wie ihre Vermählung. So lange Ellinor trotz ihres Ranges arm und ohne Vermögen war, hätte ich für sie arbeiten, ringen und mich quälen können, aber Ellinor reich! der Gedanke würde mich erdrückt haben. Es war dies ein Trost. Dennoch aber lastete die Vergangenheit, das fortwährende schmerzliche Gefühl, daß dasjenige, was die wesentlichsten Bestandtheile meines Lebens auszumachen geschienen, demselben für immer entzogen worden, schwer auf mir. Was zurückgeblieben, war nicht Schmerz – es war eine trostlose Leere. Hätte ich mehr unter Menschen und weniger in Träumen und Büchern gelebt, so wäre mein Geist kräftig genug gewesen, die vereitelten Hoffnungen einer einzigen Leidenschaft zu ertragen. Allein in der Einsamkeit welken wir dahin. Keine Pflanze bedarf so sehr der Luft und der Sonne, als der Mensch. Ich begreife nun, weßhalb die meisten unserer besten und weisesten Männer in großen Städten gelebt haben, und darum sage ich noch einmal: ein Gelehrter in einer Familie ist genug. Deinem gesunden Herzen und Deinem Ehrgefühl vertrauend, ließ ich Dich so frühe den Schauplatz der Welt betreten. Habe ich Unrecht gethan? Beweise mir das Gegentheil, mein Kind! Weißt Du, was ein sehr braver Mann gesagt hat? Höre und befolge meine Lehre, nicht mein Beispiel:
Der Zustand der Welt ist von der Art, und es hängt so viel von der Thätigkeit ab, daß alles dem Menschen zuzurufen scheint: ›Du sollst handeln – handeln – handeln‹ Nachlaß des Rev. Richard Cecil. S. 349. [Anm.d.Verf.]!«
Ich war tief ergriffen und erhob mich mit frischem Muth und neuer Hoffnung, als plötzlich die Thüre aufging und – wer oder was hereinkam? Aber sicherlich er, sie oder es soll keine Aufnahme in diesen, Kapitel finden! Ueber diesen Punkt steht mein Entschluß fest. Nein, meine schöne, junge Leserin, ich fühle mich zwar außerordentlich geschmeichelt und bin nicht unempfindlich gegen Deine Neugierde – aber wahrhaftig keinen Blick! nicht einen einzigen! Und doch – nun ja, wenn Du es durchaus haben willst und mich gar so flehentlich ansiehst – wer oder was, sage ich, sollte so plötzlich und unerwartet hereinkommen, daß es uns den Athem benimmt und uns nicht Zeit läßt, »mit Ihrer Erlaubniß« zu sagen, sondern uns mit offenem Munde und weitaufgerissenen Augen an die Stelle bannt, als –
das Ende des Kapitels.